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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Reinhold

wünschen; mit andern Worten: bei der Voraussetzung eines unversöhnlichen
Interessengegensatzes ist Wohl der Spartanerstaat möglich, dessen Bürger über
eine große Zahl von Zinsbauern und Heloten verfügen, aber uicht der mo¬
derne Rechtsstaat, der allen männlichen Einwohnern das Vollbürgerrecht zu¬
gesteht. Nämlich er ist nicht möglich, wenn er aus dem Gemeinwillen ruhen
soll. Einen solchen Geineinwillen giebt es nicht und kann es namentlich in
wirtschaftlichen Dingen nicht geben. Es kann einen solchen nur geben in Be¬
ziehung auf zwei Dinge. Die Mehrheit, nicht die Gesamtheit des Volkes kann
entschlossen sein, jeden feindlichen Einfall mit Waffengewalt abzuwehren, und
die Mehrheit kann jedem Versuch abgeneigt sein, den wirtschaftlichen und sozialen
Kampf mit körperlichen Gewaltmitteln auszufechten, indem sie der Ansicht ist,
daß die nun einmal bestehende bürgerliche Ordnung, so unvollkommen sie sein
mag, besser ist als gar keine Ordnung. Wenn wir trotz wütender Interessen-
t'ämpfe den Staat haben, und zwar einen recht festen Staat, so verdanken wir
das nicht dem Gemeinwillen, sondern den historisch gewordnen Gewalten:
Dynastie, Bureaukratie nud Heer, und dem Umstände, daß diese drei Gewalten,
wenn auch nicht ohne engere Beziehung zu gewissen Interessentengruppen, doch
nicht völlig von diesen abhängig sind und wenigstens grundsätzlich unparteiisch
zu sein sich bemühen. Und die Schule, in der die leitenden Männer zu dieser
Stellung über den Parteien erzogen worden sind, ist eben die Wissenschaft
jener Gelehrten, denen es Reinhold zum Vorwurf macht, daß sie, ohne Partei
zu sein, über den Parteikampf mitreden. Ein auch die wirtschaftliche!? An¬
gelegenheiten umfassender Gescimtwillc wäre nur dann möglich, wenn das Ideal
oder die Utopie der Sozialisten verwirklicht würde, d. h. wenn eine organisierte
und vou einer Zentralbehörde beherrschte Produktious- und Vcrtcilnngsordnung
alle ohne Ausnahme zufrieden stellte. Soll trotz bestehender Interessengegen¬
sätze ein verhältnismäßig umfassender Gesnmtwille zu stände kommen, so muß
die Mehrheit überzeugt sein, daß sie immer noch am besten fährt, wenn sie
einen Teil ihrer wirtschaftlichen Selbständigkeit opfert und sich eine weitgehende
Beaufsichtigung und Regelung durch den Staat, das ist deu Staatssozialismus,
gefallen läßt. Vorläufig bejahen die bürgerlichen Parteien den Staat in der
Weise, daß ihn jede von ihnen in ihre Gewalt zu bekommen und ihren Inter¬
essen dienstbar zu machen sucht; daß das keiner einzelnen von ihnen gelingen
kann, hat Reinhold selbst an den Agrariern sehr gut gezeigt. Wenn er es be¬
dauert, daß die Agrarier die Bildung eines Gesamtwillens oder Staatswillens
verhinderten, so bedauert er damit, daß die Welt ist, wie sie ist, diese selbe
Welt, von der er bewiesen hat, daß sie nicht anders sein könne, als sie ist.

Nicht ganz so harmlos wie diese Gedankenlosigkeit ist es, wenn er die
viel getadelten Gelehrten anklagt, daß sie einen Teil der Besitzenden im Ge¬
wissen irre gemacht und dadurch die Bildung des Staatswillens erschwert


Reinhold

wünschen; mit andern Worten: bei der Voraussetzung eines unversöhnlichen
Interessengegensatzes ist Wohl der Spartanerstaat möglich, dessen Bürger über
eine große Zahl von Zinsbauern und Heloten verfügen, aber uicht der mo¬
derne Rechtsstaat, der allen männlichen Einwohnern das Vollbürgerrecht zu¬
gesteht. Nämlich er ist nicht möglich, wenn er aus dem Gemeinwillen ruhen
soll. Einen solchen Geineinwillen giebt es nicht und kann es namentlich in
wirtschaftlichen Dingen nicht geben. Es kann einen solchen nur geben in Be¬
ziehung auf zwei Dinge. Die Mehrheit, nicht die Gesamtheit des Volkes kann
entschlossen sein, jeden feindlichen Einfall mit Waffengewalt abzuwehren, und
die Mehrheit kann jedem Versuch abgeneigt sein, den wirtschaftlichen und sozialen
Kampf mit körperlichen Gewaltmitteln auszufechten, indem sie der Ansicht ist,
daß die nun einmal bestehende bürgerliche Ordnung, so unvollkommen sie sein
mag, besser ist als gar keine Ordnung. Wenn wir trotz wütender Interessen-
t'ämpfe den Staat haben, und zwar einen recht festen Staat, so verdanken wir
das nicht dem Gemeinwillen, sondern den historisch gewordnen Gewalten:
Dynastie, Bureaukratie nud Heer, und dem Umstände, daß diese drei Gewalten,
wenn auch nicht ohne engere Beziehung zu gewissen Interessentengruppen, doch
nicht völlig von diesen abhängig sind und wenigstens grundsätzlich unparteiisch
zu sein sich bemühen. Und die Schule, in der die leitenden Männer zu dieser
Stellung über den Parteien erzogen worden sind, ist eben die Wissenschaft
jener Gelehrten, denen es Reinhold zum Vorwurf macht, daß sie, ohne Partei
zu sein, über den Parteikampf mitreden. Ein auch die wirtschaftliche!? An¬
gelegenheiten umfassender Gescimtwillc wäre nur dann möglich, wenn das Ideal
oder die Utopie der Sozialisten verwirklicht würde, d. h. wenn eine organisierte
und vou einer Zentralbehörde beherrschte Produktious- und Vcrtcilnngsordnung
alle ohne Ausnahme zufrieden stellte. Soll trotz bestehender Interessengegen¬
sätze ein verhältnismäßig umfassender Gesnmtwille zu stände kommen, so muß
die Mehrheit überzeugt sein, daß sie immer noch am besten fährt, wenn sie
einen Teil ihrer wirtschaftlichen Selbständigkeit opfert und sich eine weitgehende
Beaufsichtigung und Regelung durch den Staat, das ist deu Staatssozialismus,
gefallen läßt. Vorläufig bejahen die bürgerlichen Parteien den Staat in der
Weise, daß ihn jede von ihnen in ihre Gewalt zu bekommen und ihren Inter¬
essen dienstbar zu machen sucht; daß das keiner einzelnen von ihnen gelingen
kann, hat Reinhold selbst an den Agrariern sehr gut gezeigt. Wenn er es be¬
dauert, daß die Agrarier die Bildung eines Gesamtwillens oder Staatswillens
verhinderten, so bedauert er damit, daß die Welt ist, wie sie ist, diese selbe
Welt, von der er bewiesen hat, daß sie nicht anders sein könne, als sie ist.

Nicht ganz so harmlos wie diese Gedankenlosigkeit ist es, wenn er die
viel getadelten Gelehrten anklagt, daß sie einen Teil der Besitzenden im Ge¬
wissen irre gemacht und dadurch die Bildung des Staatswillens erschwert


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[0435] Reinhold wünschen; mit andern Worten: bei der Voraussetzung eines unversöhnlichen Interessengegensatzes ist Wohl der Spartanerstaat möglich, dessen Bürger über eine große Zahl von Zinsbauern und Heloten verfügen, aber uicht der mo¬ derne Rechtsstaat, der allen männlichen Einwohnern das Vollbürgerrecht zu¬ gesteht. Nämlich er ist nicht möglich, wenn er aus dem Gemeinwillen ruhen soll. Einen solchen Geineinwillen giebt es nicht und kann es namentlich in wirtschaftlichen Dingen nicht geben. Es kann einen solchen nur geben in Be¬ ziehung auf zwei Dinge. Die Mehrheit, nicht die Gesamtheit des Volkes kann entschlossen sein, jeden feindlichen Einfall mit Waffengewalt abzuwehren, und die Mehrheit kann jedem Versuch abgeneigt sein, den wirtschaftlichen und sozialen Kampf mit körperlichen Gewaltmitteln auszufechten, indem sie der Ansicht ist, daß die nun einmal bestehende bürgerliche Ordnung, so unvollkommen sie sein mag, besser ist als gar keine Ordnung. Wenn wir trotz wütender Interessen- t'ämpfe den Staat haben, und zwar einen recht festen Staat, so verdanken wir das nicht dem Gemeinwillen, sondern den historisch gewordnen Gewalten: Dynastie, Bureaukratie nud Heer, und dem Umstände, daß diese drei Gewalten, wenn auch nicht ohne engere Beziehung zu gewissen Interessentengruppen, doch nicht völlig von diesen abhängig sind und wenigstens grundsätzlich unparteiisch zu sein sich bemühen. Und die Schule, in der die leitenden Männer zu dieser Stellung über den Parteien erzogen worden sind, ist eben die Wissenschaft jener Gelehrten, denen es Reinhold zum Vorwurf macht, daß sie, ohne Partei zu sein, über den Parteikampf mitreden. Ein auch die wirtschaftliche!? An¬ gelegenheiten umfassender Gescimtwillc wäre nur dann möglich, wenn das Ideal oder die Utopie der Sozialisten verwirklicht würde, d. h. wenn eine organisierte und vou einer Zentralbehörde beherrschte Produktious- und Vcrtcilnngsordnung alle ohne Ausnahme zufrieden stellte. Soll trotz bestehender Interessengegen¬ sätze ein verhältnismäßig umfassender Gesnmtwille zu stände kommen, so muß die Mehrheit überzeugt sein, daß sie immer noch am besten fährt, wenn sie einen Teil ihrer wirtschaftlichen Selbständigkeit opfert und sich eine weitgehende Beaufsichtigung und Regelung durch den Staat, das ist deu Staatssozialismus, gefallen läßt. Vorläufig bejahen die bürgerlichen Parteien den Staat in der Weise, daß ihn jede von ihnen in ihre Gewalt zu bekommen und ihren Inter¬ essen dienstbar zu machen sucht; daß das keiner einzelnen von ihnen gelingen kann, hat Reinhold selbst an den Agrariern sehr gut gezeigt. Wenn er es be¬ dauert, daß die Agrarier die Bildung eines Gesamtwillens oder Staatswillens verhinderten, so bedauert er damit, daß die Welt ist, wie sie ist, diese selbe Welt, von der er bewiesen hat, daß sie nicht anders sein könne, als sie ist. Nicht ganz so harmlos wie diese Gedankenlosigkeit ist es, wenn er die viel getadelten Gelehrten anklagt, daß sie einen Teil der Besitzenden im Ge¬ wissen irre gemacht und dadurch die Bildung des Staatswillens erschwert

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/435>, abgerufen am 17.06.2024.