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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Schulmißhcmdlungen

Eltern; wenn sie nicht gerade Spuren körperlicher Mißhandlungen an den
Kindern entdecken, sind sie ans unbestimmte Vermutungen und Gerüchte an¬
gewiesen. Sie haben vielleicht schon öfter sorgend am Krankenbett der Kinder
gestanden, haben ihnen nur durch ihre Liebe und Sorgfalt das Leben erhalten
und müssen uun die Kinder eiuer unverständigen, Leben und Gesundheit ge¬
fährdenden Behandlung preisgeben.

Falsche Humanität! Will man die Menschheit zur Barbarei zurückführen,
so suche man ein andres Versuchsfeld aus als die Schule. Können wir denn
Empfindungen zurückdrängen, die ein Erzeugnis unsrer ganzen Kulturentwicklung
sind? Giebt es etwas Zarteres und Schöneres, als Mitgefühl für die Kleinen,
liebevolles Verständnis sür ihre Geistesart, Lust und Fähigkeit, sie richtig an¬
zuleiten? Man spricht von sozialen Pflichten und rechnet dazu ganz besonders
den Schutz der Arbeiterkinder gegen körperliche Überanstrengung. Und der
Schutz gegen schwerere Gefahren sollte ihnen versagt werden? Denn Arbeiter¬
kinder sind es doch, die am meisten unter diesen Quälereien zu leiden habe".
Wie störend für deu sozialen Frieden ist es, wenn der Arbeiter merkt, daß
seinen Kindern nicht derselbe Schutz gegen unbillige Behandlung gewährt wird
wie denen der Bessergestellten!

Freilich wird auch an der hiesigen Mittelschule über harte Züchtigungen
und rücksichtslose Behandlung der Kinder geklagt. Ich selbst habe meine Er¬
fahrungen als Schulvater im vorigen Jahre einmal geschildert lGrenzboten
1896, Heft 36). Ich will nicht bestreiten, daß ich im ganzen glimpflich ge¬
fahren bin. Als besonders bezeichnend aber erwähne ich doch noch die Ant¬
wort, die mir der Rektor bei einer Gelegenheit gab, wo ich mich über Züch¬
tigungen meines Sohnes beschwerte. Seine Schule, so bemerkte er, stehe in
dem besten Ruf, und er wollte damit offenbar sagen, daß die Klagen über
harte Züchtigungen den Ruf der Schule nicht schädigten. Das ist die Duld¬
samkeit, von der ich oben sprach, die in der Vorstellung begründet ist, daß eine
strenge Handhabung des Züchtigungsrechts unentbehrlich sei, um im Unterricht
"Erfolge zu erzielen."

Bei dieser Vorliebe für eine harte Erziehungsmethode geht das Verständnis
für die nachteiligen Wirkungen der körperlichen Züchtigungen aus die geistige
Entwicklung des Kindes ganz verloren. Die Vertreter dieser Anschauungen
stellen sich nicht die Frage, ob in dem einzelnen Falle die Züchtigung den
damit beabsichtigten Zweck erfülle oder vielleicht eine ganz entgegengesetzte
Wirkung übe. Sie nehmen das Schlagen schlechtweg in jedem Falle in Schutz
und geben höchstens zu, daß die Kinder nicht geradezu gemißhandelt werden
dürfen. In dem hier besprochnen Falle ist nicht nur die grausame, gefühllose
Ausübung der Züchtigung, sondern auch die zwecklose, ungerechte Handhabung
des Züchtigungsrechts besonders auffallend. Ein Kind wird gezüchtigt, weil
^ entweder die ihm gestellte Aufgabe nicht begreift, oder weil seine Gedanken


Schulmißhcmdlungen

Eltern; wenn sie nicht gerade Spuren körperlicher Mißhandlungen an den
Kindern entdecken, sind sie ans unbestimmte Vermutungen und Gerüchte an¬
gewiesen. Sie haben vielleicht schon öfter sorgend am Krankenbett der Kinder
gestanden, haben ihnen nur durch ihre Liebe und Sorgfalt das Leben erhalten
und müssen uun die Kinder eiuer unverständigen, Leben und Gesundheit ge¬
fährdenden Behandlung preisgeben.

Falsche Humanität! Will man die Menschheit zur Barbarei zurückführen,
so suche man ein andres Versuchsfeld aus als die Schule. Können wir denn
Empfindungen zurückdrängen, die ein Erzeugnis unsrer ganzen Kulturentwicklung
sind? Giebt es etwas Zarteres und Schöneres, als Mitgefühl für die Kleinen,
liebevolles Verständnis sür ihre Geistesart, Lust und Fähigkeit, sie richtig an¬
zuleiten? Man spricht von sozialen Pflichten und rechnet dazu ganz besonders
den Schutz der Arbeiterkinder gegen körperliche Überanstrengung. Und der
Schutz gegen schwerere Gefahren sollte ihnen versagt werden? Denn Arbeiter¬
kinder sind es doch, die am meisten unter diesen Quälereien zu leiden habe».
Wie störend für deu sozialen Frieden ist es, wenn der Arbeiter merkt, daß
seinen Kindern nicht derselbe Schutz gegen unbillige Behandlung gewährt wird
wie denen der Bessergestellten!

Freilich wird auch an der hiesigen Mittelschule über harte Züchtigungen
und rücksichtslose Behandlung der Kinder geklagt. Ich selbst habe meine Er¬
fahrungen als Schulvater im vorigen Jahre einmal geschildert lGrenzboten
1896, Heft 36). Ich will nicht bestreiten, daß ich im ganzen glimpflich ge¬
fahren bin. Als besonders bezeichnend aber erwähne ich doch noch die Ant¬
wort, die mir der Rektor bei einer Gelegenheit gab, wo ich mich über Züch¬
tigungen meines Sohnes beschwerte. Seine Schule, so bemerkte er, stehe in
dem besten Ruf, und er wollte damit offenbar sagen, daß die Klagen über
harte Züchtigungen den Ruf der Schule nicht schädigten. Das ist die Duld¬
samkeit, von der ich oben sprach, die in der Vorstellung begründet ist, daß eine
strenge Handhabung des Züchtigungsrechts unentbehrlich sei, um im Unterricht
„Erfolge zu erzielen."

Bei dieser Vorliebe für eine harte Erziehungsmethode geht das Verständnis
für die nachteiligen Wirkungen der körperlichen Züchtigungen aus die geistige
Entwicklung des Kindes ganz verloren. Die Vertreter dieser Anschauungen
stellen sich nicht die Frage, ob in dem einzelnen Falle die Züchtigung den
damit beabsichtigten Zweck erfülle oder vielleicht eine ganz entgegengesetzte
Wirkung übe. Sie nehmen das Schlagen schlechtweg in jedem Falle in Schutz
und geben höchstens zu, daß die Kinder nicht geradezu gemißhandelt werden
dürfen. In dem hier besprochnen Falle ist nicht nur die grausame, gefühllose
Ausübung der Züchtigung, sondern auch die zwecklose, ungerechte Handhabung
des Züchtigungsrechts besonders auffallend. Ein Kind wird gezüchtigt, weil
^ entweder die ihm gestellte Aufgabe nicht begreift, oder weil seine Gedanken


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[0341] Schulmißhcmdlungen Eltern; wenn sie nicht gerade Spuren körperlicher Mißhandlungen an den Kindern entdecken, sind sie ans unbestimmte Vermutungen und Gerüchte an¬ gewiesen. Sie haben vielleicht schon öfter sorgend am Krankenbett der Kinder gestanden, haben ihnen nur durch ihre Liebe und Sorgfalt das Leben erhalten und müssen uun die Kinder eiuer unverständigen, Leben und Gesundheit ge¬ fährdenden Behandlung preisgeben. Falsche Humanität! Will man die Menschheit zur Barbarei zurückführen, so suche man ein andres Versuchsfeld aus als die Schule. Können wir denn Empfindungen zurückdrängen, die ein Erzeugnis unsrer ganzen Kulturentwicklung sind? Giebt es etwas Zarteres und Schöneres, als Mitgefühl für die Kleinen, liebevolles Verständnis sür ihre Geistesart, Lust und Fähigkeit, sie richtig an¬ zuleiten? Man spricht von sozialen Pflichten und rechnet dazu ganz besonders den Schutz der Arbeiterkinder gegen körperliche Überanstrengung. Und der Schutz gegen schwerere Gefahren sollte ihnen versagt werden? Denn Arbeiter¬ kinder sind es doch, die am meisten unter diesen Quälereien zu leiden habe». Wie störend für deu sozialen Frieden ist es, wenn der Arbeiter merkt, daß seinen Kindern nicht derselbe Schutz gegen unbillige Behandlung gewährt wird wie denen der Bessergestellten! Freilich wird auch an der hiesigen Mittelschule über harte Züchtigungen und rücksichtslose Behandlung der Kinder geklagt. Ich selbst habe meine Er¬ fahrungen als Schulvater im vorigen Jahre einmal geschildert lGrenzboten 1896, Heft 36). Ich will nicht bestreiten, daß ich im ganzen glimpflich ge¬ fahren bin. Als besonders bezeichnend aber erwähne ich doch noch die Ant¬ wort, die mir der Rektor bei einer Gelegenheit gab, wo ich mich über Züch¬ tigungen meines Sohnes beschwerte. Seine Schule, so bemerkte er, stehe in dem besten Ruf, und er wollte damit offenbar sagen, daß die Klagen über harte Züchtigungen den Ruf der Schule nicht schädigten. Das ist die Duld¬ samkeit, von der ich oben sprach, die in der Vorstellung begründet ist, daß eine strenge Handhabung des Züchtigungsrechts unentbehrlich sei, um im Unterricht „Erfolge zu erzielen." Bei dieser Vorliebe für eine harte Erziehungsmethode geht das Verständnis für die nachteiligen Wirkungen der körperlichen Züchtigungen aus die geistige Entwicklung des Kindes ganz verloren. Die Vertreter dieser Anschauungen stellen sich nicht die Frage, ob in dem einzelnen Falle die Züchtigung den damit beabsichtigten Zweck erfülle oder vielleicht eine ganz entgegengesetzte Wirkung übe. Sie nehmen das Schlagen schlechtweg in jedem Falle in Schutz und geben höchstens zu, daß die Kinder nicht geradezu gemißhandelt werden dürfen. In dem hier besprochnen Falle ist nicht nur die grausame, gefühllose Ausübung der Züchtigung, sondern auch die zwecklose, ungerechte Handhabung des Züchtigungsrechts besonders auffallend. Ein Kind wird gezüchtigt, weil ^ entweder die ihm gestellte Aufgabe nicht begreift, oder weil seine Gedanken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/341>, abgerufen am 17.06.2024.