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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Line Neise von London nach Boulogne im Jahre ^763

meierei und Cliquenwirtschaft unsrer Tage wird einem zum Ekel. Wer so
von Goethe erzogen ist, der wird wünschen, daß möglichst viele Vereine sich
c, auflösen, und nicht, das; neue entstehn,




Gine Reise von London nach Boulogne im Jahre ^763

lie Welt ist darüber einig, daß das neunzehnte Jahrhundert der
glänzendste Abschnitt in der Geschichte der Technik ist; nur darüber
gehn die Meinungen auseinander: welche unter den großen Er¬
findungen den Preis verdient. Die folgenreichste war unbedingt
die Verwertung der Dampfkraft für Arbeit und Verkehr. Fabriken,
Eisenbahnen und Dampfschiffe haben die Länder und Völker aneinander gerückt,
die äußere Welt förmlich umgestaltet; sie sind noch dabei, auch das innere
Wesen der Menschheit zu verwandeln, Freuden und Leiden des irdischen Da¬
seins auf neue Grundlagen zu stellen. Nach tausend Jahren werden die Wirren
des Übergangs, die uns heute drücken, abgeschlossen, die neuen Geschlechter
glücklicher sein, als wir es waren. Ob sie es dann auch anerkennen? Wir
sind entschieden zur Undankbarkeit und zum Pessimismus geneigt und werden
über dem berechtigten Streben, weiter zu kommen, der unbedingten Fortschritte,
die uus das Jahrhundert der Technik gebracht hat, nicht genügend froh. Zum
Beispiel aus dein Gebiet des Reifens. Jeder Großstädter, der es nur halb¬
wegs haben kann, leistet sich seine Sommerfrische im Gebirge oder an der See.
Daß er sie braucht, ist freilich ein übel Ding, aber daß er sie unter die selbst¬
verständlichen Lebensgenusse rechnen darf, bleibt ein Vorzug, um den ihn die
Vorfahren beneidet hätten. Lebten die wohlhabenden und auch die untern
Kreise des achtzehnten Jahrhunderts bei ihrem beschaulichen Tagewerk in den
gnrtenreichen Städten auch gemütlicher und gesünder, die Erfrischung in der
Ferne, der erhebende Eindruck neuer, fremder Natur und Kultur war eine
Ausnahme. Die Minderheit, die "die große Welt" zu sehen bekam, setzte sich
zusammen ans Handwerksburschen, aus Glücksrittern und aus wenigen Spitzen
der Gesellschaft. In der Lebensstellung grundverschieden, waren diese Elemente
darin auf gleichem Fuße, daß sie alle die Genüsse des Reifens derer erkaufen
mußten. Die armen Reisenden nannte man "Fechtbrüder," aber auch die, die
sich eines wohlgespielter Ventels erfreuten, die ihren Weg in vierspänniger
Karosse zurücklegen konnten, hatten gegen Widerwärtigkeiten und Unbilden zu
kämpfen, von denen der heutige Reisende, wenn er dieselben Strecken im Coupe
durchfliegt, nichts ahnt. Die Poeten und Romantiker haben uns vom Reisen
in alter Zeit etwas falsche Begriffe beigebracht, das Bild stark idealisiert, und
so kann es kommen, daß eiuer mit Eichendorff oder nicht im Kopf der zur


Line Neise von London nach Boulogne im Jahre ^763

meierei und Cliquenwirtschaft unsrer Tage wird einem zum Ekel. Wer so
von Goethe erzogen ist, der wird wünschen, daß möglichst viele Vereine sich
c, auflösen, und nicht, das; neue entstehn,




Gine Reise von London nach Boulogne im Jahre ^763

lie Welt ist darüber einig, daß das neunzehnte Jahrhundert der
glänzendste Abschnitt in der Geschichte der Technik ist; nur darüber
gehn die Meinungen auseinander: welche unter den großen Er¬
findungen den Preis verdient. Die folgenreichste war unbedingt
die Verwertung der Dampfkraft für Arbeit und Verkehr. Fabriken,
Eisenbahnen und Dampfschiffe haben die Länder und Völker aneinander gerückt,
die äußere Welt förmlich umgestaltet; sie sind noch dabei, auch das innere
Wesen der Menschheit zu verwandeln, Freuden und Leiden des irdischen Da¬
seins auf neue Grundlagen zu stellen. Nach tausend Jahren werden die Wirren
des Übergangs, die uns heute drücken, abgeschlossen, die neuen Geschlechter
glücklicher sein, als wir es waren. Ob sie es dann auch anerkennen? Wir
sind entschieden zur Undankbarkeit und zum Pessimismus geneigt und werden
über dem berechtigten Streben, weiter zu kommen, der unbedingten Fortschritte,
die uus das Jahrhundert der Technik gebracht hat, nicht genügend froh. Zum
Beispiel aus dein Gebiet des Reifens. Jeder Großstädter, der es nur halb¬
wegs haben kann, leistet sich seine Sommerfrische im Gebirge oder an der See.
Daß er sie braucht, ist freilich ein übel Ding, aber daß er sie unter die selbst¬
verständlichen Lebensgenusse rechnen darf, bleibt ein Vorzug, um den ihn die
Vorfahren beneidet hätten. Lebten die wohlhabenden und auch die untern
Kreise des achtzehnten Jahrhunderts bei ihrem beschaulichen Tagewerk in den
gnrtenreichen Städten auch gemütlicher und gesünder, die Erfrischung in der
Ferne, der erhebende Eindruck neuer, fremder Natur und Kultur war eine
Ausnahme. Die Minderheit, die „die große Welt" zu sehen bekam, setzte sich
zusammen ans Handwerksburschen, aus Glücksrittern und aus wenigen Spitzen
der Gesellschaft. In der Lebensstellung grundverschieden, waren diese Elemente
darin auf gleichem Fuße, daß sie alle die Genüsse des Reifens derer erkaufen
mußten. Die armen Reisenden nannte man „Fechtbrüder," aber auch die, die
sich eines wohlgespielter Ventels erfreuten, die ihren Weg in vierspänniger
Karosse zurücklegen konnten, hatten gegen Widerwärtigkeiten und Unbilden zu
kämpfen, von denen der heutige Reisende, wenn er dieselben Strecken im Coupe
durchfliegt, nichts ahnt. Die Poeten und Romantiker haben uns vom Reisen
in alter Zeit etwas falsche Begriffe beigebracht, das Bild stark idealisiert, und
so kann es kommen, daß eiuer mit Eichendorff oder nicht im Kopf der zur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/34>, abgerufen am 16.06.2024.