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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Das schwarze Zeitalter

neuen Dingen und neuen Menschen. Sie lehrt sie vergleichen und unter¬
scheiden, abwarten und zugreifen, aufmerken und sich tummeln. Einmal unter¬
wegs, finden sie dann leicht Gefallen am nomadisiren. An sich nur ein Mittel
zu andern Zwecken, entwickelt das Reisen zuletzt einen selbständigen Reiz, dem
sich kein moderner Mensch ganz versagt. Giebt es eine vollkommnere Ver¬
einigung von Passivität und Aktivität, als eine Eisenbahnfahrt? Zeitung-
lefend. rauchend, plaudernd oder träumend verrichten wir Wunder der Fort¬
bewegung, neben denen die schnellsten Nenner schweißbedeckt zusammenbrechen
würden. Wir verrichten sie? Ganz sicher; wir brauchen durchaus nicht an
den Rädern zu drehen oder auch nur den Kessel zu heizen, um unser Vor¬
wärtskommen als unsre eigne Thätigkeit zu empfinden. Wie sagt doch Mephi-
stopheles?


Wenn ich sechs Hengste zahlen kann,
Sind ihre Kräfte nicht die meine?
Ich renne zu und bin ein rechter Mann,
Als hätt ich vierundzwanzig Beine.

Der gewiegte Reisende, der erst nach dem letzten Glockenzeichen einsteigt
und, während sich der Zug in Bewegung setzt, mit nachlässiger Sicherheit sein
Handgepäck in den Fangnetzen verstaut, der sich dann ans seinen Ecksitz nieder¬
läßt und mit einem halben Blick durch das Fenster die letzten Straßen der
Vorstadt vorüberfliegen sieht, er befindet sich bei aller scheinbaren Gleich¬
artigkeit in einer gehobnen Stimmung. Diese Stimmung mag im Anfang
der Reise am lebendigsten sein -- die Nerven sind da noch frisch, und be¬
sonders wohlthuend wirkt der Gegensatz des mühelosem Vorwärtseilens zu der
unruhigen Hast der Reisevorbereitungen: der Platz im Eisenbahnwagen ist selbst
schon ein erreichtes Ziel. Ganz verliert sich aber das Behagen auch nicht
unter den abspannender Wirkungen einer lungern Fahrt. Jeden Eisenbahn¬
reisenden erfüllt ein heimlicher Stolz. Wir gewahren ihn auf den kohlen¬
bestaubten Gesichtern der Durchreisenden, die aus den Fenstern des Schnell¬
zuges mit einem Gemisch von Neugierde und Geringschätzung das Treiben auf
dem Bahnhof der Provinzialstadt beobachten; wir empfinden ihn selbst, sobald
wir im Zuge sitzen. Er beruht auf der mehr oder minder deutlichen Vor¬
stellung eines persönlichen Verhältnisses zu dem gewaltigen Räderwerk, das
uns in Köln oder Königsberg aufnimmt, um uns in Wien oder Mailand ab¬
zusetzen. Wir vertrauen uns dem Dampfwagen an; und wem sich der Mensch
anvertraut, zu dem gewinnt er eine innere Beziehung, mag es ein Jemand
oder ein Etwas sein. Der Zug, den wir benutzen, ist unser Zug. Wenn bei
der Abfahrt der gepreßte Dampf in mächtigen Stößen entweicht, wenn nach
rasender Fahrt die Wagcnreihe majestätisch langsam in die Bahnhofshalle ein¬
läuft, an allem eignet sich die Empfindung des Reisenden einen Anteil zu.
Nicht am wenigsten an den Gefahren, die er unterwegs besteht. Kann er auch


Das schwarze Zeitalter

neuen Dingen und neuen Menschen. Sie lehrt sie vergleichen und unter¬
scheiden, abwarten und zugreifen, aufmerken und sich tummeln. Einmal unter¬
wegs, finden sie dann leicht Gefallen am nomadisiren. An sich nur ein Mittel
zu andern Zwecken, entwickelt das Reisen zuletzt einen selbständigen Reiz, dem
sich kein moderner Mensch ganz versagt. Giebt es eine vollkommnere Ver¬
einigung von Passivität und Aktivität, als eine Eisenbahnfahrt? Zeitung-
lefend. rauchend, plaudernd oder träumend verrichten wir Wunder der Fort¬
bewegung, neben denen die schnellsten Nenner schweißbedeckt zusammenbrechen
würden. Wir verrichten sie? Ganz sicher; wir brauchen durchaus nicht an
den Rädern zu drehen oder auch nur den Kessel zu heizen, um unser Vor¬
wärtskommen als unsre eigne Thätigkeit zu empfinden. Wie sagt doch Mephi-
stopheles?


Wenn ich sechs Hengste zahlen kann,
Sind ihre Kräfte nicht die meine?
Ich renne zu und bin ein rechter Mann,
Als hätt ich vierundzwanzig Beine.

Der gewiegte Reisende, der erst nach dem letzten Glockenzeichen einsteigt
und, während sich der Zug in Bewegung setzt, mit nachlässiger Sicherheit sein
Handgepäck in den Fangnetzen verstaut, der sich dann ans seinen Ecksitz nieder¬
läßt und mit einem halben Blick durch das Fenster die letzten Straßen der
Vorstadt vorüberfliegen sieht, er befindet sich bei aller scheinbaren Gleich¬
artigkeit in einer gehobnen Stimmung. Diese Stimmung mag im Anfang
der Reise am lebendigsten sein — die Nerven sind da noch frisch, und be¬
sonders wohlthuend wirkt der Gegensatz des mühelosem Vorwärtseilens zu der
unruhigen Hast der Reisevorbereitungen: der Platz im Eisenbahnwagen ist selbst
schon ein erreichtes Ziel. Ganz verliert sich aber das Behagen auch nicht
unter den abspannender Wirkungen einer lungern Fahrt. Jeden Eisenbahn¬
reisenden erfüllt ein heimlicher Stolz. Wir gewahren ihn auf den kohlen¬
bestaubten Gesichtern der Durchreisenden, die aus den Fenstern des Schnell¬
zuges mit einem Gemisch von Neugierde und Geringschätzung das Treiben auf
dem Bahnhof der Provinzialstadt beobachten; wir empfinden ihn selbst, sobald
wir im Zuge sitzen. Er beruht auf der mehr oder minder deutlichen Vor¬
stellung eines persönlichen Verhältnisses zu dem gewaltigen Räderwerk, das
uns in Köln oder Königsberg aufnimmt, um uns in Wien oder Mailand ab¬
zusetzen. Wir vertrauen uns dem Dampfwagen an; und wem sich der Mensch
anvertraut, zu dem gewinnt er eine innere Beziehung, mag es ein Jemand
oder ein Etwas sein. Der Zug, den wir benutzen, ist unser Zug. Wenn bei
der Abfahrt der gepreßte Dampf in mächtigen Stößen entweicht, wenn nach
rasender Fahrt die Wagcnreihe majestätisch langsam in die Bahnhofshalle ein¬
läuft, an allem eignet sich die Empfindung des Reisenden einen Anteil zu.
Nicht am wenigsten an den Gefahren, die er unterwegs besteht. Kann er auch


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[0047] Das schwarze Zeitalter neuen Dingen und neuen Menschen. Sie lehrt sie vergleichen und unter¬ scheiden, abwarten und zugreifen, aufmerken und sich tummeln. Einmal unter¬ wegs, finden sie dann leicht Gefallen am nomadisiren. An sich nur ein Mittel zu andern Zwecken, entwickelt das Reisen zuletzt einen selbständigen Reiz, dem sich kein moderner Mensch ganz versagt. Giebt es eine vollkommnere Ver¬ einigung von Passivität und Aktivität, als eine Eisenbahnfahrt? Zeitung- lefend. rauchend, plaudernd oder träumend verrichten wir Wunder der Fort¬ bewegung, neben denen die schnellsten Nenner schweißbedeckt zusammenbrechen würden. Wir verrichten sie? Ganz sicher; wir brauchen durchaus nicht an den Rädern zu drehen oder auch nur den Kessel zu heizen, um unser Vor¬ wärtskommen als unsre eigne Thätigkeit zu empfinden. Wie sagt doch Mephi- stopheles? Wenn ich sechs Hengste zahlen kann, Sind ihre Kräfte nicht die meine? Ich renne zu und bin ein rechter Mann, Als hätt ich vierundzwanzig Beine. Der gewiegte Reisende, der erst nach dem letzten Glockenzeichen einsteigt und, während sich der Zug in Bewegung setzt, mit nachlässiger Sicherheit sein Handgepäck in den Fangnetzen verstaut, der sich dann ans seinen Ecksitz nieder¬ läßt und mit einem halben Blick durch das Fenster die letzten Straßen der Vorstadt vorüberfliegen sieht, er befindet sich bei aller scheinbaren Gleich¬ artigkeit in einer gehobnen Stimmung. Diese Stimmung mag im Anfang der Reise am lebendigsten sein — die Nerven sind da noch frisch, und be¬ sonders wohlthuend wirkt der Gegensatz des mühelosem Vorwärtseilens zu der unruhigen Hast der Reisevorbereitungen: der Platz im Eisenbahnwagen ist selbst schon ein erreichtes Ziel. Ganz verliert sich aber das Behagen auch nicht unter den abspannender Wirkungen einer lungern Fahrt. Jeden Eisenbahn¬ reisenden erfüllt ein heimlicher Stolz. Wir gewahren ihn auf den kohlen¬ bestaubten Gesichtern der Durchreisenden, die aus den Fenstern des Schnell¬ zuges mit einem Gemisch von Neugierde und Geringschätzung das Treiben auf dem Bahnhof der Provinzialstadt beobachten; wir empfinden ihn selbst, sobald wir im Zuge sitzen. Er beruht auf der mehr oder minder deutlichen Vor¬ stellung eines persönlichen Verhältnisses zu dem gewaltigen Räderwerk, das uns in Köln oder Königsberg aufnimmt, um uns in Wien oder Mailand ab¬ zusetzen. Wir vertrauen uns dem Dampfwagen an; und wem sich der Mensch anvertraut, zu dem gewinnt er eine innere Beziehung, mag es ein Jemand oder ein Etwas sein. Der Zug, den wir benutzen, ist unser Zug. Wenn bei der Abfahrt der gepreßte Dampf in mächtigen Stößen entweicht, wenn nach rasender Fahrt die Wagcnreihe majestätisch langsam in die Bahnhofshalle ein¬ läuft, an allem eignet sich die Empfindung des Reisenden einen Anteil zu. Nicht am wenigsten an den Gefahren, die er unterwegs besteht. Kann er auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/47>, abgerufen am 26.05.2024.