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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Ein neuer Streiter wider den Naturalismus

Ihnen widmet Pietschker die zweite, für viele Leser vielleicht wertvollere
Hälfte seines Buchs, die eine vortreffliche Übersicht über die moderne Kunst¬
bewegung bietet, die durch Max Liebermann, Klinger, F. v. Abbe, Franz Stuck,
Exter, L. v- Hofmann, Walter Leistikow u. a. vertreten wird. Für die Partei¬
gänger dieser Künstler und ihrer Richtung ist diese Darstellung natürlich nicht
bestimmt. Sie will nur auf das unbefangne Publikum wirken und ihm die
Augen über den Abgrund öffnen, vor dem unsre Kunst steht. Es ist die
höchste Zeit dazu, da die große Masse des Publikums sichtlich durch einen
beträchtlichen Teil der Tagespresse irregeleitet wird, deren Kunstkritiker mit
und ohne Überzeugung der Parole des Tages: "Modern um jeden Preis"
folgen. Der Verfasser dieser Zeilen hat die Freude, in der Darstellung
Pietschkers einen Wiederhall der Meinungen zu sehen, die er hier und an
andern Orten ausgesprochen und vertreten hat. Pietschker hat noch manches
tiefer begründet, und er konnte sich auch in seinem geschichtlichen Rückblick auf
eine höhere Warte stellen, als es der Kunstkritiker vermag, der über die Er¬
scheinungen des Tages in schneller Formulirung seiner Gedanken zu berichten
und zu urteilen hat. Die Freude ist um so größer, als das schnell gefällte
Urteil durch die seitdem verflossene Zeit noch nicht erschüttert worden ist, und
Pietschker, der viel gesehen und gelesen hat und sich ehrlich bemüht, allen Rich¬
tungen in der Kunst mit Wohlwollen und Verständnis, aus ehrlichem Herzen
entgegenzukommen, hat keine Veranlassung gehabt, anch die schärfsten Urteile
zu mildern oder zu berichtigen. Im Gegenteil! Was uns noch vor fünf oder
sechs Jahren höchst wichtig vorkam oder gar als ein Zeichen der Zeit an¬
gesehen und -- je nach dem Standpunkte des Kritikers -- bekämpft oder ge¬
priesen wurde, erscheint uns schon heute kleinlich, bedeutungslos, bisweilen
sogar lächerlich. Bei einem Rückblick darauf muß ich selbst bekennen, daß ich
nicht selten durch den Eifer, einer, wie ich glaubte und noch glaube, guten
Sache zu dienen, verleitet worden bin, auf Spatzen mit Kanonen zu schießen.
Im Streite der Tagesmeinungen hat man aber nicht Zeit, seine Kampfesmittel
sorgfältig zu prüfen; man hat aber auch nicht die Verpflichtung dazu, weil
die Tageskritik nur soweit reicht, als sie sachlich und sittlich berechtigt ist. Die
ausgleichende Gerechtigkeit übt die Geschichte -- auch gegen die Kritik, wenn
sie Übergriffe begangen hat, mögen sie auch noch so lautern Beweggründen
entsprungen sein.

Es ist darum ein überflüssiges Geschäft und auch eine Überhebung, dem
Urteil der Geschichte vorzugreifen, selbst wenn eine Erfahrung von zehn oder
gar zwanzig Jahren das Recht dazu zu geben scheint. Wer aber in unsrer
Zeit, wo die religiösen, sittlichen und ästhetischen Begriffe arg ins Schwanken
geraten sind, noch an unverrückbaren Idealen festhält, der kann der Versuchung
nicht widerstehen, seine Wünsche und Hoffnungen in Prophezeiungen aus¬
zusprechen. Auch Pietschker hat es nicht vermocht. Er fühlte offenbar das


Ein neuer Streiter wider den Naturalismus

Ihnen widmet Pietschker die zweite, für viele Leser vielleicht wertvollere
Hälfte seines Buchs, die eine vortreffliche Übersicht über die moderne Kunst¬
bewegung bietet, die durch Max Liebermann, Klinger, F. v. Abbe, Franz Stuck,
Exter, L. v- Hofmann, Walter Leistikow u. a. vertreten wird. Für die Partei¬
gänger dieser Künstler und ihrer Richtung ist diese Darstellung natürlich nicht
bestimmt. Sie will nur auf das unbefangne Publikum wirken und ihm die
Augen über den Abgrund öffnen, vor dem unsre Kunst steht. Es ist die
höchste Zeit dazu, da die große Masse des Publikums sichtlich durch einen
beträchtlichen Teil der Tagespresse irregeleitet wird, deren Kunstkritiker mit
und ohne Überzeugung der Parole des Tages: „Modern um jeden Preis"
folgen. Der Verfasser dieser Zeilen hat die Freude, in der Darstellung
Pietschkers einen Wiederhall der Meinungen zu sehen, die er hier und an
andern Orten ausgesprochen und vertreten hat. Pietschker hat noch manches
tiefer begründet, und er konnte sich auch in seinem geschichtlichen Rückblick auf
eine höhere Warte stellen, als es der Kunstkritiker vermag, der über die Er¬
scheinungen des Tages in schneller Formulirung seiner Gedanken zu berichten
und zu urteilen hat. Die Freude ist um so größer, als das schnell gefällte
Urteil durch die seitdem verflossene Zeit noch nicht erschüttert worden ist, und
Pietschker, der viel gesehen und gelesen hat und sich ehrlich bemüht, allen Rich¬
tungen in der Kunst mit Wohlwollen und Verständnis, aus ehrlichem Herzen
entgegenzukommen, hat keine Veranlassung gehabt, anch die schärfsten Urteile
zu mildern oder zu berichtigen. Im Gegenteil! Was uns noch vor fünf oder
sechs Jahren höchst wichtig vorkam oder gar als ein Zeichen der Zeit an¬
gesehen und — je nach dem Standpunkte des Kritikers — bekämpft oder ge¬
priesen wurde, erscheint uns schon heute kleinlich, bedeutungslos, bisweilen
sogar lächerlich. Bei einem Rückblick darauf muß ich selbst bekennen, daß ich
nicht selten durch den Eifer, einer, wie ich glaubte und noch glaube, guten
Sache zu dienen, verleitet worden bin, auf Spatzen mit Kanonen zu schießen.
Im Streite der Tagesmeinungen hat man aber nicht Zeit, seine Kampfesmittel
sorgfältig zu prüfen; man hat aber auch nicht die Verpflichtung dazu, weil
die Tageskritik nur soweit reicht, als sie sachlich und sittlich berechtigt ist. Die
ausgleichende Gerechtigkeit übt die Geschichte — auch gegen die Kritik, wenn
sie Übergriffe begangen hat, mögen sie auch noch so lautern Beweggründen
entsprungen sein.

Es ist darum ein überflüssiges Geschäft und auch eine Überhebung, dem
Urteil der Geschichte vorzugreifen, selbst wenn eine Erfahrung von zehn oder
gar zwanzig Jahren das Recht dazu zu geben scheint. Wer aber in unsrer
Zeit, wo die religiösen, sittlichen und ästhetischen Begriffe arg ins Schwanken
geraten sind, noch an unverrückbaren Idealen festhält, der kann der Versuchung
nicht widerstehen, seine Wünsche und Hoffnungen in Prophezeiungen aus¬
zusprechen. Auch Pietschker hat es nicht vermocht. Er fühlte offenbar das


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[0325] Ein neuer Streiter wider den Naturalismus Ihnen widmet Pietschker die zweite, für viele Leser vielleicht wertvollere Hälfte seines Buchs, die eine vortreffliche Übersicht über die moderne Kunst¬ bewegung bietet, die durch Max Liebermann, Klinger, F. v. Abbe, Franz Stuck, Exter, L. v- Hofmann, Walter Leistikow u. a. vertreten wird. Für die Partei¬ gänger dieser Künstler und ihrer Richtung ist diese Darstellung natürlich nicht bestimmt. Sie will nur auf das unbefangne Publikum wirken und ihm die Augen über den Abgrund öffnen, vor dem unsre Kunst steht. Es ist die höchste Zeit dazu, da die große Masse des Publikums sichtlich durch einen beträchtlichen Teil der Tagespresse irregeleitet wird, deren Kunstkritiker mit und ohne Überzeugung der Parole des Tages: „Modern um jeden Preis" folgen. Der Verfasser dieser Zeilen hat die Freude, in der Darstellung Pietschkers einen Wiederhall der Meinungen zu sehen, die er hier und an andern Orten ausgesprochen und vertreten hat. Pietschker hat noch manches tiefer begründet, und er konnte sich auch in seinem geschichtlichen Rückblick auf eine höhere Warte stellen, als es der Kunstkritiker vermag, der über die Er¬ scheinungen des Tages in schneller Formulirung seiner Gedanken zu berichten und zu urteilen hat. Die Freude ist um so größer, als das schnell gefällte Urteil durch die seitdem verflossene Zeit noch nicht erschüttert worden ist, und Pietschker, der viel gesehen und gelesen hat und sich ehrlich bemüht, allen Rich¬ tungen in der Kunst mit Wohlwollen und Verständnis, aus ehrlichem Herzen entgegenzukommen, hat keine Veranlassung gehabt, anch die schärfsten Urteile zu mildern oder zu berichtigen. Im Gegenteil! Was uns noch vor fünf oder sechs Jahren höchst wichtig vorkam oder gar als ein Zeichen der Zeit an¬ gesehen und — je nach dem Standpunkte des Kritikers — bekämpft oder ge¬ priesen wurde, erscheint uns schon heute kleinlich, bedeutungslos, bisweilen sogar lächerlich. Bei einem Rückblick darauf muß ich selbst bekennen, daß ich nicht selten durch den Eifer, einer, wie ich glaubte und noch glaube, guten Sache zu dienen, verleitet worden bin, auf Spatzen mit Kanonen zu schießen. Im Streite der Tagesmeinungen hat man aber nicht Zeit, seine Kampfesmittel sorgfältig zu prüfen; man hat aber auch nicht die Verpflichtung dazu, weil die Tageskritik nur soweit reicht, als sie sachlich und sittlich berechtigt ist. Die ausgleichende Gerechtigkeit übt die Geschichte — auch gegen die Kritik, wenn sie Übergriffe begangen hat, mögen sie auch noch so lautern Beweggründen entsprungen sein. Es ist darum ein überflüssiges Geschäft und auch eine Überhebung, dem Urteil der Geschichte vorzugreifen, selbst wenn eine Erfahrung von zehn oder gar zwanzig Jahren das Recht dazu zu geben scheint. Wer aber in unsrer Zeit, wo die religiösen, sittlichen und ästhetischen Begriffe arg ins Schwanken geraten sind, noch an unverrückbaren Idealen festhält, der kann der Versuchung nicht widerstehen, seine Wünsche und Hoffnungen in Prophezeiungen aus¬ zusprechen. Auch Pietschker hat es nicht vermocht. Er fühlte offenbar das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/325>, abgerufen am 16.05.2024.