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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Zwei philosophische Systeme

das Geklapper der Kantischen Kategorientafel war mir immer das greulichste
in der Philosophie gewesen. Als ich nun endlich vor vierzehn Tagen in den
vermeintlich sauern Apfel biß, fühlte ich mich angenehm enttäuscht und ein
wenig beschämt. Ich fand das Buch interessant und spannend; die Kategorien
verwandeln sich darin aus hölzernen Schubfächern in lebendige Weltbau-
meisteriuneu, die ihres Amtes gar anmutig walten. Über alle Gebiete der
Natur und des geistigen Lebens wird das hellste Licht verbreitet, es wird eine
so befriedigende Erkenntnistheorie dargeboten, daß sie mir als das letzte und
höchste erscheint, was auf diesem Gebiete überhaupt geleistet werden kann, und
wir würden schon hier das "natürliche metaphysische System" haben, wie
der Verfasser nach Analogie des natürlichen Systems der Botanik die zu er¬
strebende Vollendung der Philosophie nennt, wenn sich nicht eine furchtbare
Lücke darin fände, die wir später bezeichnen werden. Es werden behandelt: die
Kategorien der Sinnlichkeit (das Empfinden nach Qualität und Quantität ein¬
schließlich der Zeitlichkeit, das räumliche Anschauen) und die des Denkens
(Relation, vergleichendes Denken, trennendes und verbindendes, messendes,
schließendes Denken, modales Denken, d. h. Innewerden der Thatsächlichkeit,
Notwendigkeit, Wahrscheinlichkeit, Möglichkeit, spekulatives Denken, das sich in
den Kategorien der Kausalität, Finalität und Substautialität bewegt), und von
jeder der Kategorien wird untersucht, welchen Sinn sie hat und welche Wir¬
kungen sie ausübt in der "subjektiv idealen," in der "objektiv realen" und in
der "metaphysischen Sphäre." Wir erhalten da unter andern eine Fülle feiner
Beobachtungen im Gebiete der Physiologie der Sinneswahrnehmungen, Auf¬
schlüsse über die wahre Bedeutung von ^ O und ^ ex>, sowie über das Wesen
der irrationalen und imaginären Zahlen, über den Unterschied der verschiednen
Nichte und Nichtse, wobei dann freilich anch manches anfechtbare mit unter¬
läuft, z. B. "das ganze in Dasein und Bewußtsein gegliederte phänomenale
Sein ist als vergängliche Erscheinung Nichts in Bezug auf das ewige meta¬
physische Sein; dieses aber ist als bloßes Wesen wiederum Nichts in Bezug
auf das existeutielle Sein der Erscheinung." (S. 215). Den ersten Satz werden
die christlichen Mystiker gelten lassen, aber den zweiten nicht, und der Ver¬
fasser der "Sprachdummheiten" wird außerdem bemerken, daß der Bezug ein
Nichts sei in der Welt der Beziehungen, ein Etwas nur in der Welt der
Hausfrau.

Das Buch ist reich an interessanten Ansichten der Wirklichkeit, die zwar
nicht durchweg neu sind, aber in ihrer originellen Darstellung wie neu wirken.
So z. B. wird das Wesen der Spannkraft an der Bewegung eines Planeten
um die Sonne veranschaulicht. Was den Planeten zur Sonne zieht, das ist
dasselbe, was wir im Gebiet des Bewußtseins Willen nennen. Ein Stoß von
außen aber, dessen Wirkung sich als Flugkraft äußert, hindert den Ball, seinem
innern Zuge zu folgen, und zwingt ihn, in einer Ellipse um deu Gegenstand


Zwei philosophische Systeme

das Geklapper der Kantischen Kategorientafel war mir immer das greulichste
in der Philosophie gewesen. Als ich nun endlich vor vierzehn Tagen in den
vermeintlich sauern Apfel biß, fühlte ich mich angenehm enttäuscht und ein
wenig beschämt. Ich fand das Buch interessant und spannend; die Kategorien
verwandeln sich darin aus hölzernen Schubfächern in lebendige Weltbau-
meisteriuneu, die ihres Amtes gar anmutig walten. Über alle Gebiete der
Natur und des geistigen Lebens wird das hellste Licht verbreitet, es wird eine
so befriedigende Erkenntnistheorie dargeboten, daß sie mir als das letzte und
höchste erscheint, was auf diesem Gebiete überhaupt geleistet werden kann, und
wir würden schon hier das „natürliche metaphysische System" haben, wie
der Verfasser nach Analogie des natürlichen Systems der Botanik die zu er¬
strebende Vollendung der Philosophie nennt, wenn sich nicht eine furchtbare
Lücke darin fände, die wir später bezeichnen werden. Es werden behandelt: die
Kategorien der Sinnlichkeit (das Empfinden nach Qualität und Quantität ein¬
schließlich der Zeitlichkeit, das räumliche Anschauen) und die des Denkens
(Relation, vergleichendes Denken, trennendes und verbindendes, messendes,
schließendes Denken, modales Denken, d. h. Innewerden der Thatsächlichkeit,
Notwendigkeit, Wahrscheinlichkeit, Möglichkeit, spekulatives Denken, das sich in
den Kategorien der Kausalität, Finalität und Substautialität bewegt), und von
jeder der Kategorien wird untersucht, welchen Sinn sie hat und welche Wir¬
kungen sie ausübt in der „subjektiv idealen," in der „objektiv realen" und in
der „metaphysischen Sphäre." Wir erhalten da unter andern eine Fülle feiner
Beobachtungen im Gebiete der Physiologie der Sinneswahrnehmungen, Auf¬
schlüsse über die wahre Bedeutung von ^ O und ^ ex>, sowie über das Wesen
der irrationalen und imaginären Zahlen, über den Unterschied der verschiednen
Nichte und Nichtse, wobei dann freilich anch manches anfechtbare mit unter¬
läuft, z. B. „das ganze in Dasein und Bewußtsein gegliederte phänomenale
Sein ist als vergängliche Erscheinung Nichts in Bezug auf das ewige meta¬
physische Sein; dieses aber ist als bloßes Wesen wiederum Nichts in Bezug
auf das existeutielle Sein der Erscheinung." (S. 215). Den ersten Satz werden
die christlichen Mystiker gelten lassen, aber den zweiten nicht, und der Ver¬
fasser der „Sprachdummheiten" wird außerdem bemerken, daß der Bezug ein
Nichts sei in der Welt der Beziehungen, ein Etwas nur in der Welt der
Hausfrau.

Das Buch ist reich an interessanten Ansichten der Wirklichkeit, die zwar
nicht durchweg neu sind, aber in ihrer originellen Darstellung wie neu wirken.
So z. B. wird das Wesen der Spannkraft an der Bewegung eines Planeten
um die Sonne veranschaulicht. Was den Planeten zur Sonne zieht, das ist
dasselbe, was wir im Gebiet des Bewußtseins Willen nennen. Ein Stoß von
außen aber, dessen Wirkung sich als Flugkraft äußert, hindert den Ball, seinem
innern Zuge zu folgen, und zwingt ihn, in einer Ellipse um deu Gegenstand


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[0032] Zwei philosophische Systeme das Geklapper der Kantischen Kategorientafel war mir immer das greulichste in der Philosophie gewesen. Als ich nun endlich vor vierzehn Tagen in den vermeintlich sauern Apfel biß, fühlte ich mich angenehm enttäuscht und ein wenig beschämt. Ich fand das Buch interessant und spannend; die Kategorien verwandeln sich darin aus hölzernen Schubfächern in lebendige Weltbau- meisteriuneu, die ihres Amtes gar anmutig walten. Über alle Gebiete der Natur und des geistigen Lebens wird das hellste Licht verbreitet, es wird eine so befriedigende Erkenntnistheorie dargeboten, daß sie mir als das letzte und höchste erscheint, was auf diesem Gebiete überhaupt geleistet werden kann, und wir würden schon hier das „natürliche metaphysische System" haben, wie der Verfasser nach Analogie des natürlichen Systems der Botanik die zu er¬ strebende Vollendung der Philosophie nennt, wenn sich nicht eine furchtbare Lücke darin fände, die wir später bezeichnen werden. Es werden behandelt: die Kategorien der Sinnlichkeit (das Empfinden nach Qualität und Quantität ein¬ schließlich der Zeitlichkeit, das räumliche Anschauen) und die des Denkens (Relation, vergleichendes Denken, trennendes und verbindendes, messendes, schließendes Denken, modales Denken, d. h. Innewerden der Thatsächlichkeit, Notwendigkeit, Wahrscheinlichkeit, Möglichkeit, spekulatives Denken, das sich in den Kategorien der Kausalität, Finalität und Substautialität bewegt), und von jeder der Kategorien wird untersucht, welchen Sinn sie hat und welche Wir¬ kungen sie ausübt in der „subjektiv idealen," in der „objektiv realen" und in der „metaphysischen Sphäre." Wir erhalten da unter andern eine Fülle feiner Beobachtungen im Gebiete der Physiologie der Sinneswahrnehmungen, Auf¬ schlüsse über die wahre Bedeutung von ^ O und ^ ex>, sowie über das Wesen der irrationalen und imaginären Zahlen, über den Unterschied der verschiednen Nichte und Nichtse, wobei dann freilich anch manches anfechtbare mit unter¬ läuft, z. B. „das ganze in Dasein und Bewußtsein gegliederte phänomenale Sein ist als vergängliche Erscheinung Nichts in Bezug auf das ewige meta¬ physische Sein; dieses aber ist als bloßes Wesen wiederum Nichts in Bezug auf das existeutielle Sein der Erscheinung." (S. 215). Den ersten Satz werden die christlichen Mystiker gelten lassen, aber den zweiten nicht, und der Ver¬ fasser der „Sprachdummheiten" wird außerdem bemerken, daß der Bezug ein Nichts sei in der Welt der Beziehungen, ein Etwas nur in der Welt der Hausfrau. Das Buch ist reich an interessanten Ansichten der Wirklichkeit, die zwar nicht durchweg neu sind, aber in ihrer originellen Darstellung wie neu wirken. So z. B. wird das Wesen der Spannkraft an der Bewegung eines Planeten um die Sonne veranschaulicht. Was den Planeten zur Sonne zieht, das ist dasselbe, was wir im Gebiet des Bewußtseins Willen nennen. Ein Stoß von außen aber, dessen Wirkung sich als Flugkraft äußert, hindert den Ball, seinem innern Zuge zu folgen, und zwingt ihn, in einer Ellipse um deu Gegenstand

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/32>, abgerufen am 26.05.2024.