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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Boden und die deutsche Geschichte

lande sichtbar und wirken bis nach Frankreich hinein. Nicht bloß an die Ein¬
flüsse aus dem fernen Osten ist dabei zu denken. Die Gemeinsamkeit der Ge¬
schichte der Niederlande und des niederdeutschen Tieflands ist seit der flan¬
drischen Kolonisation und überhaupt seit dem Zug der Nordwestdeutschen nach
Osten eine große Sache; sie liegt in der Geschichte der Hanse, wie in der
Preußens, sie zeigt sich in der Kunst und in der Wissenschaft und kommt in
den neuen Anknüpfungen zwischen Niederdeutschen und Vlamen auch in unsrer
Zeit wieder zur Geltung. Das norddeutsche Tiefland hat geschichtlichen Be¬
wegungen immer freiern Raum geboten als die gebirgigen Teile. Die erste
Ausbreitung der Germanen zeigt das leichtere Vordringen im norddeutschen
Tiefland von Osten her und das schwierigere Eindringen in die Gebirge und
die Alpen. So wenig wir im einzelnen von der Ausbreitung der Germanen
kennen, wir sehen sie in der ersten Römerzeit im Norden am Rhein, wenn sie
sich im Süden erst zwischen den Gebirgen durchgewunden und die Alpen über¬
haupt noch nicht berührt haben. Das ist eine Verbreitungsweise im Einklang
mit dem Zug der Gebirge, die das norddeutsche Tiefland mit ihrem herch-
nischen Streichen zu einem sich nach Westen einengendem Keil machen. Dann
geschieht die weitere Ausbreitung unter der Vermeidung des länger keltisch
bleibenden Böhmens und unter der Erhaltung keltischer Reste in den Mittel¬
gebirgen. Die Alpen werden erst überschritten, nachdem einige Jahrhunderte
die Flut gegen ihren Nordrand hatten anschwellen lassen. Auch in spätern
Bewegungen und Ausbreitungen hat sich ein begünstigender Einfluß des Tieflands
geltend gemacht. Ihm verdankt das deutsche Volk den unschätzbaren Vorzug
einer ungebrochnen Ausbreitung vom Kanal bis zur Memel, wodurch sein
Gebiet die größte Breite gerade da erhält, wo es am sichersten ist, am Meer.
Damit kontrastirt die mitten in die Gebirgszone Süddeutschlands sollende Ver-
schmälerung zwischen Taus und Avricourt, also zwischen Böhmerwald und
Vogesen, die nicht mehr ein Drittel jener größten Breite beträgt. Und ebenso
steht der weitern Verbreitung der blonden Deutschen im Norden die Ver¬
dichtung des dunkeln Elements in Mittel- und Süddeutschland gegenüber,
das nur im Rheinthal und in den Alpen stark mit Blonden durchsetzt ist.

Diesen großen nordsüdlichen Gegensatz durchkreuzen und schwächen nun
die ostwestlichen Unterschiede, die in den den Süden mit dem Norden ver¬
bindenden Strömen von der Maas bis zur Weichsel ihre natürlichen Leitlinien
finden. Vor allem der Rhein hat seit alten Zeiten Nord- und Süddeutschland
verbunden, wie er von den Alpen zur Nordsee niedersteigt. Die frühesten
geschichtlichen Bewegungen der Deutschen sind nach Süden und Westen
gerichtet: die Cimbern und Teutonen überschreiten die Alpen, und Cäsar
tritt am Rhein dem Drängen der Deutschen nach Gallien entgegen. Durch die
Übermacht der Römer wurden diese Bewegungen nicht bloß zurückgedrängt,
sondern es wurde zu andern nord- und ostwärts gerichteten Bewegungen


Der deutsche Boden und die deutsche Geschichte

lande sichtbar und wirken bis nach Frankreich hinein. Nicht bloß an die Ein¬
flüsse aus dem fernen Osten ist dabei zu denken. Die Gemeinsamkeit der Ge¬
schichte der Niederlande und des niederdeutschen Tieflands ist seit der flan¬
drischen Kolonisation und überhaupt seit dem Zug der Nordwestdeutschen nach
Osten eine große Sache; sie liegt in der Geschichte der Hanse, wie in der
Preußens, sie zeigt sich in der Kunst und in der Wissenschaft und kommt in
den neuen Anknüpfungen zwischen Niederdeutschen und Vlamen auch in unsrer
Zeit wieder zur Geltung. Das norddeutsche Tiefland hat geschichtlichen Be¬
wegungen immer freiern Raum geboten als die gebirgigen Teile. Die erste
Ausbreitung der Germanen zeigt das leichtere Vordringen im norddeutschen
Tiefland von Osten her und das schwierigere Eindringen in die Gebirge und
die Alpen. So wenig wir im einzelnen von der Ausbreitung der Germanen
kennen, wir sehen sie in der ersten Römerzeit im Norden am Rhein, wenn sie
sich im Süden erst zwischen den Gebirgen durchgewunden und die Alpen über¬
haupt noch nicht berührt haben. Das ist eine Verbreitungsweise im Einklang
mit dem Zug der Gebirge, die das norddeutsche Tiefland mit ihrem herch-
nischen Streichen zu einem sich nach Westen einengendem Keil machen. Dann
geschieht die weitere Ausbreitung unter der Vermeidung des länger keltisch
bleibenden Böhmens und unter der Erhaltung keltischer Reste in den Mittel¬
gebirgen. Die Alpen werden erst überschritten, nachdem einige Jahrhunderte
die Flut gegen ihren Nordrand hatten anschwellen lassen. Auch in spätern
Bewegungen und Ausbreitungen hat sich ein begünstigender Einfluß des Tieflands
geltend gemacht. Ihm verdankt das deutsche Volk den unschätzbaren Vorzug
einer ungebrochnen Ausbreitung vom Kanal bis zur Memel, wodurch sein
Gebiet die größte Breite gerade da erhält, wo es am sichersten ist, am Meer.
Damit kontrastirt die mitten in die Gebirgszone Süddeutschlands sollende Ver-
schmälerung zwischen Taus und Avricourt, also zwischen Böhmerwald und
Vogesen, die nicht mehr ein Drittel jener größten Breite beträgt. Und ebenso
steht der weitern Verbreitung der blonden Deutschen im Norden die Ver¬
dichtung des dunkeln Elements in Mittel- und Süddeutschland gegenüber,
das nur im Rheinthal und in den Alpen stark mit Blonden durchsetzt ist.

Diesen großen nordsüdlichen Gegensatz durchkreuzen und schwächen nun
die ostwestlichen Unterschiede, die in den den Süden mit dem Norden ver¬
bindenden Strömen von der Maas bis zur Weichsel ihre natürlichen Leitlinien
finden. Vor allem der Rhein hat seit alten Zeiten Nord- und Süddeutschland
verbunden, wie er von den Alpen zur Nordsee niedersteigt. Die frühesten
geschichtlichen Bewegungen der Deutschen sind nach Süden und Westen
gerichtet: die Cimbern und Teutonen überschreiten die Alpen, und Cäsar
tritt am Rhein dem Drängen der Deutschen nach Gallien entgegen. Durch die
Übermacht der Römer wurden diese Bewegungen nicht bloß zurückgedrängt,
sondern es wurde zu andern nord- und ostwärts gerichteten Bewegungen


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[0602] Der deutsche Boden und die deutsche Geschichte lande sichtbar und wirken bis nach Frankreich hinein. Nicht bloß an die Ein¬ flüsse aus dem fernen Osten ist dabei zu denken. Die Gemeinsamkeit der Ge¬ schichte der Niederlande und des niederdeutschen Tieflands ist seit der flan¬ drischen Kolonisation und überhaupt seit dem Zug der Nordwestdeutschen nach Osten eine große Sache; sie liegt in der Geschichte der Hanse, wie in der Preußens, sie zeigt sich in der Kunst und in der Wissenschaft und kommt in den neuen Anknüpfungen zwischen Niederdeutschen und Vlamen auch in unsrer Zeit wieder zur Geltung. Das norddeutsche Tiefland hat geschichtlichen Be¬ wegungen immer freiern Raum geboten als die gebirgigen Teile. Die erste Ausbreitung der Germanen zeigt das leichtere Vordringen im norddeutschen Tiefland von Osten her und das schwierigere Eindringen in die Gebirge und die Alpen. So wenig wir im einzelnen von der Ausbreitung der Germanen kennen, wir sehen sie in der ersten Römerzeit im Norden am Rhein, wenn sie sich im Süden erst zwischen den Gebirgen durchgewunden und die Alpen über¬ haupt noch nicht berührt haben. Das ist eine Verbreitungsweise im Einklang mit dem Zug der Gebirge, die das norddeutsche Tiefland mit ihrem herch- nischen Streichen zu einem sich nach Westen einengendem Keil machen. Dann geschieht die weitere Ausbreitung unter der Vermeidung des länger keltisch bleibenden Böhmens und unter der Erhaltung keltischer Reste in den Mittel¬ gebirgen. Die Alpen werden erst überschritten, nachdem einige Jahrhunderte die Flut gegen ihren Nordrand hatten anschwellen lassen. Auch in spätern Bewegungen und Ausbreitungen hat sich ein begünstigender Einfluß des Tieflands geltend gemacht. Ihm verdankt das deutsche Volk den unschätzbaren Vorzug einer ungebrochnen Ausbreitung vom Kanal bis zur Memel, wodurch sein Gebiet die größte Breite gerade da erhält, wo es am sichersten ist, am Meer. Damit kontrastirt die mitten in die Gebirgszone Süddeutschlands sollende Ver- schmälerung zwischen Taus und Avricourt, also zwischen Böhmerwald und Vogesen, die nicht mehr ein Drittel jener größten Breite beträgt. Und ebenso steht der weitern Verbreitung der blonden Deutschen im Norden die Ver¬ dichtung des dunkeln Elements in Mittel- und Süddeutschland gegenüber, das nur im Rheinthal und in den Alpen stark mit Blonden durchsetzt ist. Diesen großen nordsüdlichen Gegensatz durchkreuzen und schwächen nun die ostwestlichen Unterschiede, die in den den Süden mit dem Norden ver¬ bindenden Strömen von der Maas bis zur Weichsel ihre natürlichen Leitlinien finden. Vor allem der Rhein hat seit alten Zeiten Nord- und Süddeutschland verbunden, wie er von den Alpen zur Nordsee niedersteigt. Die frühesten geschichtlichen Bewegungen der Deutschen sind nach Süden und Westen gerichtet: die Cimbern und Teutonen überschreiten die Alpen, und Cäsar tritt am Rhein dem Drängen der Deutschen nach Gallien entgegen. Durch die Übermacht der Römer wurden diese Bewegungen nicht bloß zurückgedrängt, sondern es wurde zu andern nord- und ostwärts gerichteten Bewegungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/602>, abgerufen am 12.06.2024.