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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Gerhart Hauxtmann und sein Biograph

aus dem wirklichen Leben, die unter dem Titel "Papa Hamlet" zusammen¬
gefaßt sind, die Augen aufgingen.

Schlenther schildert diesen Entwicklungsgang, worin ein Stück modernster
Litteraturgeschichte w nuos liegt, folgendermaßen: "Holz ging in seiner Papa-
Hamletdoktrin vom Naturalismus Zolas aus. Er that damit an sich ein
rühmeuswertcs Werk. Er überwand die sogenannte neue Schule, in deren
laute Lärmtrompete am schrillsten der Größenwahn Karl Bleibtreus blies. Er
überwand diesen lächerlichen Pseudorealismus, der mit Zolas Naturanschauung
nicht das mindeste zu schaffen hatte und sehr bald an seiner eignen Aufgeblasen¬
heit zerplatzte. Arno Holz trat auf solidern Wegen dem Hyperästhetizismus
und Superklassizismus früherer Generationen entgegen. Seine und Schlafs
treuen Kopien des scharf beobachteten Kleinlebens waren nicht nur tüchtig,
sondern auch eine zeitgeschichtliche Notwendigkeit, weil sie die Dichtkunst fester
an den allgemeinen Geist des modernen Lebens banden. Überall hatte die
rauhe Wirklichkeit stark in die Seelen der Menschen eingegriffen. Bismarcks
Realpolitik, die soziale Forderung des Proletariats, der induktive, detaillierende
Grundzug moderner wissenschaftlicher Forschung, die Lehre von der Entwicklung
aller Dinge, die gesteigerte Wertschätzung statistischen Materials, die großen
Schöpfungen ausländischer Wirklichkeitsdichter und Seelenergründer -- dies
alles wirkte zusammen, um auch in der deutschen Litteratur die Notwendigkeit
einer realistischen Darstellungsweise zur Geltung zu bringen."

Was hier an wichtigen Einzelheiten zusammengetragen ist, entspricht im
allgemeinen den Thatsachen, jedoch das Wichtigste ist nicht hervorgehoben. Es
besteht in der einseitigen Übertreibung halb- und mißverstandner und falsch
popularisierter und verallgemeinerter Ergebnisse oder vielmehr Theorien und
Hypothesen der Naturwissenschaft und der Naturphilosophie, wie der Entwick-
lungs- und Vererbungslehre, und vor allem in der Auffassung der Natur als
einer lediglich materiellen, in der der Mensch ausschließlich ein Produkt seiner
Entstehung und der ihn umgebenden Verhältnisse und Umstünde ist, die Be¬
trachtung der Welt als einer entgeisteten und entgöttlichten. Man kann nicht
sagen, daß diese Welt- und Kunstanschauung Hauptmann erst von Holz ein¬
geimpft worden sei. Schon seit dem Besuch der Jenenser Universität und der
Berührung mit Haeckel, sicher seit 1884 zeigte er eine gewisse Neigung zum
Naturalismus, der sich merkwürdigerweise zunächst immer mit einer Hinneigung
zur Hefe des Volkes, dem Mitleid mit dem Elend und Leiden der Niedrigen
verbindet, worin seine beste Seite hervortritt. Schlenther weist darauf hin,
wie er schon in dem erwähnten Promethidenlos einen Blick in jene Welt ge¬
worfen und sie mit den saftigen Farben des neuen Stils geschildert hatte:


Gerhart Hauxtmann und sein Biograph

aus dem wirklichen Leben, die unter dem Titel „Papa Hamlet" zusammen¬
gefaßt sind, die Augen aufgingen.

Schlenther schildert diesen Entwicklungsgang, worin ein Stück modernster
Litteraturgeschichte w nuos liegt, folgendermaßen: „Holz ging in seiner Papa-
Hamletdoktrin vom Naturalismus Zolas aus. Er that damit an sich ein
rühmeuswertcs Werk. Er überwand die sogenannte neue Schule, in deren
laute Lärmtrompete am schrillsten der Größenwahn Karl Bleibtreus blies. Er
überwand diesen lächerlichen Pseudorealismus, der mit Zolas Naturanschauung
nicht das mindeste zu schaffen hatte und sehr bald an seiner eignen Aufgeblasen¬
heit zerplatzte. Arno Holz trat auf solidern Wegen dem Hyperästhetizismus
und Superklassizismus früherer Generationen entgegen. Seine und Schlafs
treuen Kopien des scharf beobachteten Kleinlebens waren nicht nur tüchtig,
sondern auch eine zeitgeschichtliche Notwendigkeit, weil sie die Dichtkunst fester
an den allgemeinen Geist des modernen Lebens banden. Überall hatte die
rauhe Wirklichkeit stark in die Seelen der Menschen eingegriffen. Bismarcks
Realpolitik, die soziale Forderung des Proletariats, der induktive, detaillierende
Grundzug moderner wissenschaftlicher Forschung, die Lehre von der Entwicklung
aller Dinge, die gesteigerte Wertschätzung statistischen Materials, die großen
Schöpfungen ausländischer Wirklichkeitsdichter und Seelenergründer — dies
alles wirkte zusammen, um auch in der deutschen Litteratur die Notwendigkeit
einer realistischen Darstellungsweise zur Geltung zu bringen."

Was hier an wichtigen Einzelheiten zusammengetragen ist, entspricht im
allgemeinen den Thatsachen, jedoch das Wichtigste ist nicht hervorgehoben. Es
besteht in der einseitigen Übertreibung halb- und mißverstandner und falsch
popularisierter und verallgemeinerter Ergebnisse oder vielmehr Theorien und
Hypothesen der Naturwissenschaft und der Naturphilosophie, wie der Entwick-
lungs- und Vererbungslehre, und vor allem in der Auffassung der Natur als
einer lediglich materiellen, in der der Mensch ausschließlich ein Produkt seiner
Entstehung und der ihn umgebenden Verhältnisse und Umstünde ist, die Be¬
trachtung der Welt als einer entgeisteten und entgöttlichten. Man kann nicht
sagen, daß diese Welt- und Kunstanschauung Hauptmann erst von Holz ein¬
geimpft worden sei. Schon seit dem Besuch der Jenenser Universität und der
Berührung mit Haeckel, sicher seit 1884 zeigte er eine gewisse Neigung zum
Naturalismus, der sich merkwürdigerweise zunächst immer mit einer Hinneigung
zur Hefe des Volkes, dem Mitleid mit dem Elend und Leiden der Niedrigen
verbindet, worin seine beste Seite hervortritt. Schlenther weist darauf hin,
wie er schon in dem erwähnten Promethidenlos einen Blick in jene Welt ge¬
worfen und sie mit den saftigen Farben des neuen Stils geschildert hatte:


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[0042] Gerhart Hauxtmann und sein Biograph aus dem wirklichen Leben, die unter dem Titel „Papa Hamlet" zusammen¬ gefaßt sind, die Augen aufgingen. Schlenther schildert diesen Entwicklungsgang, worin ein Stück modernster Litteraturgeschichte w nuos liegt, folgendermaßen: „Holz ging in seiner Papa- Hamletdoktrin vom Naturalismus Zolas aus. Er that damit an sich ein rühmeuswertcs Werk. Er überwand die sogenannte neue Schule, in deren laute Lärmtrompete am schrillsten der Größenwahn Karl Bleibtreus blies. Er überwand diesen lächerlichen Pseudorealismus, der mit Zolas Naturanschauung nicht das mindeste zu schaffen hatte und sehr bald an seiner eignen Aufgeblasen¬ heit zerplatzte. Arno Holz trat auf solidern Wegen dem Hyperästhetizismus und Superklassizismus früherer Generationen entgegen. Seine und Schlafs treuen Kopien des scharf beobachteten Kleinlebens waren nicht nur tüchtig, sondern auch eine zeitgeschichtliche Notwendigkeit, weil sie die Dichtkunst fester an den allgemeinen Geist des modernen Lebens banden. Überall hatte die rauhe Wirklichkeit stark in die Seelen der Menschen eingegriffen. Bismarcks Realpolitik, die soziale Forderung des Proletariats, der induktive, detaillierende Grundzug moderner wissenschaftlicher Forschung, die Lehre von der Entwicklung aller Dinge, die gesteigerte Wertschätzung statistischen Materials, die großen Schöpfungen ausländischer Wirklichkeitsdichter und Seelenergründer — dies alles wirkte zusammen, um auch in der deutschen Litteratur die Notwendigkeit einer realistischen Darstellungsweise zur Geltung zu bringen." Was hier an wichtigen Einzelheiten zusammengetragen ist, entspricht im allgemeinen den Thatsachen, jedoch das Wichtigste ist nicht hervorgehoben. Es besteht in der einseitigen Übertreibung halb- und mißverstandner und falsch popularisierter und verallgemeinerter Ergebnisse oder vielmehr Theorien und Hypothesen der Naturwissenschaft und der Naturphilosophie, wie der Entwick- lungs- und Vererbungslehre, und vor allem in der Auffassung der Natur als einer lediglich materiellen, in der der Mensch ausschließlich ein Produkt seiner Entstehung und der ihn umgebenden Verhältnisse und Umstünde ist, die Be¬ trachtung der Welt als einer entgeisteten und entgöttlichten. Man kann nicht sagen, daß diese Welt- und Kunstanschauung Hauptmann erst von Holz ein¬ geimpft worden sei. Schon seit dem Besuch der Jenenser Universität und der Berührung mit Haeckel, sicher seit 1884 zeigte er eine gewisse Neigung zum Naturalismus, der sich merkwürdigerweise zunächst immer mit einer Hinneigung zur Hefe des Volkes, dem Mitleid mit dem Elend und Leiden der Niedrigen verbindet, worin seine beste Seite hervortritt. Schlenther weist darauf hin, wie er schon in dem erwähnten Promethidenlos einen Blick in jene Welt ge¬ worfen und sie mit den saftigen Farben des neuen Stils geschildert hatte:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/42>, abgerufen am 19.05.2024.