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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Gegen die agrarischen Übertreibungen

Grundsätze*) mit Recht den Hinweis darauf voraus, daß der extreme Frei¬
handelsstandpunkt in der Gegenwart von allen Vertretern der Wissenschaft auf¬
gegeben worden sei. Die Erfahrung habe ihn als unhaltbar dargethan. Nie¬
mand könne leugnen, daß die Landwirtschaft in allen Kulturstaaten ein bedeut¬
sames, wo nicht das bedeutsamste Gewerbe sei, dessen Not eine tiefgreifende
Wirkung auch auf die gesamte übrige Bevölkerung ausübe. Sie habe deshalb
ein Recht auf Staatshilfe, soweit das Gesamtinteresse diese erfordre und er¬
trage, in der gleichen Weise wie jeder andre Produktionszweig.

Wie weit ein vorwiegendes Interesse der Gesamtheit an dem Gedeihen
der Landwirtschaft vorliege, das sei nach den thatsächlichen Verhältnissen, aber
unter Beachtung folgender Grundsätze zu beurteilen.

Zunächst sei in Bezug auf den Grundwert die falsche Annahme sehr
verbreitet, "daß das Sinken des Preises des Grund und Bodens eine ent¬
sprechende Verminderung des Volksvermögens repräsentire, und es deshalb die
Aufgabe des Staats sei, den Grundwert auch mit erheblichen Opfern auf der bis¬
herigen Höhe zu erhalten." Das Steigen der Preise der Bauplätze der Städte
schließe durchaus nicht eine entsprechende Erhöhung des Wohlstands der ganzen
Stadtbevölkerung ein, sondern nur einen privatwirtschaftlichen Gewinn der
augenblicklichen Besitzer, denn die übrigen Bewohner der Stadt hätten ent¬
sprechend höhere Ausgaben für ihr Wohnungsbedürfnis zu macheu. Der
Arbeiter, der Handwerker, der Industrielle, der Beamte habe höhere Mieter
zu zahlen, höhere Löhne zu bewilligen, sich höhere Aufschlüge auf den Preis
der Waren gefallen zu lassen. So sei auch für die Gesamtheit an und für
sich ein hoher Wert des ländlichen Bodens, eine hohe Pacht, die den Wohl¬
stand des Grundbesitzers ausmache, noch kein Vorteil. Er werde es natürlich
sein, wenn die Ertragsfähigkeit des Bodens steige, nicht aber ohne weiteres
bei jedem Konjunkturgewinn. Wo der Grundbesitzer nicht selbst wirtschafte,
trete das klar zu Tage. Dem strebsamen, aber wenig bemittelten Landwirt
werde es wesentlich erschwert, ein Gut oder Grundstück zur Bewirtschaftung
zu erhalten. Je mehr er für diese Überlassung abgeben müsse, um so schwie¬
riger werde seine Lage. Ein Herabgehen des Grundwerth oder der Pacht, bei
sonst gleichgebliebnen Verhältnissen, erleichtere ihm die Stellung. Beide
würden hauptsächlich beeinflußt durch die Preise der landwirtschaftlichen Pro¬
dukte. Konjunkturen oder Maßregeln, die diese erhöhten, steigerten den Grund¬
wert, förderten oder erhielten den Wohlstand des Grundeigentümers, erschwerten
die Lage des künftig wirtschaftenden Landwirth, der sich ankaufen oder pachten
wolle, und über dem die Gefahr des Sinkens der künstlich gesteigerten Frucht¬
preise schwebe. Darin liege die große Gefahr einer Agrarpolitik, die nur die



Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Zivcite Auflage. Erste Lieferung (Agrar¬
politik). Jena, Gustav Fischer.
Gegen die agrarischen Übertreibungen

Grundsätze*) mit Recht den Hinweis darauf voraus, daß der extreme Frei¬
handelsstandpunkt in der Gegenwart von allen Vertretern der Wissenschaft auf¬
gegeben worden sei. Die Erfahrung habe ihn als unhaltbar dargethan. Nie¬
mand könne leugnen, daß die Landwirtschaft in allen Kulturstaaten ein bedeut¬
sames, wo nicht das bedeutsamste Gewerbe sei, dessen Not eine tiefgreifende
Wirkung auch auf die gesamte übrige Bevölkerung ausübe. Sie habe deshalb
ein Recht auf Staatshilfe, soweit das Gesamtinteresse diese erfordre und er¬
trage, in der gleichen Weise wie jeder andre Produktionszweig.

Wie weit ein vorwiegendes Interesse der Gesamtheit an dem Gedeihen
der Landwirtschaft vorliege, das sei nach den thatsächlichen Verhältnissen, aber
unter Beachtung folgender Grundsätze zu beurteilen.

Zunächst sei in Bezug auf den Grundwert die falsche Annahme sehr
verbreitet, „daß das Sinken des Preises des Grund und Bodens eine ent¬
sprechende Verminderung des Volksvermögens repräsentire, und es deshalb die
Aufgabe des Staats sei, den Grundwert auch mit erheblichen Opfern auf der bis¬
herigen Höhe zu erhalten." Das Steigen der Preise der Bauplätze der Städte
schließe durchaus nicht eine entsprechende Erhöhung des Wohlstands der ganzen
Stadtbevölkerung ein, sondern nur einen privatwirtschaftlichen Gewinn der
augenblicklichen Besitzer, denn die übrigen Bewohner der Stadt hätten ent¬
sprechend höhere Ausgaben für ihr Wohnungsbedürfnis zu macheu. Der
Arbeiter, der Handwerker, der Industrielle, der Beamte habe höhere Mieter
zu zahlen, höhere Löhne zu bewilligen, sich höhere Aufschlüge auf den Preis
der Waren gefallen zu lassen. So sei auch für die Gesamtheit an und für
sich ein hoher Wert des ländlichen Bodens, eine hohe Pacht, die den Wohl¬
stand des Grundbesitzers ausmache, noch kein Vorteil. Er werde es natürlich
sein, wenn die Ertragsfähigkeit des Bodens steige, nicht aber ohne weiteres
bei jedem Konjunkturgewinn. Wo der Grundbesitzer nicht selbst wirtschafte,
trete das klar zu Tage. Dem strebsamen, aber wenig bemittelten Landwirt
werde es wesentlich erschwert, ein Gut oder Grundstück zur Bewirtschaftung
zu erhalten. Je mehr er für diese Überlassung abgeben müsse, um so schwie¬
riger werde seine Lage. Ein Herabgehen des Grundwerth oder der Pacht, bei
sonst gleichgebliebnen Verhältnissen, erleichtere ihm die Stellung. Beide
würden hauptsächlich beeinflußt durch die Preise der landwirtschaftlichen Pro¬
dukte. Konjunkturen oder Maßregeln, die diese erhöhten, steigerten den Grund¬
wert, förderten oder erhielten den Wohlstand des Grundeigentümers, erschwerten
die Lage des künftig wirtschaftenden Landwirth, der sich ankaufen oder pachten
wolle, und über dem die Gefahr des Sinkens der künstlich gesteigerten Frucht¬
preise schwebe. Darin liege die große Gefahr einer Agrarpolitik, die nur die



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politik). Jena, Gustav Fischer.
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[0442] Gegen die agrarischen Übertreibungen Grundsätze*) mit Recht den Hinweis darauf voraus, daß der extreme Frei¬ handelsstandpunkt in der Gegenwart von allen Vertretern der Wissenschaft auf¬ gegeben worden sei. Die Erfahrung habe ihn als unhaltbar dargethan. Nie¬ mand könne leugnen, daß die Landwirtschaft in allen Kulturstaaten ein bedeut¬ sames, wo nicht das bedeutsamste Gewerbe sei, dessen Not eine tiefgreifende Wirkung auch auf die gesamte übrige Bevölkerung ausübe. Sie habe deshalb ein Recht auf Staatshilfe, soweit das Gesamtinteresse diese erfordre und er¬ trage, in der gleichen Weise wie jeder andre Produktionszweig. Wie weit ein vorwiegendes Interesse der Gesamtheit an dem Gedeihen der Landwirtschaft vorliege, das sei nach den thatsächlichen Verhältnissen, aber unter Beachtung folgender Grundsätze zu beurteilen. Zunächst sei in Bezug auf den Grundwert die falsche Annahme sehr verbreitet, „daß das Sinken des Preises des Grund und Bodens eine ent¬ sprechende Verminderung des Volksvermögens repräsentire, und es deshalb die Aufgabe des Staats sei, den Grundwert auch mit erheblichen Opfern auf der bis¬ herigen Höhe zu erhalten." Das Steigen der Preise der Bauplätze der Städte schließe durchaus nicht eine entsprechende Erhöhung des Wohlstands der ganzen Stadtbevölkerung ein, sondern nur einen privatwirtschaftlichen Gewinn der augenblicklichen Besitzer, denn die übrigen Bewohner der Stadt hätten ent¬ sprechend höhere Ausgaben für ihr Wohnungsbedürfnis zu macheu. Der Arbeiter, der Handwerker, der Industrielle, der Beamte habe höhere Mieter zu zahlen, höhere Löhne zu bewilligen, sich höhere Aufschlüge auf den Preis der Waren gefallen zu lassen. So sei auch für die Gesamtheit an und für sich ein hoher Wert des ländlichen Bodens, eine hohe Pacht, die den Wohl¬ stand des Grundbesitzers ausmache, noch kein Vorteil. Er werde es natürlich sein, wenn die Ertragsfähigkeit des Bodens steige, nicht aber ohne weiteres bei jedem Konjunkturgewinn. Wo der Grundbesitzer nicht selbst wirtschafte, trete das klar zu Tage. Dem strebsamen, aber wenig bemittelten Landwirt werde es wesentlich erschwert, ein Gut oder Grundstück zur Bewirtschaftung zu erhalten. Je mehr er für diese Überlassung abgeben müsse, um so schwie¬ riger werde seine Lage. Ein Herabgehen des Grundwerth oder der Pacht, bei sonst gleichgebliebnen Verhältnissen, erleichtere ihm die Stellung. Beide würden hauptsächlich beeinflußt durch die Preise der landwirtschaftlichen Pro¬ dukte. Konjunkturen oder Maßregeln, die diese erhöhten, steigerten den Grund¬ wert, förderten oder erhielten den Wohlstand des Grundeigentümers, erschwerten die Lage des künftig wirtschaftenden Landwirth, der sich ankaufen oder pachten wolle, und über dem die Gefahr des Sinkens der künstlich gesteigerten Frucht¬ preise schwebe. Darin liege die große Gefahr einer Agrarpolitik, die nur die Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Zivcite Auflage. Erste Lieferung (Agrar¬ politik). Jena, Gustav Fischer.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/442>, abgerufen am 16.05.2024.