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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Zusammenhang der Erscheinungen im allgemeinen sei ja die Voraussetzung aller
Naturwisseuschnft; ereignete sich alles planlos und zufällig, so konnte es gar keine
geben; vielmehr habe die Forschung die Gesetze zu ermitteln, für jede Erscheinungs¬
reihe ihr besondres Gesetz, das nur aus der Erfahrung entnommen werden könne;
denn wie sich z. B. die Körper beim freien Fall verhalten, habe ohne das Experiment
kein Mensch wissen, berechnen oder erraten können. Er zeigt nun, wie zur Er¬
mittlung teleologischer Zusammenhänge die Beschreibung, die Vergleichung, das
Experiment, die Deduktion und die Mathematik verwendet werden sollen, und
schließt mit einem Kapitel über die Zukunft der biologischen Wissenschaften. Kein
junger Naturforscher sollte an die Arbeit gehn, ohne sich mit Hilfe dieser vortreff¬
lichen methodologischen Anleitung geschult zu haben. -- Methodologischem Zweck
dient auch das Schriftchen: Über wissenschaftliches Denken und über
populäre Wissenschaft von Dr. Adolf Wagner (Berlin, Gebr. Borntraeger,
1S99). Es richtet sich aber um die Laienschaft, der, wie der Verfasser richtig
bemerkt, von Popularifierern zwar allerlei Wissensstoff, nicht aber die Kunst des
selbständigen wissenschaftlichen Denkens beigebracht wird. Das handliche und zweck¬
dienliche Büchlein wird als Ur. 1 einer "Studien und Skizzen aus Naturwissen¬
schaft und Philosophie" titulierten Serie bezeichnet, die Wagner herausgiebt; das
zweite, ebenfalls empfehlenswerte Bändchen handelt über das Problem der Willens¬
freiheit. -- Von Goethes Prosasprüchen lautet einer: "Man sagt, zwischen zwei
entgegengesetzten Meinungen liege die Wahrheit mitten inne. Keineswegs! Das
Problem liegt dazwischen, das Uuschaubare, das ewig thätige Leben in Ruhe ge¬
dacht." Otto Liebmann ist Virtuos in der Kunst, ganz genau die Stelle anzu¬
geben, wo das Problem liegt, und seinen Sinn deutlich zu machen. In seinen
Gedanken und Thatsachen titulierten philosophischen Abhandlungen, Aphorismen
und Studien (Straßburg, Karl I. Trübner, 1899) betrachtet er die Natur im
allgemeinen, Gesetze und Kräfte, Atomistik, organische Natur und Teleologie, die
Naturbescelung und den Geist, die Bilder der Phantasie, die Sprachfähigkeit, das
Zielbewußtsein, beleuchtet seiue" Gegenstand von allen Seiten, kritisiert, was die
Großgeister darüber gesagt haben, naße sich aber kein abschließendes Urteil an,
sondern läßt, wie gesagt, den Leser vor dem Problem stehn, z. B. vor dem unge¬
heuern Problem, das aus folgendem Widerspruch erwächst: wenn meine Gedcmken-
und Fingerbewegungen beim Niederschreiben eines Satzes nicht durch eine Reihe
materieller Vorgänge, deren letzte die Schwingungen meiner Gehirnteile beim
Schreiben bilden, kausal bestimmt sind, dann hat die Naturwissenschaft ein Loch
und geht in die Brüche; wenn ich aber den Satz nicht deswegen niederschreibe,
weil ich ihn für wahr halte und niederschreiben will, sondern weil der Lauf der
materiellen Welt dazu zwingt, dann ist unser ganzes Geistesleben, ist unsre Vor¬
stellung von der Weltgeschichte eine Phantasmagorie, ein leerer Spuk. Liebmanns
Darstellung ist ganz frei von Schulpedanterie, anziehend und unterhaltend. Als
Probe schreiben wir den 53. der psychologischen Aphorismen ab, die am Schluß
des dritten Hefts stehn: "Es giebt Dramen, die vollkommen unverständlich bleiben
würden ohne das, was hinter der Szene geschieht. Zu diesen Dramen gehört das
menschliche Seelenleben. Was sich auf der hellen Bühne des Bewußtseins voll¬
zieht, sind lediglich abgerissene Bruchstücke und Fetzen des persönlichen Seelenlebens.
Es wäre unbegreiflich, ja unmöglich, ohne das, was sich hinter den Kulissen zu¬
trägt, d. h. ohne unbewußte psychische Prozesse. Wer am Morgen aufwacht und nun
seine gestrigen Gedanken aufnimmt, seine gestrigen Absichten heute zur Ausführung
bringt, der war mehrere Stunden hindurch von der Welt getrennt. Inzwischen hat
sich in seinem Innern dasjenige Weitererhalten, fortgesponnen und vollzogen, wo¬
durch die Anknüpfung des Heute an das Gestern ermöglicht wird." -- Friedrich
Pa ulsen hat seinem ausgezeichneten Buche über Kant, das wir im vierten vor-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Zusammenhang der Erscheinungen im allgemeinen sei ja die Voraussetzung aller
Naturwisseuschnft; ereignete sich alles planlos und zufällig, so konnte es gar keine
geben; vielmehr habe die Forschung die Gesetze zu ermitteln, für jede Erscheinungs¬
reihe ihr besondres Gesetz, das nur aus der Erfahrung entnommen werden könne;
denn wie sich z. B. die Körper beim freien Fall verhalten, habe ohne das Experiment
kein Mensch wissen, berechnen oder erraten können. Er zeigt nun, wie zur Er¬
mittlung teleologischer Zusammenhänge die Beschreibung, die Vergleichung, das
Experiment, die Deduktion und die Mathematik verwendet werden sollen, und
schließt mit einem Kapitel über die Zukunft der biologischen Wissenschaften. Kein
junger Naturforscher sollte an die Arbeit gehn, ohne sich mit Hilfe dieser vortreff¬
lichen methodologischen Anleitung geschult zu haben. — Methodologischem Zweck
dient auch das Schriftchen: Über wissenschaftliches Denken und über
populäre Wissenschaft von Dr. Adolf Wagner (Berlin, Gebr. Borntraeger,
1S99). Es richtet sich aber um die Laienschaft, der, wie der Verfasser richtig
bemerkt, von Popularifierern zwar allerlei Wissensstoff, nicht aber die Kunst des
selbständigen wissenschaftlichen Denkens beigebracht wird. Das handliche und zweck¬
dienliche Büchlein wird als Ur. 1 einer „Studien und Skizzen aus Naturwissen¬
schaft und Philosophie" titulierten Serie bezeichnet, die Wagner herausgiebt; das
zweite, ebenfalls empfehlenswerte Bändchen handelt über das Problem der Willens¬
freiheit. — Von Goethes Prosasprüchen lautet einer: „Man sagt, zwischen zwei
entgegengesetzten Meinungen liege die Wahrheit mitten inne. Keineswegs! Das
Problem liegt dazwischen, das Uuschaubare, das ewig thätige Leben in Ruhe ge¬
dacht." Otto Liebmann ist Virtuos in der Kunst, ganz genau die Stelle anzu¬
geben, wo das Problem liegt, und seinen Sinn deutlich zu machen. In seinen
Gedanken und Thatsachen titulierten philosophischen Abhandlungen, Aphorismen
und Studien (Straßburg, Karl I. Trübner, 1899) betrachtet er die Natur im
allgemeinen, Gesetze und Kräfte, Atomistik, organische Natur und Teleologie, die
Naturbescelung und den Geist, die Bilder der Phantasie, die Sprachfähigkeit, das
Zielbewußtsein, beleuchtet seiue» Gegenstand von allen Seiten, kritisiert, was die
Großgeister darüber gesagt haben, naße sich aber kein abschließendes Urteil an,
sondern läßt, wie gesagt, den Leser vor dem Problem stehn, z. B. vor dem unge¬
heuern Problem, das aus folgendem Widerspruch erwächst: wenn meine Gedcmken-
und Fingerbewegungen beim Niederschreiben eines Satzes nicht durch eine Reihe
materieller Vorgänge, deren letzte die Schwingungen meiner Gehirnteile beim
Schreiben bilden, kausal bestimmt sind, dann hat die Naturwissenschaft ein Loch
und geht in die Brüche; wenn ich aber den Satz nicht deswegen niederschreibe,
weil ich ihn für wahr halte und niederschreiben will, sondern weil der Lauf der
materiellen Welt dazu zwingt, dann ist unser ganzes Geistesleben, ist unsre Vor¬
stellung von der Weltgeschichte eine Phantasmagorie, ein leerer Spuk. Liebmanns
Darstellung ist ganz frei von Schulpedanterie, anziehend und unterhaltend. Als
Probe schreiben wir den 53. der psychologischen Aphorismen ab, die am Schluß
des dritten Hefts stehn: „Es giebt Dramen, die vollkommen unverständlich bleiben
würden ohne das, was hinter der Szene geschieht. Zu diesen Dramen gehört das
menschliche Seelenleben. Was sich auf der hellen Bühne des Bewußtseins voll¬
zieht, sind lediglich abgerissene Bruchstücke und Fetzen des persönlichen Seelenlebens.
Es wäre unbegreiflich, ja unmöglich, ohne das, was sich hinter den Kulissen zu¬
trägt, d. h. ohne unbewußte psychische Prozesse. Wer am Morgen aufwacht und nun
seine gestrigen Gedanken aufnimmt, seine gestrigen Absichten heute zur Ausführung
bringt, der war mehrere Stunden hindurch von der Welt getrennt. Inzwischen hat
sich in seinem Innern dasjenige Weitererhalten, fortgesponnen und vollzogen, wo¬
durch die Anknüpfung des Heute an das Gestern ermöglicht wird." — Friedrich
Pa ulsen hat seinem ausgezeichneten Buche über Kant, das wir im vierten vor-


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[0110] Maßgebliches und Unmaßgebliches Zusammenhang der Erscheinungen im allgemeinen sei ja die Voraussetzung aller Naturwisseuschnft; ereignete sich alles planlos und zufällig, so konnte es gar keine geben; vielmehr habe die Forschung die Gesetze zu ermitteln, für jede Erscheinungs¬ reihe ihr besondres Gesetz, das nur aus der Erfahrung entnommen werden könne; denn wie sich z. B. die Körper beim freien Fall verhalten, habe ohne das Experiment kein Mensch wissen, berechnen oder erraten können. Er zeigt nun, wie zur Er¬ mittlung teleologischer Zusammenhänge die Beschreibung, die Vergleichung, das Experiment, die Deduktion und die Mathematik verwendet werden sollen, und schließt mit einem Kapitel über die Zukunft der biologischen Wissenschaften. Kein junger Naturforscher sollte an die Arbeit gehn, ohne sich mit Hilfe dieser vortreff¬ lichen methodologischen Anleitung geschult zu haben. — Methodologischem Zweck dient auch das Schriftchen: Über wissenschaftliches Denken und über populäre Wissenschaft von Dr. Adolf Wagner (Berlin, Gebr. Borntraeger, 1S99). Es richtet sich aber um die Laienschaft, der, wie der Verfasser richtig bemerkt, von Popularifierern zwar allerlei Wissensstoff, nicht aber die Kunst des selbständigen wissenschaftlichen Denkens beigebracht wird. Das handliche und zweck¬ dienliche Büchlein wird als Ur. 1 einer „Studien und Skizzen aus Naturwissen¬ schaft und Philosophie" titulierten Serie bezeichnet, die Wagner herausgiebt; das zweite, ebenfalls empfehlenswerte Bändchen handelt über das Problem der Willens¬ freiheit. — Von Goethes Prosasprüchen lautet einer: „Man sagt, zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen liege die Wahrheit mitten inne. Keineswegs! Das Problem liegt dazwischen, das Uuschaubare, das ewig thätige Leben in Ruhe ge¬ dacht." Otto Liebmann ist Virtuos in der Kunst, ganz genau die Stelle anzu¬ geben, wo das Problem liegt, und seinen Sinn deutlich zu machen. In seinen Gedanken und Thatsachen titulierten philosophischen Abhandlungen, Aphorismen und Studien (Straßburg, Karl I. Trübner, 1899) betrachtet er die Natur im allgemeinen, Gesetze und Kräfte, Atomistik, organische Natur und Teleologie, die Naturbescelung und den Geist, die Bilder der Phantasie, die Sprachfähigkeit, das Zielbewußtsein, beleuchtet seiue» Gegenstand von allen Seiten, kritisiert, was die Großgeister darüber gesagt haben, naße sich aber kein abschließendes Urteil an, sondern läßt, wie gesagt, den Leser vor dem Problem stehn, z. B. vor dem unge¬ heuern Problem, das aus folgendem Widerspruch erwächst: wenn meine Gedcmken- und Fingerbewegungen beim Niederschreiben eines Satzes nicht durch eine Reihe materieller Vorgänge, deren letzte die Schwingungen meiner Gehirnteile beim Schreiben bilden, kausal bestimmt sind, dann hat die Naturwissenschaft ein Loch und geht in die Brüche; wenn ich aber den Satz nicht deswegen niederschreibe, weil ich ihn für wahr halte und niederschreiben will, sondern weil der Lauf der materiellen Welt dazu zwingt, dann ist unser ganzes Geistesleben, ist unsre Vor¬ stellung von der Weltgeschichte eine Phantasmagorie, ein leerer Spuk. Liebmanns Darstellung ist ganz frei von Schulpedanterie, anziehend und unterhaltend. Als Probe schreiben wir den 53. der psychologischen Aphorismen ab, die am Schluß des dritten Hefts stehn: „Es giebt Dramen, die vollkommen unverständlich bleiben würden ohne das, was hinter der Szene geschieht. Zu diesen Dramen gehört das menschliche Seelenleben. Was sich auf der hellen Bühne des Bewußtseins voll¬ zieht, sind lediglich abgerissene Bruchstücke und Fetzen des persönlichen Seelenlebens. Es wäre unbegreiflich, ja unmöglich, ohne das, was sich hinter den Kulissen zu¬ trägt, d. h. ohne unbewußte psychische Prozesse. Wer am Morgen aufwacht und nun seine gestrigen Gedanken aufnimmt, seine gestrigen Absichten heute zur Ausführung bringt, der war mehrere Stunden hindurch von der Welt getrennt. Inzwischen hat sich in seinem Innern dasjenige Weitererhalten, fortgesponnen und vollzogen, wo¬ durch die Anknüpfung des Heute an das Gestern ermöglicht wird." — Friedrich Pa ulsen hat seinem ausgezeichneten Buche über Kant, das wir im vierten vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/110>, abgerufen am 26.05.2024.