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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Boden und die deutsche Geschichte

der erste Anstoß gegeben. Der römische Staat wächst über den Rhein nach
Germanien hinein, mit ihm ranken Ausläufer der antiken Kultur herüber,
und auf denselben Pfaden folgt das Christentum. Diese drei großen Mächte,
die Europa umgestalten, machen aber ihren Weg nicht von Süden nach
Norden, sondern sie biegen vor der Schranke der Alpen ab, umgehen das
Hochgebirge in westlichem Bogen, und diese ungeheuer folgenreichen Bewegungen
nehmen fast völlig westöstliche Richtungen an. Dem entspricht zeitlich das Er¬
scheinen Germaniens im Licht der Geschichte hinter Gallien, Iberien und
Britannien. Selbst Helvetien wird wesentlich von Gallien her für Rom ge¬
wonnen. Es wird damit eine Aufreihung der großen Völker in dem mittlern
Streifen Europas zwischen West und Ost erreicht, die für Jahrhunderte hinaus
den westlichen den Vorrang giebt; und es beginnt besonders das Wandern
westlicher Einflüsse aus Frankreich nach Deutschland, das von da an nie mehr
ganz aufhört. Deutschland pflanzt dann die Bewegung nach Osten fort. Diese
Reihenbildung wiederholt sich auch in kleinern Räumen. Deutschland wird in
sich selbst zweigeteilt durch die Romanisirung des Rheinlands, die von den
Rädern bis zu den Batavern alle Völker ergreift. Damit erhebt sich ein west¬
liches Deutschland, bevölkerter, blühender, in der Kultur reifer -- man denke
an Triers Stellung in der spütrömischen und frühmittelalterlichen Geschichte --
über ein östliches, das erst zu erschließen, zu erobern, für das Christentum zu
gewinnen ist. Ehe dies aber geschehen kann, zertrümmert eine Reihe von neuen
großen Bewegungen germanischer Völker nach Westen und Süden das römische
Reich. Die Germanen verlassen mit wenigen Ausnahmen ihre alten Sitze im
Oder- und Weichselland, und ihr Gesamtgebiet schiebt sich dauernd westwärts,
während Slawen im Osten an ihre Stelle treten. Der Westen behält aber seine
Kulturüberlegenheit. Daher die große Stellung des Rheinlands im Karolin¬
gischen Reich, als dessen Lebensader man den Rhein bezeichnen kann, ebenso wie
bis ans Rudolf von Habsburg der Kern des Reichs, unter wenigen Schwankungen
nach Niedersachsen, hier in Südwestdeutschland lag. Daher die Zerteilung Mittel¬
europas in die westöstlich neben einander liegenden Länder West- und Ostfranken,
Frankreich. Lothringen, Burgund. Deutschland. Indem das Wachstum von
Westen aus immer weiter ostwärts fortschreitet, rückt Frankreich von der
Saone zum Rhein, Deutschland von der Elbe zur Weichsel vor, und weiter
im Osten bilden sich neue ostwärts strebende Staaten im deutschen Ordens¬
land, in Polen, Osterreich und Ungarn. Übergangsländer wie Lothringen, Bur¬
gund, Schlesien. Böhmen verlieren in diesem Prozeß ihre Selbständigkeit. Nun
tritt aber ein großer Unterschied immer deutlicher zu Tage, der Frankreich und
Deutschland trennt. Frankreich schließt sein Wachstum früher ab. da es fast
auf allen Seiten natürlichen Grenzen begegnet; es entwickelt, das freie Meer
im Rücken, seine Kräfte in heilsamer Sicherheit und Geschlossenheit. Deutsch¬
land dagegen bleibt nach Osten hin offen, schwankt vor und zurück und wird,


Der deutsche Boden und die deutsche Geschichte

der erste Anstoß gegeben. Der römische Staat wächst über den Rhein nach
Germanien hinein, mit ihm ranken Ausläufer der antiken Kultur herüber,
und auf denselben Pfaden folgt das Christentum. Diese drei großen Mächte,
die Europa umgestalten, machen aber ihren Weg nicht von Süden nach
Norden, sondern sie biegen vor der Schranke der Alpen ab, umgehen das
Hochgebirge in westlichem Bogen, und diese ungeheuer folgenreichen Bewegungen
nehmen fast völlig westöstliche Richtungen an. Dem entspricht zeitlich das Er¬
scheinen Germaniens im Licht der Geschichte hinter Gallien, Iberien und
Britannien. Selbst Helvetien wird wesentlich von Gallien her für Rom ge¬
wonnen. Es wird damit eine Aufreihung der großen Völker in dem mittlern
Streifen Europas zwischen West und Ost erreicht, die für Jahrhunderte hinaus
den westlichen den Vorrang giebt; und es beginnt besonders das Wandern
westlicher Einflüsse aus Frankreich nach Deutschland, das von da an nie mehr
ganz aufhört. Deutschland pflanzt dann die Bewegung nach Osten fort. Diese
Reihenbildung wiederholt sich auch in kleinern Räumen. Deutschland wird in
sich selbst zweigeteilt durch die Romanisirung des Rheinlands, die von den
Rädern bis zu den Batavern alle Völker ergreift. Damit erhebt sich ein west¬
liches Deutschland, bevölkerter, blühender, in der Kultur reifer — man denke
an Triers Stellung in der spütrömischen und frühmittelalterlichen Geschichte —
über ein östliches, das erst zu erschließen, zu erobern, für das Christentum zu
gewinnen ist. Ehe dies aber geschehen kann, zertrümmert eine Reihe von neuen
großen Bewegungen germanischer Völker nach Westen und Süden das römische
Reich. Die Germanen verlassen mit wenigen Ausnahmen ihre alten Sitze im
Oder- und Weichselland, und ihr Gesamtgebiet schiebt sich dauernd westwärts,
während Slawen im Osten an ihre Stelle treten. Der Westen behält aber seine
Kulturüberlegenheit. Daher die große Stellung des Rheinlands im Karolin¬
gischen Reich, als dessen Lebensader man den Rhein bezeichnen kann, ebenso wie
bis ans Rudolf von Habsburg der Kern des Reichs, unter wenigen Schwankungen
nach Niedersachsen, hier in Südwestdeutschland lag. Daher die Zerteilung Mittel¬
europas in die westöstlich neben einander liegenden Länder West- und Ostfranken,
Frankreich. Lothringen, Burgund. Deutschland. Indem das Wachstum von
Westen aus immer weiter ostwärts fortschreitet, rückt Frankreich von der
Saone zum Rhein, Deutschland von der Elbe zur Weichsel vor, und weiter
im Osten bilden sich neue ostwärts strebende Staaten im deutschen Ordens¬
land, in Polen, Osterreich und Ungarn. Übergangsländer wie Lothringen, Bur¬
gund, Schlesien. Böhmen verlieren in diesem Prozeß ihre Selbständigkeit. Nun
tritt aber ein großer Unterschied immer deutlicher zu Tage, der Frankreich und
Deutschland trennt. Frankreich schließt sein Wachstum früher ab. da es fast
auf allen Seiten natürlichen Grenzen begegnet; es entwickelt, das freie Meer
im Rücken, seine Kräfte in heilsamer Sicherheit und Geschlossenheit. Deutsch¬
land dagegen bleibt nach Osten hin offen, schwankt vor und zurück und wird,


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[0603] Der deutsche Boden und die deutsche Geschichte der erste Anstoß gegeben. Der römische Staat wächst über den Rhein nach Germanien hinein, mit ihm ranken Ausläufer der antiken Kultur herüber, und auf denselben Pfaden folgt das Christentum. Diese drei großen Mächte, die Europa umgestalten, machen aber ihren Weg nicht von Süden nach Norden, sondern sie biegen vor der Schranke der Alpen ab, umgehen das Hochgebirge in westlichem Bogen, und diese ungeheuer folgenreichen Bewegungen nehmen fast völlig westöstliche Richtungen an. Dem entspricht zeitlich das Er¬ scheinen Germaniens im Licht der Geschichte hinter Gallien, Iberien und Britannien. Selbst Helvetien wird wesentlich von Gallien her für Rom ge¬ wonnen. Es wird damit eine Aufreihung der großen Völker in dem mittlern Streifen Europas zwischen West und Ost erreicht, die für Jahrhunderte hinaus den westlichen den Vorrang giebt; und es beginnt besonders das Wandern westlicher Einflüsse aus Frankreich nach Deutschland, das von da an nie mehr ganz aufhört. Deutschland pflanzt dann die Bewegung nach Osten fort. Diese Reihenbildung wiederholt sich auch in kleinern Räumen. Deutschland wird in sich selbst zweigeteilt durch die Romanisirung des Rheinlands, die von den Rädern bis zu den Batavern alle Völker ergreift. Damit erhebt sich ein west¬ liches Deutschland, bevölkerter, blühender, in der Kultur reifer — man denke an Triers Stellung in der spütrömischen und frühmittelalterlichen Geschichte — über ein östliches, das erst zu erschließen, zu erobern, für das Christentum zu gewinnen ist. Ehe dies aber geschehen kann, zertrümmert eine Reihe von neuen großen Bewegungen germanischer Völker nach Westen und Süden das römische Reich. Die Germanen verlassen mit wenigen Ausnahmen ihre alten Sitze im Oder- und Weichselland, und ihr Gesamtgebiet schiebt sich dauernd westwärts, während Slawen im Osten an ihre Stelle treten. Der Westen behält aber seine Kulturüberlegenheit. Daher die große Stellung des Rheinlands im Karolin¬ gischen Reich, als dessen Lebensader man den Rhein bezeichnen kann, ebenso wie bis ans Rudolf von Habsburg der Kern des Reichs, unter wenigen Schwankungen nach Niedersachsen, hier in Südwestdeutschland lag. Daher die Zerteilung Mittel¬ europas in die westöstlich neben einander liegenden Länder West- und Ostfranken, Frankreich. Lothringen, Burgund. Deutschland. Indem das Wachstum von Westen aus immer weiter ostwärts fortschreitet, rückt Frankreich von der Saone zum Rhein, Deutschland von der Elbe zur Weichsel vor, und weiter im Osten bilden sich neue ostwärts strebende Staaten im deutschen Ordens¬ land, in Polen, Osterreich und Ungarn. Übergangsländer wie Lothringen, Bur¬ gund, Schlesien. Böhmen verlieren in diesem Prozeß ihre Selbständigkeit. Nun tritt aber ein großer Unterschied immer deutlicher zu Tage, der Frankreich und Deutschland trennt. Frankreich schließt sein Wachstum früher ab. da es fast auf allen Seiten natürlichen Grenzen begegnet; es entwickelt, das freie Meer im Rücken, seine Kräfte in heilsamer Sicherheit und Geschlossenheit. Deutsch¬ land dagegen bleibt nach Osten hin offen, schwankt vor und zurück und wird,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/603>, abgerufen am 05.06.2024.