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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

menschlichung. Der Engländer, düsterer, sinnlicher, willensstärker und brutaler
als der Deutsche, ist eben deshalb, als der gemeinere von beiden, auch frömmer
als der Deutsche: er hat das Christentum eben noch nötiger." Er verwende
es als Gegengift gegen den Alkoholismus. Und außerdem werde die englische
Plumpheit und Bauern-Ernsthaftigkeit "durch Beten und Psalmensingen noch
am erträglichsten verkleidet; für jenes Vieh von Trunkenbolden und Aus¬
schweifenden, welches ehemals unter der Gewalt des Methodismus und neuer¬
dings wieder als Heilsarmee moralisch grunzen lernt, mag wirklich ein Buß-
krampf die verhältnismäßig höchste Leistung von "Humanität" sein, zu der es
gesteigert werden kann" (VH, 211). Als ein Gemisch von geschwächtem, ver¬
gröbertem Griechentum und von Pfaffentum charakterisirt er X, 155 das
Christentum. Unter seiner Herrschaft sei die Moral aus einer Lebensbedingung
der Völker der ärgste Gegensatz zum Leben geworden, grundsätzliche Verschlech¬
terung der Phantasie, böser Blick für alle Dinge. "Was ist jüdische, was ist
christliche Moral? Der Zufall um seine Unschuld gebracht; das Unglück mit
dem Begriff "Sünde" beschmutzt; das Wohlbefinden als Gefahr, als Ver¬
suchung, das psychologische Übelbefinden mit dem Gcwissenswurm vergiftet"
("VIII, 246). Dem Bibelkundigen braucht man nicht zu sagen, daß, soweit
Christen solchen Unfug treiben, die Bibel unschuldig daran ist, wie unter anderm
das Buch Hiob beweist und Joh. 9, wo die Jünger fragen: Wer hat ge¬
sündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren wurde? Christus aber
antwortet: Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern. Bei solcher Auf¬
fassung des Christentums wundert man sich nicht weiter, II, 45 zu lesen, daß
die Philosophie nicht ein Ersatz für die Religion sein, sondern daß es eines
Ersatzes gar nicht bedürfen soll, da die -- bloß eingebildeten Bedürfnisse
auszurotten seien, die bisher durch die Religion befriedigt worden sind. Wenn
er hofft, die allgemeine Erkenntnis der "Thatsache," daß Gott tot sei, werde
der Welt die Heiterkeit wiedergeben, so meint er natürlich nicht die Heiterkeit
der "Heiterlinge."

. Andrerseits fehlt es nicht an anerkennenden Zeugnissen. Wenn er I, 448
das Christentum eine der reinsten Offenbarungen des Dranges nach Kultur,
nach immer erneuter Erzeugung des Heiligen nennt und seinen jetzigen kläg¬
lichen Zustand darauf zurückführt, daß es immer vom Staate als Werkzeug
gemißbraucht worden sei, so ist . darauf freilich noch kein Gewicht zu> legen,
weil diese Äußerung jeuer frühern Zeit entstammt, wo er das Christentum
noch nicht geradezu haßte. Aber auch später läßt er ihm doch noch so manches
Gute. Es verschönere die gewöhnlichen Menschen (II, 128). Es sei nach der
Zeit des noch bäurischen Petrus eine sehr geistreiche Religion geworden und
h"be "vielleicht die feinsten Gestalten der menschlichen Gesellschaft ausgemeißelt,
die es bisher gegeben hat: die Gestalten der höhern und höchsten Geistlichkeit,"
die er beinahe enthusiastisch schildert. Er fügt dann bei: "Die mächtige


Friedrich Nietzsche

menschlichung. Der Engländer, düsterer, sinnlicher, willensstärker und brutaler
als der Deutsche, ist eben deshalb, als der gemeinere von beiden, auch frömmer
als der Deutsche: er hat das Christentum eben noch nötiger." Er verwende
es als Gegengift gegen den Alkoholismus. Und außerdem werde die englische
Plumpheit und Bauern-Ernsthaftigkeit „durch Beten und Psalmensingen noch
am erträglichsten verkleidet; für jenes Vieh von Trunkenbolden und Aus¬
schweifenden, welches ehemals unter der Gewalt des Methodismus und neuer¬
dings wieder als Heilsarmee moralisch grunzen lernt, mag wirklich ein Buß-
krampf die verhältnismäßig höchste Leistung von »Humanität« sein, zu der es
gesteigert werden kann" (VH, 211). Als ein Gemisch von geschwächtem, ver¬
gröbertem Griechentum und von Pfaffentum charakterisirt er X, 155 das
Christentum. Unter seiner Herrschaft sei die Moral aus einer Lebensbedingung
der Völker der ärgste Gegensatz zum Leben geworden, grundsätzliche Verschlech¬
terung der Phantasie, böser Blick für alle Dinge. „Was ist jüdische, was ist
christliche Moral? Der Zufall um seine Unschuld gebracht; das Unglück mit
dem Begriff »Sünde« beschmutzt; das Wohlbefinden als Gefahr, als Ver¬
suchung, das psychologische Übelbefinden mit dem Gcwissenswurm vergiftet"
("VIII, 246). Dem Bibelkundigen braucht man nicht zu sagen, daß, soweit
Christen solchen Unfug treiben, die Bibel unschuldig daran ist, wie unter anderm
das Buch Hiob beweist und Joh. 9, wo die Jünger fragen: Wer hat ge¬
sündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren wurde? Christus aber
antwortet: Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern. Bei solcher Auf¬
fassung des Christentums wundert man sich nicht weiter, II, 45 zu lesen, daß
die Philosophie nicht ein Ersatz für die Religion sein, sondern daß es eines
Ersatzes gar nicht bedürfen soll, da die — bloß eingebildeten Bedürfnisse
auszurotten seien, die bisher durch die Religion befriedigt worden sind. Wenn
er hofft, die allgemeine Erkenntnis der „Thatsache," daß Gott tot sei, werde
der Welt die Heiterkeit wiedergeben, so meint er natürlich nicht die Heiterkeit
der „Heiterlinge."

. Andrerseits fehlt es nicht an anerkennenden Zeugnissen. Wenn er I, 448
das Christentum eine der reinsten Offenbarungen des Dranges nach Kultur,
nach immer erneuter Erzeugung des Heiligen nennt und seinen jetzigen kläg¬
lichen Zustand darauf zurückführt, daß es immer vom Staate als Werkzeug
gemißbraucht worden sei, so ist . darauf freilich noch kein Gewicht zu> legen,
weil diese Äußerung jeuer frühern Zeit entstammt, wo er das Christentum
noch nicht geradezu haßte. Aber auch später läßt er ihm doch noch so manches
Gute. Es verschönere die gewöhnlichen Menschen (II, 128). Es sei nach der
Zeit des noch bäurischen Petrus eine sehr geistreiche Religion geworden und
h"be „vielleicht die feinsten Gestalten der menschlichen Gesellschaft ausgemeißelt,
die es bisher gegeben hat: die Gestalten der höhern und höchsten Geistlichkeit,"
die er beinahe enthusiastisch schildert. Er fügt dann bei: „Die mächtige


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[0223] Friedrich Nietzsche menschlichung. Der Engländer, düsterer, sinnlicher, willensstärker und brutaler als der Deutsche, ist eben deshalb, als der gemeinere von beiden, auch frömmer als der Deutsche: er hat das Christentum eben noch nötiger." Er verwende es als Gegengift gegen den Alkoholismus. Und außerdem werde die englische Plumpheit und Bauern-Ernsthaftigkeit „durch Beten und Psalmensingen noch am erträglichsten verkleidet; für jenes Vieh von Trunkenbolden und Aus¬ schweifenden, welches ehemals unter der Gewalt des Methodismus und neuer¬ dings wieder als Heilsarmee moralisch grunzen lernt, mag wirklich ein Buß- krampf die verhältnismäßig höchste Leistung von »Humanität« sein, zu der es gesteigert werden kann" (VH, 211). Als ein Gemisch von geschwächtem, ver¬ gröbertem Griechentum und von Pfaffentum charakterisirt er X, 155 das Christentum. Unter seiner Herrschaft sei die Moral aus einer Lebensbedingung der Völker der ärgste Gegensatz zum Leben geworden, grundsätzliche Verschlech¬ terung der Phantasie, böser Blick für alle Dinge. „Was ist jüdische, was ist christliche Moral? Der Zufall um seine Unschuld gebracht; das Unglück mit dem Begriff »Sünde« beschmutzt; das Wohlbefinden als Gefahr, als Ver¬ suchung, das psychologische Übelbefinden mit dem Gcwissenswurm vergiftet" ("VIII, 246). Dem Bibelkundigen braucht man nicht zu sagen, daß, soweit Christen solchen Unfug treiben, die Bibel unschuldig daran ist, wie unter anderm das Buch Hiob beweist und Joh. 9, wo die Jünger fragen: Wer hat ge¬ sündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren wurde? Christus aber antwortet: Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern. Bei solcher Auf¬ fassung des Christentums wundert man sich nicht weiter, II, 45 zu lesen, daß die Philosophie nicht ein Ersatz für die Religion sein, sondern daß es eines Ersatzes gar nicht bedürfen soll, da die — bloß eingebildeten Bedürfnisse auszurotten seien, die bisher durch die Religion befriedigt worden sind. Wenn er hofft, die allgemeine Erkenntnis der „Thatsache," daß Gott tot sei, werde der Welt die Heiterkeit wiedergeben, so meint er natürlich nicht die Heiterkeit der „Heiterlinge." . Andrerseits fehlt es nicht an anerkennenden Zeugnissen. Wenn er I, 448 das Christentum eine der reinsten Offenbarungen des Dranges nach Kultur, nach immer erneuter Erzeugung des Heiligen nennt und seinen jetzigen kläg¬ lichen Zustand darauf zurückführt, daß es immer vom Staate als Werkzeug gemißbraucht worden sei, so ist . darauf freilich noch kein Gewicht zu> legen, weil diese Äußerung jeuer frühern Zeit entstammt, wo er das Christentum noch nicht geradezu haßte. Aber auch später läßt er ihm doch noch so manches Gute. Es verschönere die gewöhnlichen Menschen (II, 128). Es sei nach der Zeit des noch bäurischen Petrus eine sehr geistreiche Religion geworden und h"be „vielleicht die feinsten Gestalten der menschlichen Gesellschaft ausgemeißelt, die es bisher gegeben hat: die Gestalten der höhern und höchsten Geistlichkeit," die er beinahe enthusiastisch schildert. Er fügt dann bei: „Die mächtige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/223>, abgerufen am 05.06.2024.