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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Gerhart Hauptmann und sein Biograph

"Vor Sonnenaufgang," das ursprünglich "Der Sämann" betitelt werden sollte,
trillern die Lerchen in der Morgenröte. Ihr Lied tönt unverdrossen jenseits von
Gut und Böse(?), jenseits der moralischen Gegensatze, in denen sich dieses soziale
Drama kraß und schroff bewegt. Der Dichter nimmt persönlich einen leidenschaft¬
lichen Anteil an den moralischen Dingen. Er zeichnet Personen und Zustände ent¬
weder mit Liebe oder mit Haß. Von einem objektiven Naturalismus, wie ihn die
Natur selbst ihren Geschöpfen gegenüber beobachtet"?), ist hier noch weniger die
Rede als beim Moralisten Zola oder in Tolstois "Macht der Finsternis." Was
Werke wie "Die Macht der Finsternis" und "Vor Sonnenaufgang" erst natura¬
listisch werden läßt, ist die von keiner konventionellen Rücksicht befangne, unver-
srorne Darstellung sittlicher Zustände, in denen sich der Mensch wieder der Natur¬
verfassung des Tieres annähert(!). Die naturalistische Kunstform klebt noch
am naturalistischen Stoff. Die Bedeutung des jungen Werkes, das von Tolstoi
vielfach abhängig ist, liegt vor allem darin, daß es der Dichter wagte, un-
polierte und uncirrangierte Wirklichkeit, und zwar häßliche Wirklichkeit in einer
gewissen Kunstform auf die Bühne zu bringen."

Daß mit dieser Rederei gar nichts anzufangen ist, liegt auf der Hand.
Was er an dem Werke retten will, die Nachbildung einer willkürlich zusammen-
gekuppelteu Wirklichkeit, wird ja nicht bestritten. Wo aber bleibt das Künst¬
lerische, das Ästhetische? Ohne Zweifel hat doch die Kunst auf das ästhetische
und ethische Gefühl der Menschen, für die sie da ist, auf die sie wirken soll,
eine gewisse Rücksicht zu nehmen, und zwar die dramatische Dichtkunst ebenso
wie die bildende Kunst, Malerei und Plastik, in ganz besonderm Maße. Denn
beide führen in Wirklichkeitsnachbildung das den Menschen vor Augen, was
sie darstellen wollen. Es ist doch einfach Unsinn, zu sagen: Alles, was ist,
ist auch darstellbar. Es giebt doch Vorgänge im menschlichen Leben, die sich
sicherlich von selbst von öffentlicher Vorführung ausschließen, die weder auf
die Bühne gebracht, noch in einer Marmorgruppe ausgeführt werden können,
man braucht gar nicht einmal an die Beispiele zu denken (sie lassen sich hier
nicht wiedergeben), mit denen Herr v. M. jüngst den Herausgeber des Kunst-
warts sehr drastisch abgeführt hat. Schlenthcr aber thut so, als wenn diese
brutale Rücksichtslosigkeit, mit der Hauptmann hier verführt, gerade das Große
an seinem Drama wäre, wenn er schreibt: "Einfach furchtbar, wie Doktor
Schimmelpfennig von den Zuständen des Witzdorfer' Bauernhofes (in "Vor
Sonnenaufgang") sagte, sind auch im "Friedensfest" (dem nächsten Drama)
die Zustände der Familie Scholz. Auch hier waltet nicht die geringste Rück¬
sicht auf irgend welche Schonungsbedürfnisse des Publikums und Schönheits¬
regeln stoffhuberischer Ästhetiker."

Man sieht, der neue Hofburgtheaterdirektor steht auf dem fortgeschrittensten
Standpunkte der Ästhetik. Ob er diese in Wien ins Praktische übersetzen wird,
und ob sich die lieben Wiener das gefallen lasten werden? Er hatte natürlich


Gerhart Hauptmann und sein Biograph

»Vor Sonnenaufgang,« das ursprünglich »Der Sämann« betitelt werden sollte,
trillern die Lerchen in der Morgenröte. Ihr Lied tönt unverdrossen jenseits von
Gut und Böse(?), jenseits der moralischen Gegensatze, in denen sich dieses soziale
Drama kraß und schroff bewegt. Der Dichter nimmt persönlich einen leidenschaft¬
lichen Anteil an den moralischen Dingen. Er zeichnet Personen und Zustände ent¬
weder mit Liebe oder mit Haß. Von einem objektiven Naturalismus, wie ihn die
Natur selbst ihren Geschöpfen gegenüber beobachtet«?), ist hier noch weniger die
Rede als beim Moralisten Zola oder in Tolstois »Macht der Finsternis.« Was
Werke wie »Die Macht der Finsternis« und »Vor Sonnenaufgang« erst natura¬
listisch werden läßt, ist die von keiner konventionellen Rücksicht befangne, unver-
srorne Darstellung sittlicher Zustände, in denen sich der Mensch wieder der Natur¬
verfassung des Tieres annähert(!). Die naturalistische Kunstform klebt noch
am naturalistischen Stoff. Die Bedeutung des jungen Werkes, das von Tolstoi
vielfach abhängig ist, liegt vor allem darin, daß es der Dichter wagte, un-
polierte und uncirrangierte Wirklichkeit, und zwar häßliche Wirklichkeit in einer
gewissen Kunstform auf die Bühne zu bringen."

Daß mit dieser Rederei gar nichts anzufangen ist, liegt auf der Hand.
Was er an dem Werke retten will, die Nachbildung einer willkürlich zusammen-
gekuppelteu Wirklichkeit, wird ja nicht bestritten. Wo aber bleibt das Künst¬
lerische, das Ästhetische? Ohne Zweifel hat doch die Kunst auf das ästhetische
und ethische Gefühl der Menschen, für die sie da ist, auf die sie wirken soll,
eine gewisse Rücksicht zu nehmen, und zwar die dramatische Dichtkunst ebenso
wie die bildende Kunst, Malerei und Plastik, in ganz besonderm Maße. Denn
beide führen in Wirklichkeitsnachbildung das den Menschen vor Augen, was
sie darstellen wollen. Es ist doch einfach Unsinn, zu sagen: Alles, was ist,
ist auch darstellbar. Es giebt doch Vorgänge im menschlichen Leben, die sich
sicherlich von selbst von öffentlicher Vorführung ausschließen, die weder auf
die Bühne gebracht, noch in einer Marmorgruppe ausgeführt werden können,
man braucht gar nicht einmal an die Beispiele zu denken (sie lassen sich hier
nicht wiedergeben), mit denen Herr v. M. jüngst den Herausgeber des Kunst-
warts sehr drastisch abgeführt hat. Schlenthcr aber thut so, als wenn diese
brutale Rücksichtslosigkeit, mit der Hauptmann hier verführt, gerade das Große
an seinem Drama wäre, wenn er schreibt: „Einfach furchtbar, wie Doktor
Schimmelpfennig von den Zuständen des Witzdorfer' Bauernhofes (in »Vor
Sonnenaufgang«) sagte, sind auch im »Friedensfest« (dem nächsten Drama)
die Zustände der Familie Scholz. Auch hier waltet nicht die geringste Rück¬
sicht auf irgend welche Schonungsbedürfnisse des Publikums und Schönheits¬
regeln stoffhuberischer Ästhetiker."

Man sieht, der neue Hofburgtheaterdirektor steht auf dem fortgeschrittensten
Standpunkte der Ästhetik. Ob er diese in Wien ins Praktische übersetzen wird,
und ob sich die lieben Wiener das gefallen lasten werden? Er hatte natürlich


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[0044] Gerhart Hauptmann und sein Biograph »Vor Sonnenaufgang,« das ursprünglich »Der Sämann« betitelt werden sollte, trillern die Lerchen in der Morgenröte. Ihr Lied tönt unverdrossen jenseits von Gut und Böse(?), jenseits der moralischen Gegensatze, in denen sich dieses soziale Drama kraß und schroff bewegt. Der Dichter nimmt persönlich einen leidenschaft¬ lichen Anteil an den moralischen Dingen. Er zeichnet Personen und Zustände ent¬ weder mit Liebe oder mit Haß. Von einem objektiven Naturalismus, wie ihn die Natur selbst ihren Geschöpfen gegenüber beobachtet«?), ist hier noch weniger die Rede als beim Moralisten Zola oder in Tolstois »Macht der Finsternis.« Was Werke wie »Die Macht der Finsternis« und »Vor Sonnenaufgang« erst natura¬ listisch werden läßt, ist die von keiner konventionellen Rücksicht befangne, unver- srorne Darstellung sittlicher Zustände, in denen sich der Mensch wieder der Natur¬ verfassung des Tieres annähert(!). Die naturalistische Kunstform klebt noch am naturalistischen Stoff. Die Bedeutung des jungen Werkes, das von Tolstoi vielfach abhängig ist, liegt vor allem darin, daß es der Dichter wagte, un- polierte und uncirrangierte Wirklichkeit, und zwar häßliche Wirklichkeit in einer gewissen Kunstform auf die Bühne zu bringen." Daß mit dieser Rederei gar nichts anzufangen ist, liegt auf der Hand. Was er an dem Werke retten will, die Nachbildung einer willkürlich zusammen- gekuppelteu Wirklichkeit, wird ja nicht bestritten. Wo aber bleibt das Künst¬ lerische, das Ästhetische? Ohne Zweifel hat doch die Kunst auf das ästhetische und ethische Gefühl der Menschen, für die sie da ist, auf die sie wirken soll, eine gewisse Rücksicht zu nehmen, und zwar die dramatische Dichtkunst ebenso wie die bildende Kunst, Malerei und Plastik, in ganz besonderm Maße. Denn beide führen in Wirklichkeitsnachbildung das den Menschen vor Augen, was sie darstellen wollen. Es ist doch einfach Unsinn, zu sagen: Alles, was ist, ist auch darstellbar. Es giebt doch Vorgänge im menschlichen Leben, die sich sicherlich von selbst von öffentlicher Vorführung ausschließen, die weder auf die Bühne gebracht, noch in einer Marmorgruppe ausgeführt werden können, man braucht gar nicht einmal an die Beispiele zu denken (sie lassen sich hier nicht wiedergeben), mit denen Herr v. M. jüngst den Herausgeber des Kunst- warts sehr drastisch abgeführt hat. Schlenthcr aber thut so, als wenn diese brutale Rücksichtslosigkeit, mit der Hauptmann hier verführt, gerade das Große an seinem Drama wäre, wenn er schreibt: „Einfach furchtbar, wie Doktor Schimmelpfennig von den Zuständen des Witzdorfer' Bauernhofes (in »Vor Sonnenaufgang«) sagte, sind auch im »Friedensfest« (dem nächsten Drama) die Zustände der Familie Scholz. Auch hier waltet nicht die geringste Rück¬ sicht auf irgend welche Schonungsbedürfnisse des Publikums und Schönheits¬ regeln stoffhuberischer Ästhetiker." Man sieht, der neue Hofburgtheaterdirektor steht auf dem fortgeschrittensten Standpunkte der Ästhetik. Ob er diese in Wien ins Praktische übersetzen wird, und ob sich die lieben Wiener das gefallen lasten werden? Er hatte natürlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/44>, abgerufen am 19.05.2024.