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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Below gegen Lamprecht

lichen Ansicht der Thatsachen der Kultur. Darwin verband den Gedanken der
Geschichte mit dem der naturwissenschaftlich beobachteten und erklärten Meta¬
morphose, und so erwuchs ihm der bis dahin nur von Kant und Goethe
flüchtig geahnte, aber wieder fallen gelassene Begriff der Evolution als Grund¬
thatsache, etwas ganz neues.*) Diesen Gedanken, der von naturwissenschaftlicher
Seite nun schon lange auch auf den Menschen bezogen worden, schon tief in
die allgemeine Bildung der Gegenwart eingewachsen ist, in der Form einer
immanenten Kausalität, auch in die Geschichtswissenschaft als wissenschaft¬
lichen Grundgedanken einzuführen hält Lamprecht für notwendig.

Wo das Wort Entwicklung auf eine vordarwinische Anschauung angewandt
worden ist, deckt es sich mit Geschichte, aber nicht mit Evolution. Der Nach¬
druck liegt dann nicht auf der Kausalität, sondern der Verschiedenheit des
Nacheinander. Damit fallen alle Beispiele hin, mit denen Below das hundert¬
jährige Alter der neuen geschichtswissenschaftlichen Methode erweisen will.
Harnack nennt einmal als die, die den Begriff der "Entwicklung" "mit steigender
Klarheit" zur Geltung gebracht haben, Herder und die Romantiker, Hegel und
Ranke. Es ist unmöglich, diesem Satz einen andern Sinu zuzuschreiben als
den: durch den Einfluß Herders, der Romantiker, Hegels und Rankes haben
wir uns gewöhnt, immer nachdrücklicher und eingehender an das Geschichtliche
unsrer Kultur zu denken. Dabei hat man sich klar vor Augen zu halten, daß
bei Herder nicht die historische, sondern die biblisch-religiöse Auffassung der
Kern seiner Ansicht ist, daß bei Hegel dieser Kern sein philosophisches System
ist, zu dem das historische nur etwas aceessorisches, die Entfaltung der Teile
des bisherigen Daseins bis zur Krönung durch den absoluten Idealismus
gleichsam nur ein Gewand ist; und Ranke sieht wohl das geschichtliche Nach¬
einander, auch viele Zusammenhänge unendlich viel klarer als jene beiden,
aber seine zentrale Leistung ist die ästhetische Wahrnehmung des jeweilig
seienden, nicht die unablässige bewußte Verfolgung des Säftelebcns der Ge¬
schichte, das unter diesen Bedingungen zu dieser Blüte, unter jenen zu jenem
Ersterben führen mußte.



Grundsatz der Kausalität zusammenhängt. Damit ist keiner Verachtung persönlichen Lebens
das Wort geredet! Den Satz Wachsmuths, den Below in anderm Zusammenhang gegen
Lnmprecht anführt, der naturwissenschaftlichen Auffassung der Geschichte entgehe "recht eigentlich
das Beste, Feinste und Höchste der Kultur," möchten wir dahin abändern: das Tiefste, wils wir
erleben, ist überhaupt ungeschichtlich, z, B. das Vollgefühl unsers Selbstlebens, das Religiöse,
jede Lust.
*) Damit erledigen sich Belows Satze: "Es kann gar kein Zweifel sei", das; die An¬
wendung des Entwicklungsbegriffs in der Geschichtswissenschaft älter ist als in der Natur¬
wissenschaft, Man darf sogar behaupten, daß Darwin in seiner Entwicklungslehre von Ver¬
tretern der Geisteswissenschaften abhängig ist. Eben deshalb, weil die Historiker den Ent¬
wicklungsbegriff früher als die Naturforscher gehabt haben, brauchen sie ihn nicht erst heute
non diesen zu holen."
Below gegen Lamprecht

lichen Ansicht der Thatsachen der Kultur. Darwin verband den Gedanken der
Geschichte mit dem der naturwissenschaftlich beobachteten und erklärten Meta¬
morphose, und so erwuchs ihm der bis dahin nur von Kant und Goethe
flüchtig geahnte, aber wieder fallen gelassene Begriff der Evolution als Grund¬
thatsache, etwas ganz neues.*) Diesen Gedanken, der von naturwissenschaftlicher
Seite nun schon lange auch auf den Menschen bezogen worden, schon tief in
die allgemeine Bildung der Gegenwart eingewachsen ist, in der Form einer
immanenten Kausalität, auch in die Geschichtswissenschaft als wissenschaft¬
lichen Grundgedanken einzuführen hält Lamprecht für notwendig.

Wo das Wort Entwicklung auf eine vordarwinische Anschauung angewandt
worden ist, deckt es sich mit Geschichte, aber nicht mit Evolution. Der Nach¬
druck liegt dann nicht auf der Kausalität, sondern der Verschiedenheit des
Nacheinander. Damit fallen alle Beispiele hin, mit denen Below das hundert¬
jährige Alter der neuen geschichtswissenschaftlichen Methode erweisen will.
Harnack nennt einmal als die, die den Begriff der „Entwicklung" „mit steigender
Klarheit" zur Geltung gebracht haben, Herder und die Romantiker, Hegel und
Ranke. Es ist unmöglich, diesem Satz einen andern Sinu zuzuschreiben als
den: durch den Einfluß Herders, der Romantiker, Hegels und Rankes haben
wir uns gewöhnt, immer nachdrücklicher und eingehender an das Geschichtliche
unsrer Kultur zu denken. Dabei hat man sich klar vor Augen zu halten, daß
bei Herder nicht die historische, sondern die biblisch-religiöse Auffassung der
Kern seiner Ansicht ist, daß bei Hegel dieser Kern sein philosophisches System
ist, zu dem das historische nur etwas aceessorisches, die Entfaltung der Teile
des bisherigen Daseins bis zur Krönung durch den absoluten Idealismus
gleichsam nur ein Gewand ist; und Ranke sieht wohl das geschichtliche Nach¬
einander, auch viele Zusammenhänge unendlich viel klarer als jene beiden,
aber seine zentrale Leistung ist die ästhetische Wahrnehmung des jeweilig
seienden, nicht die unablässige bewußte Verfolgung des Säftelebcns der Ge¬
schichte, das unter diesen Bedingungen zu dieser Blüte, unter jenen zu jenem
Ersterben führen mußte.



Grundsatz der Kausalität zusammenhängt. Damit ist keiner Verachtung persönlichen Lebens
das Wort geredet! Den Satz Wachsmuths, den Below in anderm Zusammenhang gegen
Lnmprecht anführt, der naturwissenschaftlichen Auffassung der Geschichte entgehe „recht eigentlich
das Beste, Feinste und Höchste der Kultur," möchten wir dahin abändern: das Tiefste, wils wir
erleben, ist überhaupt ungeschichtlich, z, B. das Vollgefühl unsers Selbstlebens, das Religiöse,
jede Lust.
*) Damit erledigen sich Belows Satze: „Es kann gar kein Zweifel sei», das; die An¬
wendung des Entwicklungsbegriffs in der Geschichtswissenschaft älter ist als in der Natur¬
wissenschaft, Man darf sogar behaupten, daß Darwin in seiner Entwicklungslehre von Ver¬
tretern der Geisteswissenschaften abhängig ist. Eben deshalb, weil die Historiker den Ent¬
wicklungsbegriff früher als die Naturforscher gehabt haben, brauchen sie ihn nicht erst heute
non diesen zu holen."
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[0626] Below gegen Lamprecht lichen Ansicht der Thatsachen der Kultur. Darwin verband den Gedanken der Geschichte mit dem der naturwissenschaftlich beobachteten und erklärten Meta¬ morphose, und so erwuchs ihm der bis dahin nur von Kant und Goethe flüchtig geahnte, aber wieder fallen gelassene Begriff der Evolution als Grund¬ thatsache, etwas ganz neues.*) Diesen Gedanken, der von naturwissenschaftlicher Seite nun schon lange auch auf den Menschen bezogen worden, schon tief in die allgemeine Bildung der Gegenwart eingewachsen ist, in der Form einer immanenten Kausalität, auch in die Geschichtswissenschaft als wissenschaft¬ lichen Grundgedanken einzuführen hält Lamprecht für notwendig. Wo das Wort Entwicklung auf eine vordarwinische Anschauung angewandt worden ist, deckt es sich mit Geschichte, aber nicht mit Evolution. Der Nach¬ druck liegt dann nicht auf der Kausalität, sondern der Verschiedenheit des Nacheinander. Damit fallen alle Beispiele hin, mit denen Below das hundert¬ jährige Alter der neuen geschichtswissenschaftlichen Methode erweisen will. Harnack nennt einmal als die, die den Begriff der „Entwicklung" „mit steigender Klarheit" zur Geltung gebracht haben, Herder und die Romantiker, Hegel und Ranke. Es ist unmöglich, diesem Satz einen andern Sinu zuzuschreiben als den: durch den Einfluß Herders, der Romantiker, Hegels und Rankes haben wir uns gewöhnt, immer nachdrücklicher und eingehender an das Geschichtliche unsrer Kultur zu denken. Dabei hat man sich klar vor Augen zu halten, daß bei Herder nicht die historische, sondern die biblisch-religiöse Auffassung der Kern seiner Ansicht ist, daß bei Hegel dieser Kern sein philosophisches System ist, zu dem das historische nur etwas aceessorisches, die Entfaltung der Teile des bisherigen Daseins bis zur Krönung durch den absoluten Idealismus gleichsam nur ein Gewand ist; und Ranke sieht wohl das geschichtliche Nach¬ einander, auch viele Zusammenhänge unendlich viel klarer als jene beiden, aber seine zentrale Leistung ist die ästhetische Wahrnehmung des jeweilig seienden, nicht die unablässige bewußte Verfolgung des Säftelebcns der Ge¬ schichte, das unter diesen Bedingungen zu dieser Blüte, unter jenen zu jenem Ersterben führen mußte. Grundsatz der Kausalität zusammenhängt. Damit ist keiner Verachtung persönlichen Lebens das Wort geredet! Den Satz Wachsmuths, den Below in anderm Zusammenhang gegen Lnmprecht anführt, der naturwissenschaftlichen Auffassung der Geschichte entgehe „recht eigentlich das Beste, Feinste und Höchste der Kultur," möchten wir dahin abändern: das Tiefste, wils wir erleben, ist überhaupt ungeschichtlich, z, B. das Vollgefühl unsers Selbstlebens, das Religiöse, jede Lust. *) Damit erledigen sich Belows Satze: „Es kann gar kein Zweifel sei», das; die An¬ wendung des Entwicklungsbegriffs in der Geschichtswissenschaft älter ist als in der Natur¬ wissenschaft, Man darf sogar behaupten, daß Darwin in seiner Entwicklungslehre von Ver¬ tretern der Geisteswissenschaften abhängig ist. Eben deshalb, weil die Historiker den Ent¬ wicklungsbegriff früher als die Naturforscher gehabt haben, brauchen sie ihn nicht erst heute non diesen zu holen."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/626>, abgerufen am 06.06.2024.