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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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orei Revolutionen in der deutschen Litteratur

Soviel erhellt aus allem Angeführten, daß die litterarischen Revolutionen
jederzeit gegen die Nachahmung des eben verdrängten oder bestrittnen poetischen
Lebens gekämpft, immer die Ursprünglichkeit gepriesen, aber schließlich allemal
wieder die Nachahmung ihrer eignen bahnbrechenden Werke, ihrer eignen Kon¬
vention gefördert haben. Die Übereinstimmung mit keinem der revolutionären
Programme hat das Gedeihen selbständiger Kräfte und glücklicher Schöpfungen
verbürgt. Nicht die natürlichen Wandlungen in der poetischen Darstellung, die
wechselnde Bevorzugung einzelner Seiten des Lebens, das Ringen nach neuen
künstlerischen Formen und Ausdrucksmitteln sind der Dichtung gefährlich, und
nicht das Eintreten der Kritik für das Neue gefährdet die Entwicklung, sondern
der revolutionäre Fanatismus, die wilde Ausschließlichkeit, die den Teil für
das Ganze, den Vorsatz für die Leistung, die eigne Willkür für Gesetz oder
eherne Notwendigkeit ausgeben will. Im Lichte der geschichtlichen Betrach¬
tung ist dies für die romantische und die jungdeutsche Litteraturrevolution
längst klar geworden, und mit einigem guten Willen und etwas Unabhängigkeit
von modischen Schlagworten läßt es sich auch inmitten des gegenwärtigen Ge¬
tümmels erkennen.

Die größten und glücklichsten Schöpfungen der Kunst erwachsen, wo und
wann sich der Genius und das starke Talent einer allgemein zwingenden, die
Besonderheit überspülenden Flut entwinden. Da Shakespeare die Schauer¬
szenen des Titus Andronicus und die taffetnen Phrasen, das seidne Wort-
geklinge und die dreidrühtigen Hyperbeln des euphuistischen Stils hinter sich
ließ, wurde er, der er ist. Da, um minder vornehme Beispiele zu wählen,
Ludwig Tieck den Bann der künstlichen Mittelalterlichkeit durchbrach und in
seinen Novellen die poetischen Motive des modernen Lebens ergriff, da Wili-
bald Alexis und Karl Immermann die romantische Konvention abstreiften und
der eine in seinen historischen, der andre in seineu Gesellschaftsromanen die
Welt mit eignen Augen sahen und das Leben mit eignen Mitteln darstellen
lernten, da steigerte sich ihre Bedeutung. Wie wichtig es auch für die histo¬
rische Kenntnis dieser und tausend andrer Talente sein mag, alle Einflüsse zu
prüfen, unter denen ihre Entfaltung stattfand, alle Fäden aufzuzeigen, die sie
mit den Überlieferungen und dem Stil ihrer Zeit verknüpften, wichtiger ist
doch, den selbständigen Kern ihres Wesens, den eigensten Zug zu ergründen,
der sie über alle litterarischen Einwirkungen ins Leben trieb und ihre besten
Schöpfungen mit Leben erfüllte. Das echte Verständnis eines Dichters und
die produktive Kritik heben immer erst da an, wo man ihn aus der littera¬
rischen Gruppe, der er wohl oder übel zugerechnet wird, heraushebt und in
seiner Ganzheit würdigt. Wie verderblich ist es Grillparzer geworden, daß
die Kritik nichts als das Äußerlichste und Allgemeinste an dem großen ent¬
faltungsfähigen Künstler zu sehen wußte, daß er jahrzehntelang dem Publikum
als Schicksalsdichter, als Dramatiker nach spanischem Muster oder als Epigone


orei Revolutionen in der deutschen Litteratur

Soviel erhellt aus allem Angeführten, daß die litterarischen Revolutionen
jederzeit gegen die Nachahmung des eben verdrängten oder bestrittnen poetischen
Lebens gekämpft, immer die Ursprünglichkeit gepriesen, aber schließlich allemal
wieder die Nachahmung ihrer eignen bahnbrechenden Werke, ihrer eignen Kon¬
vention gefördert haben. Die Übereinstimmung mit keinem der revolutionären
Programme hat das Gedeihen selbständiger Kräfte und glücklicher Schöpfungen
verbürgt. Nicht die natürlichen Wandlungen in der poetischen Darstellung, die
wechselnde Bevorzugung einzelner Seiten des Lebens, das Ringen nach neuen
künstlerischen Formen und Ausdrucksmitteln sind der Dichtung gefährlich, und
nicht das Eintreten der Kritik für das Neue gefährdet die Entwicklung, sondern
der revolutionäre Fanatismus, die wilde Ausschließlichkeit, die den Teil für
das Ganze, den Vorsatz für die Leistung, die eigne Willkür für Gesetz oder
eherne Notwendigkeit ausgeben will. Im Lichte der geschichtlichen Betrach¬
tung ist dies für die romantische und die jungdeutsche Litteraturrevolution
längst klar geworden, und mit einigem guten Willen und etwas Unabhängigkeit
von modischen Schlagworten läßt es sich auch inmitten des gegenwärtigen Ge¬
tümmels erkennen.

Die größten und glücklichsten Schöpfungen der Kunst erwachsen, wo und
wann sich der Genius und das starke Talent einer allgemein zwingenden, die
Besonderheit überspülenden Flut entwinden. Da Shakespeare die Schauer¬
szenen des Titus Andronicus und die taffetnen Phrasen, das seidne Wort-
geklinge und die dreidrühtigen Hyperbeln des euphuistischen Stils hinter sich
ließ, wurde er, der er ist. Da, um minder vornehme Beispiele zu wählen,
Ludwig Tieck den Bann der künstlichen Mittelalterlichkeit durchbrach und in
seinen Novellen die poetischen Motive des modernen Lebens ergriff, da Wili-
bald Alexis und Karl Immermann die romantische Konvention abstreiften und
der eine in seinen historischen, der andre in seineu Gesellschaftsromanen die
Welt mit eignen Augen sahen und das Leben mit eignen Mitteln darstellen
lernten, da steigerte sich ihre Bedeutung. Wie wichtig es auch für die histo¬
rische Kenntnis dieser und tausend andrer Talente sein mag, alle Einflüsse zu
prüfen, unter denen ihre Entfaltung stattfand, alle Fäden aufzuzeigen, die sie
mit den Überlieferungen und dem Stil ihrer Zeit verknüpften, wichtiger ist
doch, den selbständigen Kern ihres Wesens, den eigensten Zug zu ergründen,
der sie über alle litterarischen Einwirkungen ins Leben trieb und ihre besten
Schöpfungen mit Leben erfüllte. Das echte Verständnis eines Dichters und
die produktive Kritik heben immer erst da an, wo man ihn aus der littera¬
rischen Gruppe, der er wohl oder übel zugerechnet wird, heraushebt und in
seiner Ganzheit würdigt. Wie verderblich ist es Grillparzer geworden, daß
die Kritik nichts als das Äußerlichste und Allgemeinste an dem großen ent¬
faltungsfähigen Künstler zu sehen wußte, daß er jahrzehntelang dem Publikum
als Schicksalsdichter, als Dramatiker nach spanischem Muster oder als Epigone


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[0485] orei Revolutionen in der deutschen Litteratur Soviel erhellt aus allem Angeführten, daß die litterarischen Revolutionen jederzeit gegen die Nachahmung des eben verdrängten oder bestrittnen poetischen Lebens gekämpft, immer die Ursprünglichkeit gepriesen, aber schließlich allemal wieder die Nachahmung ihrer eignen bahnbrechenden Werke, ihrer eignen Kon¬ vention gefördert haben. Die Übereinstimmung mit keinem der revolutionären Programme hat das Gedeihen selbständiger Kräfte und glücklicher Schöpfungen verbürgt. Nicht die natürlichen Wandlungen in der poetischen Darstellung, die wechselnde Bevorzugung einzelner Seiten des Lebens, das Ringen nach neuen künstlerischen Formen und Ausdrucksmitteln sind der Dichtung gefährlich, und nicht das Eintreten der Kritik für das Neue gefährdet die Entwicklung, sondern der revolutionäre Fanatismus, die wilde Ausschließlichkeit, die den Teil für das Ganze, den Vorsatz für die Leistung, die eigne Willkür für Gesetz oder eherne Notwendigkeit ausgeben will. Im Lichte der geschichtlichen Betrach¬ tung ist dies für die romantische und die jungdeutsche Litteraturrevolution längst klar geworden, und mit einigem guten Willen und etwas Unabhängigkeit von modischen Schlagworten läßt es sich auch inmitten des gegenwärtigen Ge¬ tümmels erkennen. Die größten und glücklichsten Schöpfungen der Kunst erwachsen, wo und wann sich der Genius und das starke Talent einer allgemein zwingenden, die Besonderheit überspülenden Flut entwinden. Da Shakespeare die Schauer¬ szenen des Titus Andronicus und die taffetnen Phrasen, das seidne Wort- geklinge und die dreidrühtigen Hyperbeln des euphuistischen Stils hinter sich ließ, wurde er, der er ist. Da, um minder vornehme Beispiele zu wählen, Ludwig Tieck den Bann der künstlichen Mittelalterlichkeit durchbrach und in seinen Novellen die poetischen Motive des modernen Lebens ergriff, da Wili- bald Alexis und Karl Immermann die romantische Konvention abstreiften und der eine in seinen historischen, der andre in seineu Gesellschaftsromanen die Welt mit eignen Augen sahen und das Leben mit eignen Mitteln darstellen lernten, da steigerte sich ihre Bedeutung. Wie wichtig es auch für die histo¬ rische Kenntnis dieser und tausend andrer Talente sein mag, alle Einflüsse zu prüfen, unter denen ihre Entfaltung stattfand, alle Fäden aufzuzeigen, die sie mit den Überlieferungen und dem Stil ihrer Zeit verknüpften, wichtiger ist doch, den selbständigen Kern ihres Wesens, den eigensten Zug zu ergründen, der sie über alle litterarischen Einwirkungen ins Leben trieb und ihre besten Schöpfungen mit Leben erfüllte. Das echte Verständnis eines Dichters und die produktive Kritik heben immer erst da an, wo man ihn aus der littera¬ rischen Gruppe, der er wohl oder übel zugerechnet wird, heraushebt und in seiner Ganzheit würdigt. Wie verderblich ist es Grillparzer geworden, daß die Kritik nichts als das Äußerlichste und Allgemeinste an dem großen ent¬ faltungsfähigen Künstler zu sehen wußte, daß er jahrzehntelang dem Publikum als Schicksalsdichter, als Dramatiker nach spanischem Muster oder als Epigone

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/485>, abgerufen am 13.06.2024.