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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Gegen die agrarischen Übertreibungen

Gegenwart im Auge habe und auf Kosten der folgenden Generation handle.
Der übrigen Bevölkerung werde außerdem in gleicher Weise der Unterhalt ver¬
teuert, wie der Landwirt Gewinn von hohen Preisen habe.

Sodann stellt Conrad die den Kern- und Hauptpunkt der Agrarpolitik
der herrschenden Negierungskreise unmittelbar treffende Frage: "Ist die Land¬
wirtschaft in einem besondern Maße als die Grundlage des Staats auf¬
zufassen und unter allen Umständen zu erhalten?"

Mit Recht bemerkt er von vornherein zu der Fragestellung selbst, daß in
keinem in Betracht kommenden Lande diese Frage, so schroff aufgestellt, von
irgend welcher praktischen Bedeutung sei. Sie Pflege nur gestellt zu werden,
um irre zu leiten. Es könne sich nur darum handeln, zu untersuchen: "Wie
weit ist die Landwirtschaft in ihrer gegenwärtigen Ausdehnung und dem jetzigen
Betnebe, sei es auch mit Opfern, zu erhalten oder auf Kosten der übrigen
Bevölkerung auszudehnen?"

Wichtig für die Beantwortung erscheint Conrad vor allem die Bedeutung
der ländlichen Bevölkerung sür die Gesamtbevölkerung, und dann die Bedeutung
der Landwirtschaft für die Volksernährung.

Was das erste anbelangt, erkennt er an, daß "unter den gegenwärtigen
Verhältnissen z. B. in Deutschland die kräftigste, gesündeste Mannschaft aus
den Land- und Forstwirtschaft, Gärtnerei und Fischerei treibenden Gegenden
herstamme" und die Pflege dieser Gewerbe "zur Regenerirung der städtischen
Bevölkerung und Erhaltung der Wehrkraft" geboten sein werde. Doch werde
das vielfach arg überschützt. Durchaus nicht alle Industriezweige beeinträch¬
tigten die körperliche Entwicklung und Gesundheit, und sicher ließen sich die
schädlichen Einflüsse vieler sehr erheblich abschwächen. Sei doch in dieser
Hinsicht in den letzten Jahrzehnten schon außerordentlich viel geschehen. Ebenso
sei es nicht wahr, daß die Lebensbedingungen in den Städten unabänderlich
degenerirend wirken müßten. Auch in den Großstädten wachse der Geburten¬
überschuß fast mit jedem Jahrzehnt: "Intensive Fürsorge der Regierung für
die industrielle Bevölkerung ist sicher in Bezug auf die Wehrkraft des Landes
noch wirksamer, als irgend eine Agrarpolitik es sein kann. Die militärische
Tüchtigkeit hängt ferner nicht allein von der physischen Kraft ab, sondern sie
wird in unsrer Zeit in hohem Maße durch die Intelligenz bedingt. Diese ist
sicher bei der industriellen Bevölkerung größer und unzweifelhaft sehr viel leichter
zu fördern als bei der ländlichen."

Was die Bedeutung der Landwirtschaft "als Grundlage der Volksernüh-
rung" anlangt, weist Conrad auf die Thatsache hin, daß mit fortschreitender
Kultur diese Bedeutung mehr und mehr zurücktrete. "Je mehr Wohlstand
und Bildung in der Bevölkerung steigen, meint er. je größer der Prozentsatz
der Einwohner ist, der sich höhere Bedürfnisse angeeignet hat und in der Lage
ist, sie zu befriedigen, ein um so geringerer Teil des Nationalvermögens wird


Gegen die agrarischen Übertreibungen

Gegenwart im Auge habe und auf Kosten der folgenden Generation handle.
Der übrigen Bevölkerung werde außerdem in gleicher Weise der Unterhalt ver¬
teuert, wie der Landwirt Gewinn von hohen Preisen habe.

Sodann stellt Conrad die den Kern- und Hauptpunkt der Agrarpolitik
der herrschenden Negierungskreise unmittelbar treffende Frage: „Ist die Land¬
wirtschaft in einem besondern Maße als die Grundlage des Staats auf¬
zufassen und unter allen Umständen zu erhalten?"

Mit Recht bemerkt er von vornherein zu der Fragestellung selbst, daß in
keinem in Betracht kommenden Lande diese Frage, so schroff aufgestellt, von
irgend welcher praktischen Bedeutung sei. Sie Pflege nur gestellt zu werden,
um irre zu leiten. Es könne sich nur darum handeln, zu untersuchen: „Wie
weit ist die Landwirtschaft in ihrer gegenwärtigen Ausdehnung und dem jetzigen
Betnebe, sei es auch mit Opfern, zu erhalten oder auf Kosten der übrigen
Bevölkerung auszudehnen?"

Wichtig für die Beantwortung erscheint Conrad vor allem die Bedeutung
der ländlichen Bevölkerung sür die Gesamtbevölkerung, und dann die Bedeutung
der Landwirtschaft für die Volksernährung.

Was das erste anbelangt, erkennt er an, daß „unter den gegenwärtigen
Verhältnissen z. B. in Deutschland die kräftigste, gesündeste Mannschaft aus
den Land- und Forstwirtschaft, Gärtnerei und Fischerei treibenden Gegenden
herstamme" und die Pflege dieser Gewerbe „zur Regenerirung der städtischen
Bevölkerung und Erhaltung der Wehrkraft" geboten sein werde. Doch werde
das vielfach arg überschützt. Durchaus nicht alle Industriezweige beeinträch¬
tigten die körperliche Entwicklung und Gesundheit, und sicher ließen sich die
schädlichen Einflüsse vieler sehr erheblich abschwächen. Sei doch in dieser
Hinsicht in den letzten Jahrzehnten schon außerordentlich viel geschehen. Ebenso
sei es nicht wahr, daß die Lebensbedingungen in den Städten unabänderlich
degenerirend wirken müßten. Auch in den Großstädten wachse der Geburten¬
überschuß fast mit jedem Jahrzehnt: „Intensive Fürsorge der Regierung für
die industrielle Bevölkerung ist sicher in Bezug auf die Wehrkraft des Landes
noch wirksamer, als irgend eine Agrarpolitik es sein kann. Die militärische
Tüchtigkeit hängt ferner nicht allein von der physischen Kraft ab, sondern sie
wird in unsrer Zeit in hohem Maße durch die Intelligenz bedingt. Diese ist
sicher bei der industriellen Bevölkerung größer und unzweifelhaft sehr viel leichter
zu fördern als bei der ländlichen."

Was die Bedeutung der Landwirtschaft „als Grundlage der Volksernüh-
rung" anlangt, weist Conrad auf die Thatsache hin, daß mit fortschreitender
Kultur diese Bedeutung mehr und mehr zurücktrete. „Je mehr Wohlstand
und Bildung in der Bevölkerung steigen, meint er. je größer der Prozentsatz
der Einwohner ist, der sich höhere Bedürfnisse angeeignet hat und in der Lage
ist, sie zu befriedigen, ein um so geringerer Teil des Nationalvermögens wird


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[0443] Gegen die agrarischen Übertreibungen Gegenwart im Auge habe und auf Kosten der folgenden Generation handle. Der übrigen Bevölkerung werde außerdem in gleicher Weise der Unterhalt ver¬ teuert, wie der Landwirt Gewinn von hohen Preisen habe. Sodann stellt Conrad die den Kern- und Hauptpunkt der Agrarpolitik der herrschenden Negierungskreise unmittelbar treffende Frage: „Ist die Land¬ wirtschaft in einem besondern Maße als die Grundlage des Staats auf¬ zufassen und unter allen Umständen zu erhalten?" Mit Recht bemerkt er von vornherein zu der Fragestellung selbst, daß in keinem in Betracht kommenden Lande diese Frage, so schroff aufgestellt, von irgend welcher praktischen Bedeutung sei. Sie Pflege nur gestellt zu werden, um irre zu leiten. Es könne sich nur darum handeln, zu untersuchen: „Wie weit ist die Landwirtschaft in ihrer gegenwärtigen Ausdehnung und dem jetzigen Betnebe, sei es auch mit Opfern, zu erhalten oder auf Kosten der übrigen Bevölkerung auszudehnen?" Wichtig für die Beantwortung erscheint Conrad vor allem die Bedeutung der ländlichen Bevölkerung sür die Gesamtbevölkerung, und dann die Bedeutung der Landwirtschaft für die Volksernährung. Was das erste anbelangt, erkennt er an, daß „unter den gegenwärtigen Verhältnissen z. B. in Deutschland die kräftigste, gesündeste Mannschaft aus den Land- und Forstwirtschaft, Gärtnerei und Fischerei treibenden Gegenden herstamme" und die Pflege dieser Gewerbe „zur Regenerirung der städtischen Bevölkerung und Erhaltung der Wehrkraft" geboten sein werde. Doch werde das vielfach arg überschützt. Durchaus nicht alle Industriezweige beeinträch¬ tigten die körperliche Entwicklung und Gesundheit, und sicher ließen sich die schädlichen Einflüsse vieler sehr erheblich abschwächen. Sei doch in dieser Hinsicht in den letzten Jahrzehnten schon außerordentlich viel geschehen. Ebenso sei es nicht wahr, daß die Lebensbedingungen in den Städten unabänderlich degenerirend wirken müßten. Auch in den Großstädten wachse der Geburten¬ überschuß fast mit jedem Jahrzehnt: „Intensive Fürsorge der Regierung für die industrielle Bevölkerung ist sicher in Bezug auf die Wehrkraft des Landes noch wirksamer, als irgend eine Agrarpolitik es sein kann. Die militärische Tüchtigkeit hängt ferner nicht allein von der physischen Kraft ab, sondern sie wird in unsrer Zeit in hohem Maße durch die Intelligenz bedingt. Diese ist sicher bei der industriellen Bevölkerung größer und unzweifelhaft sehr viel leichter zu fördern als bei der ländlichen." Was die Bedeutung der Landwirtschaft „als Grundlage der Volksernüh- rung" anlangt, weist Conrad auf die Thatsache hin, daß mit fortschreitender Kultur diese Bedeutung mehr und mehr zurücktrete. „Je mehr Wohlstand und Bildung in der Bevölkerung steigen, meint er. je größer der Prozentsatz der Einwohner ist, der sich höhere Bedürfnisse angeeignet hat und in der Lage ist, sie zu befriedigen, ein um so geringerer Teil des Nationalvermögens wird

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/443>, abgerufen am 05.06.2024.