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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Zwei philosophische Systeme

sich der Wille als Unlust dar; als Thätigkeitsüberschuß, der in dem andern
Wollen das Leiden hervorruft, erscheint es als Lust." Wenn Hartmann seinen
Kraftüberschnß in einem Buche entladet, glaubt er da wirklich in allen seinen
Lesern Unlust hervorzurufen? In ewigen schon, aber doch nicht in allen. Und
wenn er von dem Erlös des Buches seiner Frau etwas Schönes zu Weihnachten
schenkt, ruft er damit in ihrer Seele Unlust hervor? Das wird ihm doch als
einem Manne von gutem Geschmack, der eine Ästhetik geschrieben hat, nicht
begegnen. Daß es Vergnügen macht, auf dem Besiegten herumzutrampeln, läßt
sich ja nicht leugnen, und ich gestehe, daß ich auch selbst manchmal gern dem
eiuen oder dem andern etwas auswische, aber die einzige und die Hauptquelle
des Lebensgenusses ist das doch nur für die Neronen, Napoleonen, Folter¬
knechte und ähnliches Gesindel, zu dem der Philosoph des "Unbewußten," der
von Schopenhauers Mitleidsmoral ausgegangen ist, nicht gehört.

Auf S. 245 fucht Hartmann nachzuweisen, daß die aristotelische Scholastik den
fürs gewöhnliche Leben freilich unentbehrlichen Gegensatz von Inhalt und Form
außerordentlich überschätzt habe, indem sie ihn zum Angelpunkte der Philosophie
machte. Zum Pokal verhält sich der Wem als Inhalt einer Form, dieser
selbst aber ist nur eine der Formen, in der Alkohol genossen wird. Alkohol
ist eine der Formen, in denen Kohlenstoff-, Wasserstoff- und Sauerstoffatome
verbunden vorkommen, jedes dieser Atome ist selbst wieder nur eine Form, in
der die Uratome mit einander verbunden sind; diese sind dogmatische Funktionen
des Urwillens, d. h. Formen, in denen sich dieser äußert usw. "Wenn alles
Form ist, so ist gar nichts Besondres mehr damit gesagt, daß etwas Form sei;
man lernt aus solcher Bestimmung, deren Gegensatz als unanwendbar aus¬
geschieden ist, nichts mehr."

Für das wichtigste und wertvollste Kapitel halte ich das über die Finalität,
worin Hartmann noch klarer als in seinen frühern Schriften beweist, daß Ur¬
sächlichkeit ohne Endzwecke gar nicht denkbar ist, und daß das vielgerühmte
Gesetz der Kausalität der Wissenschaft nicht viel nützen könnte, wenn man keine
Endzwecke voraussetzte. Die Ursachcnkette und die aus Zwecken und Mitteln
geschlungne Kette sind ein und dieselbe Kette, das einemal von hinten, das
andremal von vorn gesehen. Eine Ursachenkette kommt nie und nirgends zu
stände, wo nicht die Mittel für einen Endzweck geordnet werden. Was in der
einen Kette Ursache heißt, das heißt in der andern Mittel, und die Wirkungen
der andern sind die Zwecke der zweiten. Wie jede irdische Wirkung selbst
wieder Ursache einer weiter" Wirkung wird, so erscheint jeder verwirklichte
irdische Zweck nur als Mittel zur Verwirklichung eines noch höhern Zwecks,
und die ganze Kette aller irdischen Ursachen und Wirkungen ist nichts andres
als die Kette der Mittel und Zwecke, die zur Erreichung des Endzwecks der
Welt führt. Dieser Endzweck ist die Schlußwirkung, und seine Idee bildet den
Anfang des Weltprozesses, denn nur mit Rücksicht auf ihn konnte die Anfangs-


Zwei philosophische Systeme

sich der Wille als Unlust dar; als Thätigkeitsüberschuß, der in dem andern
Wollen das Leiden hervorruft, erscheint es als Lust." Wenn Hartmann seinen
Kraftüberschnß in einem Buche entladet, glaubt er da wirklich in allen seinen
Lesern Unlust hervorzurufen? In ewigen schon, aber doch nicht in allen. Und
wenn er von dem Erlös des Buches seiner Frau etwas Schönes zu Weihnachten
schenkt, ruft er damit in ihrer Seele Unlust hervor? Das wird ihm doch als
einem Manne von gutem Geschmack, der eine Ästhetik geschrieben hat, nicht
begegnen. Daß es Vergnügen macht, auf dem Besiegten herumzutrampeln, läßt
sich ja nicht leugnen, und ich gestehe, daß ich auch selbst manchmal gern dem
eiuen oder dem andern etwas auswische, aber die einzige und die Hauptquelle
des Lebensgenusses ist das doch nur für die Neronen, Napoleonen, Folter¬
knechte und ähnliches Gesindel, zu dem der Philosoph des „Unbewußten," der
von Schopenhauers Mitleidsmoral ausgegangen ist, nicht gehört.

Auf S. 245 fucht Hartmann nachzuweisen, daß die aristotelische Scholastik den
fürs gewöhnliche Leben freilich unentbehrlichen Gegensatz von Inhalt und Form
außerordentlich überschätzt habe, indem sie ihn zum Angelpunkte der Philosophie
machte. Zum Pokal verhält sich der Wem als Inhalt einer Form, dieser
selbst aber ist nur eine der Formen, in der Alkohol genossen wird. Alkohol
ist eine der Formen, in denen Kohlenstoff-, Wasserstoff- und Sauerstoffatome
verbunden vorkommen, jedes dieser Atome ist selbst wieder nur eine Form, in
der die Uratome mit einander verbunden sind; diese sind dogmatische Funktionen
des Urwillens, d. h. Formen, in denen sich dieser äußert usw. „Wenn alles
Form ist, so ist gar nichts Besondres mehr damit gesagt, daß etwas Form sei;
man lernt aus solcher Bestimmung, deren Gegensatz als unanwendbar aus¬
geschieden ist, nichts mehr."

Für das wichtigste und wertvollste Kapitel halte ich das über die Finalität,
worin Hartmann noch klarer als in seinen frühern Schriften beweist, daß Ur¬
sächlichkeit ohne Endzwecke gar nicht denkbar ist, und daß das vielgerühmte
Gesetz der Kausalität der Wissenschaft nicht viel nützen könnte, wenn man keine
Endzwecke voraussetzte. Die Ursachcnkette und die aus Zwecken und Mitteln
geschlungne Kette sind ein und dieselbe Kette, das einemal von hinten, das
andremal von vorn gesehen. Eine Ursachenkette kommt nie und nirgends zu
stände, wo nicht die Mittel für einen Endzweck geordnet werden. Was in der
einen Kette Ursache heißt, das heißt in der andern Mittel, und die Wirkungen
der andern sind die Zwecke der zweiten. Wie jede irdische Wirkung selbst
wieder Ursache einer weiter» Wirkung wird, so erscheint jeder verwirklichte
irdische Zweck nur als Mittel zur Verwirklichung eines noch höhern Zwecks,
und die ganze Kette aller irdischen Ursachen und Wirkungen ist nichts andres
als die Kette der Mittel und Zwecke, die zur Erreichung des Endzwecks der
Welt führt. Dieser Endzweck ist die Schlußwirkung, und seine Idee bildet den
Anfang des Weltprozesses, denn nur mit Rücksicht auf ihn konnte die Anfangs-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/34>, abgerufen am 19.05.2024.