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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Wilhelm Imsen als Lyriker
In sorglosen Genuß, Wir aber, wir,
Des Schaffens höchster Ausdruck, das Organ,
Drin seiner selbst bewußt es ward, die Zier
Des großen Alls, wir schauen nur als Wahn
Des Daseins Freude, nur als welkend Laub,
Bestimmt, zu fallen mit des Herbstes Nahn,

Man sollte erwarten, daß ein solcher Dichter nun epikureisch dazu auf¬
forderte, die Gegenwart zu genießen und sich an guten Tagen zu freuen. Aber
solche Gedichte, die uns ein horazisches (Ärxö aufm! zurufen, sind ganz selten
bei ihm. Abermals ein Widerspruch. Imsen liebt den Augenblick nicht.
Ihn beglückt uur ein Sichversenken in die Vergangenheit oder in die Zukunft,
Erinnerung, Sehnsucht, Träume, Visionen. "Ruf' dir, was war, zurück und
leb' im Einst!" "Heute noch, wie einst dem Kinde, pocht ein Sehnen, un¬
gestillt." Mit der Neigung der Romantiker versenkt er sich in die Märchen-
Pracht einer lockenden Zauberwelt. Die feenhaft beschwingten Falter, die
zaubermüchtigen Sonnenkinder, die schon des Knaben Sinn berückt haben, sind
die lichten Genien seines Lebens gewesen. Sie haben das Sehnen und Bangen
seiner Seele geregt lind seine Träume belebt. "Die Sehnsucht ist das Glück."
Und wie uns diese verzehrende überirdische Sehnsnchtsglut ins Herz gelegt
worden ist, erzählt wunderbar das lyrisch-epische Gedicht "Lilith."

Nur ein geringer Raum ist der Liebeslyrik gegönnt. Jensens Liebeslieder
atmen eine Reinheit und Keuschheit, wie sie heute selten ist. Jeder Zug ins
Lüsterne fehlt ihnen. Sie feiern nicht die Liebe, "die sich offen vor dem
Licht des Tags bekennt," sondern die, "die zum Herzen wie ein scheuer
Frevler schleicht."

Eine feine Definition, was Liebe sei, giebt das lyrisch-epische Gedicht "Die
Schiedsprecherin," in dem die Liebe in xgrsorm auftritt. Sie ist ein Doppel¬
bild, in dessen Antlitz seltsam in einander fließend Keuschheit und Wollust
die Feindschaft ihres Wesens zu hohem Bunde hold vereinen!

Wie Imsen die zartesten Regungen einer Frauenseele zu deuten, ihr
ganzes Fühlen nachzufühlen vermag, zeigt der kleine Liedercyklus "Aus
Frauenherzen" und vor allem das ergreifende Gedicht "Bekenntnis." Wunder¬
bar, wie hier das vor der Zeit hinsterbende Weib noch einmal in jammernder
Sehnsucht nach seinem verweigerten Recht aufschreit und dadurch den Sturm
der Brust beschwichtigt!


Wilhelm Imsen als Lyriker
In sorglosen Genuß, Wir aber, wir,
Des Schaffens höchster Ausdruck, das Organ,
Drin seiner selbst bewußt es ward, die Zier
Des großen Alls, wir schauen nur als Wahn
Des Daseins Freude, nur als welkend Laub,
Bestimmt, zu fallen mit des Herbstes Nahn,

Man sollte erwarten, daß ein solcher Dichter nun epikureisch dazu auf¬
forderte, die Gegenwart zu genießen und sich an guten Tagen zu freuen. Aber
solche Gedichte, die uns ein horazisches (Ärxö aufm! zurufen, sind ganz selten
bei ihm. Abermals ein Widerspruch. Imsen liebt den Augenblick nicht.
Ihn beglückt uur ein Sichversenken in die Vergangenheit oder in die Zukunft,
Erinnerung, Sehnsucht, Träume, Visionen. „Ruf' dir, was war, zurück und
leb' im Einst!" „Heute noch, wie einst dem Kinde, pocht ein Sehnen, un¬
gestillt." Mit der Neigung der Romantiker versenkt er sich in die Märchen-
Pracht einer lockenden Zauberwelt. Die feenhaft beschwingten Falter, die
zaubermüchtigen Sonnenkinder, die schon des Knaben Sinn berückt haben, sind
die lichten Genien seines Lebens gewesen. Sie haben das Sehnen und Bangen
seiner Seele geregt lind seine Träume belebt. „Die Sehnsucht ist das Glück."
Und wie uns diese verzehrende überirdische Sehnsnchtsglut ins Herz gelegt
worden ist, erzählt wunderbar das lyrisch-epische Gedicht „Lilith."

Nur ein geringer Raum ist der Liebeslyrik gegönnt. Jensens Liebeslieder
atmen eine Reinheit und Keuschheit, wie sie heute selten ist. Jeder Zug ins
Lüsterne fehlt ihnen. Sie feiern nicht die Liebe, „die sich offen vor dem
Licht des Tags bekennt," sondern die, „die zum Herzen wie ein scheuer
Frevler schleicht."

Eine feine Definition, was Liebe sei, giebt das lyrisch-epische Gedicht „Die
Schiedsprecherin," in dem die Liebe in xgrsorm auftritt. Sie ist ein Doppel¬
bild, in dessen Antlitz seltsam in einander fließend Keuschheit und Wollust
die Feindschaft ihres Wesens zu hohem Bunde hold vereinen!

Wie Imsen die zartesten Regungen einer Frauenseele zu deuten, ihr
ganzes Fühlen nachzufühlen vermag, zeigt der kleine Liedercyklus „Aus
Frauenherzen" und vor allem das ergreifende Gedicht „Bekenntnis." Wunder¬
bar, wie hier das vor der Zeit hinsterbende Weib noch einmal in jammernder
Sehnsucht nach seinem verweigerten Recht aufschreit und dadurch den Sturm
der Brust beschwichtigt!


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[0335] Wilhelm Imsen als Lyriker In sorglosen Genuß, Wir aber, wir, Des Schaffens höchster Ausdruck, das Organ, Drin seiner selbst bewußt es ward, die Zier Des großen Alls, wir schauen nur als Wahn Des Daseins Freude, nur als welkend Laub, Bestimmt, zu fallen mit des Herbstes Nahn, Man sollte erwarten, daß ein solcher Dichter nun epikureisch dazu auf¬ forderte, die Gegenwart zu genießen und sich an guten Tagen zu freuen. Aber solche Gedichte, die uns ein horazisches (Ärxö aufm! zurufen, sind ganz selten bei ihm. Abermals ein Widerspruch. Imsen liebt den Augenblick nicht. Ihn beglückt uur ein Sichversenken in die Vergangenheit oder in die Zukunft, Erinnerung, Sehnsucht, Träume, Visionen. „Ruf' dir, was war, zurück und leb' im Einst!" „Heute noch, wie einst dem Kinde, pocht ein Sehnen, un¬ gestillt." Mit der Neigung der Romantiker versenkt er sich in die Märchen- Pracht einer lockenden Zauberwelt. Die feenhaft beschwingten Falter, die zaubermüchtigen Sonnenkinder, die schon des Knaben Sinn berückt haben, sind die lichten Genien seines Lebens gewesen. Sie haben das Sehnen und Bangen seiner Seele geregt lind seine Träume belebt. „Die Sehnsucht ist das Glück." Und wie uns diese verzehrende überirdische Sehnsnchtsglut ins Herz gelegt worden ist, erzählt wunderbar das lyrisch-epische Gedicht „Lilith." Nur ein geringer Raum ist der Liebeslyrik gegönnt. Jensens Liebeslieder atmen eine Reinheit und Keuschheit, wie sie heute selten ist. Jeder Zug ins Lüsterne fehlt ihnen. Sie feiern nicht die Liebe, „die sich offen vor dem Licht des Tags bekennt," sondern die, „die zum Herzen wie ein scheuer Frevler schleicht." Eine feine Definition, was Liebe sei, giebt das lyrisch-epische Gedicht „Die Schiedsprecherin," in dem die Liebe in xgrsorm auftritt. Sie ist ein Doppel¬ bild, in dessen Antlitz seltsam in einander fließend Keuschheit und Wollust die Feindschaft ihres Wesens zu hohem Bunde hold vereinen! Wie Imsen die zartesten Regungen einer Frauenseele zu deuten, ihr ganzes Fühlen nachzufühlen vermag, zeigt der kleine Liedercyklus „Aus Frauenherzen" und vor allem das ergreifende Gedicht „Bekenntnis." Wunder¬ bar, wie hier das vor der Zeit hinsterbende Weib noch einmal in jammernder Sehnsucht nach seinem verweigerten Recht aufschreit und dadurch den Sturm der Brust beschwichtigt!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/335>, abgerufen am 17.06.2024.