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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Die imperialistische Bewegung in England

perialismns daneben noch amerikanisch, afrikanisch und australisch sei. Allein
man vergißt, daß in keinem andern Lande außer Indien damals etwas ge¬
schehen konnte. Die Ausrufung der Königin zur Kaiserin von Indien, die
Beorderung indischer Truppen nach Europa und der Gewinn Cyperns, einer
so wichtigen Station auf dem Wege nach Indien, wurden in den Kolonien
weit mehr als im Mutterlande gewürdigt und erweckten dort wieder das
Gefühl, daß man ihnen und auch ihren Gefühlen Rechnung trage. Wenigstens
hat Disraeli immer das Vertrauen und die Shmpathien der Kolonien be¬
sessen, und sein Hingang wurde dort besonders lebhaft beklagt. Nicht zu
unterschätzen ist es auch wohl, daß er die Königin mehr zum Hervortreten
bewog und statt der wechselnden Parlnmentsmehrheiten und der von ihnen
gelieferten Minister sie als den sichtbaren Mittelpunkt des Reiches hinstellte.
Daß die Königin in dem weiten Reiche, über das sie gebietet, erheblich mehr
bedeutet, als wir Festländer anzunehmen geneigt sind, und daß die ihr ge¬
widmete Liebe und Verehrung auch dem Reichsgedanke" sehr zu gute kommt,
zeigte sich bei der funfzigjährigen und mehr noch bei der sechzigjährigen Feier
ihres Regierungsantritts.

Als wissenschaftlicher Vertreter des britischen Reichsgedankens verdient
besonders der Historiker Seeleh, uns Deutschen durch sein Buch über Stein
wert, genannt zu werden/") Im Jahre 1883, zwei Jahre nach Bweonsfields
Tode, veröffentlichte er seine in Cambridge gehaltnen Vorlesungen über die
Ausdehnung Englands ('I'bu Expansion ot' M^la-mal). Er untersucht hier sehr
gründlich die Geschichte und Zukunft des britischen Imperiums. Nach ihm muß
zwischen Indien, das durch Nationalität, Sprache und Religion von England
getrennt ist, und den andern Kolonien unterschieden werden, die im wesent¬
lichen durch Gemeinsamkeit des Blutes, der Religion und der Interessen mit
dem Mutterlande verbunden sind. Auf diesen, nicht auf dem Besitz Indiens
beruht nach Seeleh die Zukunft des britischen Reiches. Grundlos scheint ihm
die Befürchtung, daß es in der Natur der Dinge liege, daß sich das Mutter¬
land und die Kolonien mit zunehmender Entwicklung dieser immer mehr von
einander entfernen müßten, und daß darum auch der Verlust der englischen
Kolonien bevorstehe. Das Beispiel Nordamerikas hält er nicht sür einen
Beweis. Denn einmal herrscht jetzt nicht mehr das alte Kolonialshstem, das
bloß auf Haudelsvorteile für das Mutterland bedacht war, nud dann lagen in Nord¬
amerika von Hans ans die Dinge weniger günstig. Um ihres Glaubens willen
hatten die Auswanderer England verlassen und sahen darum von Anfang an mit
weniger freundlichen Gefühlen auf England zurück, als die meisten derer, die



°) Da ein": Beschränkung auf wenige Männer nötig war, die eine bestimmte Seite der
imperialistischen Bewegung gut veranschaulichen, können wir hier nur Sir Charles Dille
(^re-reor Lrlt-na und ?robtoms ot flrsatsr öritmri) und Fronde (0'0irn!>) flüchtig erwähnen.
Die imperialistische Bewegung in England

perialismns daneben noch amerikanisch, afrikanisch und australisch sei. Allein
man vergißt, daß in keinem andern Lande außer Indien damals etwas ge¬
schehen konnte. Die Ausrufung der Königin zur Kaiserin von Indien, die
Beorderung indischer Truppen nach Europa und der Gewinn Cyperns, einer
so wichtigen Station auf dem Wege nach Indien, wurden in den Kolonien
weit mehr als im Mutterlande gewürdigt und erweckten dort wieder das
Gefühl, daß man ihnen und auch ihren Gefühlen Rechnung trage. Wenigstens
hat Disraeli immer das Vertrauen und die Shmpathien der Kolonien be¬
sessen, und sein Hingang wurde dort besonders lebhaft beklagt. Nicht zu
unterschätzen ist es auch wohl, daß er die Königin mehr zum Hervortreten
bewog und statt der wechselnden Parlnmentsmehrheiten und der von ihnen
gelieferten Minister sie als den sichtbaren Mittelpunkt des Reiches hinstellte.
Daß die Königin in dem weiten Reiche, über das sie gebietet, erheblich mehr
bedeutet, als wir Festländer anzunehmen geneigt sind, und daß die ihr ge¬
widmete Liebe und Verehrung auch dem Reichsgedanke» sehr zu gute kommt,
zeigte sich bei der funfzigjährigen und mehr noch bei der sechzigjährigen Feier
ihres Regierungsantritts.

Als wissenschaftlicher Vertreter des britischen Reichsgedankens verdient
besonders der Historiker Seeleh, uns Deutschen durch sein Buch über Stein
wert, genannt zu werden/") Im Jahre 1883, zwei Jahre nach Bweonsfields
Tode, veröffentlichte er seine in Cambridge gehaltnen Vorlesungen über die
Ausdehnung Englands ('I'bu Expansion ot' M^la-mal). Er untersucht hier sehr
gründlich die Geschichte und Zukunft des britischen Imperiums. Nach ihm muß
zwischen Indien, das durch Nationalität, Sprache und Religion von England
getrennt ist, und den andern Kolonien unterschieden werden, die im wesent¬
lichen durch Gemeinsamkeit des Blutes, der Religion und der Interessen mit
dem Mutterlande verbunden sind. Auf diesen, nicht auf dem Besitz Indiens
beruht nach Seeleh die Zukunft des britischen Reiches. Grundlos scheint ihm
die Befürchtung, daß es in der Natur der Dinge liege, daß sich das Mutter¬
land und die Kolonien mit zunehmender Entwicklung dieser immer mehr von
einander entfernen müßten, und daß darum auch der Verlust der englischen
Kolonien bevorstehe. Das Beispiel Nordamerikas hält er nicht sür einen
Beweis. Denn einmal herrscht jetzt nicht mehr das alte Kolonialshstem, das
bloß auf Haudelsvorteile für das Mutterland bedacht war, nud dann lagen in Nord¬
amerika von Hans ans die Dinge weniger günstig. Um ihres Glaubens willen
hatten die Auswanderer England verlassen und sahen darum von Anfang an mit
weniger freundlichen Gefühlen auf England zurück, als die meisten derer, die



°) Da ein«: Beschränkung auf wenige Männer nötig war, die eine bestimmte Seite der
imperialistischen Bewegung gut veranschaulichen, können wir hier nur Sir Charles Dille
(^re-reor Lrlt-na und ?robtoms ot flrsatsr öritmri) und Fronde (0'0irn!>) flüchtig erwähnen.
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[0028] Die imperialistische Bewegung in England perialismns daneben noch amerikanisch, afrikanisch und australisch sei. Allein man vergißt, daß in keinem andern Lande außer Indien damals etwas ge¬ schehen konnte. Die Ausrufung der Königin zur Kaiserin von Indien, die Beorderung indischer Truppen nach Europa und der Gewinn Cyperns, einer so wichtigen Station auf dem Wege nach Indien, wurden in den Kolonien weit mehr als im Mutterlande gewürdigt und erweckten dort wieder das Gefühl, daß man ihnen und auch ihren Gefühlen Rechnung trage. Wenigstens hat Disraeli immer das Vertrauen und die Shmpathien der Kolonien be¬ sessen, und sein Hingang wurde dort besonders lebhaft beklagt. Nicht zu unterschätzen ist es auch wohl, daß er die Königin mehr zum Hervortreten bewog und statt der wechselnden Parlnmentsmehrheiten und der von ihnen gelieferten Minister sie als den sichtbaren Mittelpunkt des Reiches hinstellte. Daß die Königin in dem weiten Reiche, über das sie gebietet, erheblich mehr bedeutet, als wir Festländer anzunehmen geneigt sind, und daß die ihr ge¬ widmete Liebe und Verehrung auch dem Reichsgedanke» sehr zu gute kommt, zeigte sich bei der funfzigjährigen und mehr noch bei der sechzigjährigen Feier ihres Regierungsantritts. Als wissenschaftlicher Vertreter des britischen Reichsgedankens verdient besonders der Historiker Seeleh, uns Deutschen durch sein Buch über Stein wert, genannt zu werden/") Im Jahre 1883, zwei Jahre nach Bweonsfields Tode, veröffentlichte er seine in Cambridge gehaltnen Vorlesungen über die Ausdehnung Englands ('I'bu Expansion ot' M^la-mal). Er untersucht hier sehr gründlich die Geschichte und Zukunft des britischen Imperiums. Nach ihm muß zwischen Indien, das durch Nationalität, Sprache und Religion von England getrennt ist, und den andern Kolonien unterschieden werden, die im wesent¬ lichen durch Gemeinsamkeit des Blutes, der Religion und der Interessen mit dem Mutterlande verbunden sind. Auf diesen, nicht auf dem Besitz Indiens beruht nach Seeleh die Zukunft des britischen Reiches. Grundlos scheint ihm die Befürchtung, daß es in der Natur der Dinge liege, daß sich das Mutter¬ land und die Kolonien mit zunehmender Entwicklung dieser immer mehr von einander entfernen müßten, und daß darum auch der Verlust der englischen Kolonien bevorstehe. Das Beispiel Nordamerikas hält er nicht sür einen Beweis. Denn einmal herrscht jetzt nicht mehr das alte Kolonialshstem, das bloß auf Haudelsvorteile für das Mutterland bedacht war, nud dann lagen in Nord¬ amerika von Hans ans die Dinge weniger günstig. Um ihres Glaubens willen hatten die Auswanderer England verlassen und sahen darum von Anfang an mit weniger freundlichen Gefühlen auf England zurück, als die meisten derer, die °) Da ein«: Beschränkung auf wenige Männer nötig war, die eine bestimmte Seite der imperialistischen Bewegung gut veranschaulichen, können wir hier nur Sir Charles Dille (^re-reor Lrlt-na und ?robtoms ot flrsatsr öritmri) und Fronde (0'0irn!>) flüchtig erwähnen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/28>, abgerufen am 27.05.2024.