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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Las schwarze Zeitalter

nicht den Ruhm in Anspruch nehmen, die Bahnlinie an dem schwindelnden
Abgrund entlang geführt oder durch den Bergstock hindurchgebohrt zu haben,
der Entschluß, die Linie zu benutzen, bleibt sein; und im Grunde beweist doch
ihre Benutzung größern Mut als ihre Erbauung.

Eine Seereise hat diese anregenden Seiten der Eisenbahnfahrt noch in ver¬
stärktem Maße. Wer jemals an Bord eines Ozeandampfers in den Hafen ein¬
gelaufen ist, kennt das Hochgefühl, das die Passagiere zwar mit geringerm Recht,
aber kaum in geringerm Grade erfüllt als die Seeleute: das Gefühl einer
vollbrachten Leistung. Vielleicht ist damit alles gesagt, was vorher im ein¬
zelnen geschildert wurde. Jede Reise ist eine Leistung, jede große Reise eine
ansehnliche Leistung.

Wieviel eingreifender müssen sich aber die Folgen der modernen Vcrtehrs-
erleichterungen in dem Dasein des kleinen Mannes gestalten als in dem der
Gebildeten! In allen übrigen Lebensverhältnissen gelangt er von der Wiege
bis zur Bahre niemals zu eiuer großen sichtbaren Veränderung in der Außen¬
welt. Eisenbahn und Dampfschiff eröffnen ihm den Zutritt zu diesem Erleben,
das früher dem Wohlhabenden vorbehalten war. Sie ermöglichen ihm, mit
Aufwendung von Geldmitteln, die keineswegs nußer seinem Bereiche liegen,
große Länderstrecken im Fluge zu durchmessen oder jenseits des Weltmeeres
sein Glück zu versuchen. Seit undenklichen Zeiten reichte der geistige Gesichts¬
kreis seiner Voreltern kaum über die heimische Gemarkung hinaus, selten nur
über die Grenzen der Heimatprovinz oder des Heimatlandes. Jetzt steigen
fremde Erdteile vor seiner Einbildungskraft auf; ein unermeßlicher Spielraum
für seine Wünsche und Hoffnungen. Wie könnte er dem übermächtigen Anreiz
widerstehen, von diesen nie gekannten Möglichkeiten Gebrauch zu machen,
wenigstens einen Teil von ihnen in Wirklichkeit umzusetzen und sich den un¬
gewohnten Genuß eiuer Wirkung in unabsehbare Fernen zu bereiten! Es ist
eine lückenhafte Psychologie unsrer Nationalökonomen, die das deutsche Aus¬
wanderungsfieber in der zweiten Hälfte unsers Jahrhunderts allein aus der
Ungunst der heimischen Erwerbsverhültnisse herleitet. Hoffnung auf wohlfeilen
Landcrwerb war der eine mächtige Hebel; aber der stärkste Antrieb entsprang
ohne Frage aus der Neuheit einer sast unbegrenzten Reisemöglichkeit.

Die Möglichkeit, in kurzer Zeit und mit geringen Kosten nach Ungarn
und Holland, nach England und Amerika zu gelangen, ist schon an sich für
den Unbemittelten eine viel wertvollere Gabe als für den begüterten Mann,
der sich auch früher einer gewissen Unabhängigkeit vom Raum erfreute. Eben
um ihrer Neuheit willen. Aber der Reiz der Neuheit ist nicht die einzige
Eigenschaft der heutigen Verkehrsmittel, dnrch die sie auf die untern Volks¬
schichten noch stärker wirken, als auf die obern. Auch den Bequemlichkeiten und
Annehmlichkeiten der modernen Reiseanstalten bringt der kleine Mann Empfänglich¬
keit entgegen, weil sie von seiner gewohnten Lebenshaltung weit vorteilhafter


Las schwarze Zeitalter

nicht den Ruhm in Anspruch nehmen, die Bahnlinie an dem schwindelnden
Abgrund entlang geführt oder durch den Bergstock hindurchgebohrt zu haben,
der Entschluß, die Linie zu benutzen, bleibt sein; und im Grunde beweist doch
ihre Benutzung größern Mut als ihre Erbauung.

Eine Seereise hat diese anregenden Seiten der Eisenbahnfahrt noch in ver¬
stärktem Maße. Wer jemals an Bord eines Ozeandampfers in den Hafen ein¬
gelaufen ist, kennt das Hochgefühl, das die Passagiere zwar mit geringerm Recht,
aber kaum in geringerm Grade erfüllt als die Seeleute: das Gefühl einer
vollbrachten Leistung. Vielleicht ist damit alles gesagt, was vorher im ein¬
zelnen geschildert wurde. Jede Reise ist eine Leistung, jede große Reise eine
ansehnliche Leistung.

Wieviel eingreifender müssen sich aber die Folgen der modernen Vcrtehrs-
erleichterungen in dem Dasein des kleinen Mannes gestalten als in dem der
Gebildeten! In allen übrigen Lebensverhältnissen gelangt er von der Wiege
bis zur Bahre niemals zu eiuer großen sichtbaren Veränderung in der Außen¬
welt. Eisenbahn und Dampfschiff eröffnen ihm den Zutritt zu diesem Erleben,
das früher dem Wohlhabenden vorbehalten war. Sie ermöglichen ihm, mit
Aufwendung von Geldmitteln, die keineswegs nußer seinem Bereiche liegen,
große Länderstrecken im Fluge zu durchmessen oder jenseits des Weltmeeres
sein Glück zu versuchen. Seit undenklichen Zeiten reichte der geistige Gesichts¬
kreis seiner Voreltern kaum über die heimische Gemarkung hinaus, selten nur
über die Grenzen der Heimatprovinz oder des Heimatlandes. Jetzt steigen
fremde Erdteile vor seiner Einbildungskraft auf; ein unermeßlicher Spielraum
für seine Wünsche und Hoffnungen. Wie könnte er dem übermächtigen Anreiz
widerstehen, von diesen nie gekannten Möglichkeiten Gebrauch zu machen,
wenigstens einen Teil von ihnen in Wirklichkeit umzusetzen und sich den un¬
gewohnten Genuß eiuer Wirkung in unabsehbare Fernen zu bereiten! Es ist
eine lückenhafte Psychologie unsrer Nationalökonomen, die das deutsche Aus¬
wanderungsfieber in der zweiten Hälfte unsers Jahrhunderts allein aus der
Ungunst der heimischen Erwerbsverhültnisse herleitet. Hoffnung auf wohlfeilen
Landcrwerb war der eine mächtige Hebel; aber der stärkste Antrieb entsprang
ohne Frage aus der Neuheit einer sast unbegrenzten Reisemöglichkeit.

Die Möglichkeit, in kurzer Zeit und mit geringen Kosten nach Ungarn
und Holland, nach England und Amerika zu gelangen, ist schon an sich für
den Unbemittelten eine viel wertvollere Gabe als für den begüterten Mann,
der sich auch früher einer gewissen Unabhängigkeit vom Raum erfreute. Eben
um ihrer Neuheit willen. Aber der Reiz der Neuheit ist nicht die einzige
Eigenschaft der heutigen Verkehrsmittel, dnrch die sie auf die untern Volks¬
schichten noch stärker wirken, als auf die obern. Auch den Bequemlichkeiten und
Annehmlichkeiten der modernen Reiseanstalten bringt der kleine Mann Empfänglich¬
keit entgegen, weil sie von seiner gewohnten Lebenshaltung weit vorteilhafter


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[0048] Las schwarze Zeitalter nicht den Ruhm in Anspruch nehmen, die Bahnlinie an dem schwindelnden Abgrund entlang geführt oder durch den Bergstock hindurchgebohrt zu haben, der Entschluß, die Linie zu benutzen, bleibt sein; und im Grunde beweist doch ihre Benutzung größern Mut als ihre Erbauung. Eine Seereise hat diese anregenden Seiten der Eisenbahnfahrt noch in ver¬ stärktem Maße. Wer jemals an Bord eines Ozeandampfers in den Hafen ein¬ gelaufen ist, kennt das Hochgefühl, das die Passagiere zwar mit geringerm Recht, aber kaum in geringerm Grade erfüllt als die Seeleute: das Gefühl einer vollbrachten Leistung. Vielleicht ist damit alles gesagt, was vorher im ein¬ zelnen geschildert wurde. Jede Reise ist eine Leistung, jede große Reise eine ansehnliche Leistung. Wieviel eingreifender müssen sich aber die Folgen der modernen Vcrtehrs- erleichterungen in dem Dasein des kleinen Mannes gestalten als in dem der Gebildeten! In allen übrigen Lebensverhältnissen gelangt er von der Wiege bis zur Bahre niemals zu eiuer großen sichtbaren Veränderung in der Außen¬ welt. Eisenbahn und Dampfschiff eröffnen ihm den Zutritt zu diesem Erleben, das früher dem Wohlhabenden vorbehalten war. Sie ermöglichen ihm, mit Aufwendung von Geldmitteln, die keineswegs nußer seinem Bereiche liegen, große Länderstrecken im Fluge zu durchmessen oder jenseits des Weltmeeres sein Glück zu versuchen. Seit undenklichen Zeiten reichte der geistige Gesichts¬ kreis seiner Voreltern kaum über die heimische Gemarkung hinaus, selten nur über die Grenzen der Heimatprovinz oder des Heimatlandes. Jetzt steigen fremde Erdteile vor seiner Einbildungskraft auf; ein unermeßlicher Spielraum für seine Wünsche und Hoffnungen. Wie könnte er dem übermächtigen Anreiz widerstehen, von diesen nie gekannten Möglichkeiten Gebrauch zu machen, wenigstens einen Teil von ihnen in Wirklichkeit umzusetzen und sich den un¬ gewohnten Genuß eiuer Wirkung in unabsehbare Fernen zu bereiten! Es ist eine lückenhafte Psychologie unsrer Nationalökonomen, die das deutsche Aus¬ wanderungsfieber in der zweiten Hälfte unsers Jahrhunderts allein aus der Ungunst der heimischen Erwerbsverhültnisse herleitet. Hoffnung auf wohlfeilen Landcrwerb war der eine mächtige Hebel; aber der stärkste Antrieb entsprang ohne Frage aus der Neuheit einer sast unbegrenzten Reisemöglichkeit. Die Möglichkeit, in kurzer Zeit und mit geringen Kosten nach Ungarn und Holland, nach England und Amerika zu gelangen, ist schon an sich für den Unbemittelten eine viel wertvollere Gabe als für den begüterten Mann, der sich auch früher einer gewissen Unabhängigkeit vom Raum erfreute. Eben um ihrer Neuheit willen. Aber der Reiz der Neuheit ist nicht die einzige Eigenschaft der heutigen Verkehrsmittel, dnrch die sie auf die untern Volks¬ schichten noch stärker wirken, als auf die obern. Auch den Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten der modernen Reiseanstalten bringt der kleine Mann Empfänglich¬ keit entgegen, weil sie von seiner gewohnten Lebenshaltung weit vorteilhafter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/48>, abgerufen am 26.05.2024.