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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Zwei philosophische Systeme

seiner Sehnsucht herumzufliegen. Dabei kommt er auf der einen Hälfte seiner
Bahn der Sonne näher, während er sich auf der andern Hülste von ihr ent¬
fernt. Alls jener Seite findet sich sein innerer Trieb gelöst und in voller
Thätigkeit, auf dieser Seite mehr und mehr gebunden. Aber die Viudung
vernichtet den Trieb nicht, dieser setzt sich nur aus einer äußerlich wirksamen
Kraft in Spannkraft um, die um so stärker wird, je mehr sie gebunden wird,
und desto heftiger das Hindernis zu überwinden strebt, je empfindlicher dieses
drückt, was ihr denn auch zu guter letzt gelingt, indem sie den Planeten oder
Kometen aus der äußerste" Sonnenferne in die Sonnennähe zurückführt. Hätte
der Planet Empfindung -- und wer weiß, ob er sie nicht hat? haben ihm
doch die Alten und die Aristoteliker unter den mittelalterlichen Theologen
welche zugeschrieben, und wie schön wird diese Liebe der Gestirne in Dantes
Weltsystem verwendet! --, so würde er auf dem Wege zur Sonnenferne Unlust
und auf dem zur Sonnennähe Lust empfinden. Hartmann schreibt zwar nicht
dem Planeten, aber jedem Atom Empfindung zu, wenn auch nur eine sehr
dumpfe, sodaß die Stufenfolge der Lebenserscheinungen ohne Unterbrechung
vom Atom bis zum höchsten Geiste hinaufführt. Die Wesen alle werden von
demselben Willen getrieben, dessen Unterdrückung schmerzt und hierdurch die
Spannkraft erzeugt, die den Druck aufzuheben strebt. "Was physiologisch
Übergang von lebendiger Kraft in Spannkraft heißt, das stellt sich psychologisch
als Repressiv" des Willens, als Verhinderung seiner Befriedigung durch natur¬
gemäße Realisirung seines Inhalts, als aufgenötigte Nichtbefriedigung, als ein
Geschehen im Widerspruch mit dem eignen Streben dar. Was physiologisch
Entladung der Spannkraft in lebendige Kraft heißt, das ist psychologisch
Willensbefricdigung. Was physiologisch mechanische äußere Nötigung heißt,
das stellt sich psychologisch als ein dem eignen Willen entgegentretender, mit
ihm kollidirender fremder Wille dar." (S. 60.) Für das politische Leben
ergiebt sich daraus das Gesetz (Hartmann erwähnt es nicht), das die Re¬
gierungen seit dreitausend Jahren zwar kennen, aber niemals beachten, daß die
Nevolutionsgcfahr im geraden Verhältnis zu der Kraft wächst, mit der die
revolutionäre Gesinnung unterdrückt wird. Allerdings erleidet das Gesetz eine
Ausnahme, da das ihm zu Grunde liegende Gesetz von der Erhaltung der
Kraft in der geistige" Welt nicht mit derselben mechanischen Gleichförmigkeit
waltet wie i" der Körperwelt; die geistige Energie eines Mensches, daher auch
vieler Menschen, kann vernichtet, Völker können dnrch anhaltenden Druck in
energielose Herden verwandelt werden. Gegen einen Satz der Darstellung der
Willensäußerungen aber muß ich protestiren. Mag sein, daß wir uns unsers
eignen Willens nur im Zusammenstoß mit einem entgegenstehenden fremden
Willen, und wäre es auch nur der Wille eines eigensinnigen Holzscheits, das sich
nicht spalte" lassen will, bewußt werden. Aber es ist zu viel gesagt, wenn
es S. 64 heißt: "Als reprimirte Kraftäußerung, als leidendes Wollen stellt


Grenzboten I V 1897 ^
Zwei philosophische Systeme

seiner Sehnsucht herumzufliegen. Dabei kommt er auf der einen Hälfte seiner
Bahn der Sonne näher, während er sich auf der andern Hülste von ihr ent¬
fernt. Alls jener Seite findet sich sein innerer Trieb gelöst und in voller
Thätigkeit, auf dieser Seite mehr und mehr gebunden. Aber die Viudung
vernichtet den Trieb nicht, dieser setzt sich nur aus einer äußerlich wirksamen
Kraft in Spannkraft um, die um so stärker wird, je mehr sie gebunden wird,
und desto heftiger das Hindernis zu überwinden strebt, je empfindlicher dieses
drückt, was ihr denn auch zu guter letzt gelingt, indem sie den Planeten oder
Kometen aus der äußerste» Sonnenferne in die Sonnennähe zurückführt. Hätte
der Planet Empfindung — und wer weiß, ob er sie nicht hat? haben ihm
doch die Alten und die Aristoteliker unter den mittelalterlichen Theologen
welche zugeschrieben, und wie schön wird diese Liebe der Gestirne in Dantes
Weltsystem verwendet! —, so würde er auf dem Wege zur Sonnenferne Unlust
und auf dem zur Sonnennähe Lust empfinden. Hartmann schreibt zwar nicht
dem Planeten, aber jedem Atom Empfindung zu, wenn auch nur eine sehr
dumpfe, sodaß die Stufenfolge der Lebenserscheinungen ohne Unterbrechung
vom Atom bis zum höchsten Geiste hinaufführt. Die Wesen alle werden von
demselben Willen getrieben, dessen Unterdrückung schmerzt und hierdurch die
Spannkraft erzeugt, die den Druck aufzuheben strebt. „Was physiologisch
Übergang von lebendiger Kraft in Spannkraft heißt, das stellt sich psychologisch
als Repressiv» des Willens, als Verhinderung seiner Befriedigung durch natur¬
gemäße Realisirung seines Inhalts, als aufgenötigte Nichtbefriedigung, als ein
Geschehen im Widerspruch mit dem eignen Streben dar. Was physiologisch
Entladung der Spannkraft in lebendige Kraft heißt, das ist psychologisch
Willensbefricdigung. Was physiologisch mechanische äußere Nötigung heißt,
das stellt sich psychologisch als ein dem eignen Willen entgegentretender, mit
ihm kollidirender fremder Wille dar." (S. 60.) Für das politische Leben
ergiebt sich daraus das Gesetz (Hartmann erwähnt es nicht), das die Re¬
gierungen seit dreitausend Jahren zwar kennen, aber niemals beachten, daß die
Nevolutionsgcfahr im geraden Verhältnis zu der Kraft wächst, mit der die
revolutionäre Gesinnung unterdrückt wird. Allerdings erleidet das Gesetz eine
Ausnahme, da das ihm zu Grunde liegende Gesetz von der Erhaltung der
Kraft in der geistige» Welt nicht mit derselben mechanischen Gleichförmigkeit
waltet wie i» der Körperwelt; die geistige Energie eines Mensches, daher auch
vieler Menschen, kann vernichtet, Völker können dnrch anhaltenden Druck in
energielose Herden verwandelt werden. Gegen einen Satz der Darstellung der
Willensäußerungen aber muß ich protestiren. Mag sein, daß wir uns unsers
eignen Willens nur im Zusammenstoß mit einem entgegenstehenden fremden
Willen, und wäre es auch nur der Wille eines eigensinnigen Holzscheits, das sich
nicht spalte» lassen will, bewußt werden. Aber es ist zu viel gesagt, wenn
es S. 64 heißt: „Als reprimirte Kraftäußerung, als leidendes Wollen stellt


Grenzboten I V 1897 ^
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[0033] Zwei philosophische Systeme seiner Sehnsucht herumzufliegen. Dabei kommt er auf der einen Hälfte seiner Bahn der Sonne näher, während er sich auf der andern Hülste von ihr ent¬ fernt. Alls jener Seite findet sich sein innerer Trieb gelöst und in voller Thätigkeit, auf dieser Seite mehr und mehr gebunden. Aber die Viudung vernichtet den Trieb nicht, dieser setzt sich nur aus einer äußerlich wirksamen Kraft in Spannkraft um, die um so stärker wird, je mehr sie gebunden wird, und desto heftiger das Hindernis zu überwinden strebt, je empfindlicher dieses drückt, was ihr denn auch zu guter letzt gelingt, indem sie den Planeten oder Kometen aus der äußerste» Sonnenferne in die Sonnennähe zurückführt. Hätte der Planet Empfindung — und wer weiß, ob er sie nicht hat? haben ihm doch die Alten und die Aristoteliker unter den mittelalterlichen Theologen welche zugeschrieben, und wie schön wird diese Liebe der Gestirne in Dantes Weltsystem verwendet! —, so würde er auf dem Wege zur Sonnenferne Unlust und auf dem zur Sonnennähe Lust empfinden. Hartmann schreibt zwar nicht dem Planeten, aber jedem Atom Empfindung zu, wenn auch nur eine sehr dumpfe, sodaß die Stufenfolge der Lebenserscheinungen ohne Unterbrechung vom Atom bis zum höchsten Geiste hinaufführt. Die Wesen alle werden von demselben Willen getrieben, dessen Unterdrückung schmerzt und hierdurch die Spannkraft erzeugt, die den Druck aufzuheben strebt. „Was physiologisch Übergang von lebendiger Kraft in Spannkraft heißt, das stellt sich psychologisch als Repressiv» des Willens, als Verhinderung seiner Befriedigung durch natur¬ gemäße Realisirung seines Inhalts, als aufgenötigte Nichtbefriedigung, als ein Geschehen im Widerspruch mit dem eignen Streben dar. Was physiologisch Entladung der Spannkraft in lebendige Kraft heißt, das ist psychologisch Willensbefricdigung. Was physiologisch mechanische äußere Nötigung heißt, das stellt sich psychologisch als ein dem eignen Willen entgegentretender, mit ihm kollidirender fremder Wille dar." (S. 60.) Für das politische Leben ergiebt sich daraus das Gesetz (Hartmann erwähnt es nicht), das die Re¬ gierungen seit dreitausend Jahren zwar kennen, aber niemals beachten, daß die Nevolutionsgcfahr im geraden Verhältnis zu der Kraft wächst, mit der die revolutionäre Gesinnung unterdrückt wird. Allerdings erleidet das Gesetz eine Ausnahme, da das ihm zu Grunde liegende Gesetz von der Erhaltung der Kraft in der geistige» Welt nicht mit derselben mechanischen Gleichförmigkeit waltet wie i» der Körperwelt; die geistige Energie eines Mensches, daher auch vieler Menschen, kann vernichtet, Völker können dnrch anhaltenden Druck in energielose Herden verwandelt werden. Gegen einen Satz der Darstellung der Willensäußerungen aber muß ich protestiren. Mag sein, daß wir uns unsers eignen Willens nur im Zusammenstoß mit einem entgegenstehenden fremden Willen, und wäre es auch nur der Wille eines eigensinnigen Holzscheits, das sich nicht spalte» lassen will, bewußt werden. Aber es ist zu viel gesagt, wenn es S. 64 heißt: „Als reprimirte Kraftäußerung, als leidendes Wollen stellt Grenzboten I V 1897 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/33>, abgerufen am 19.05.2024.