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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und der Goethebimd

heit hielt er ein schönes Gespräch über die Vorzüge und Nachteile der Refor¬
mation und über die Vorzüge der katholischen und protestantischen Religion.
Ich gab ihm vollkommen recht, wenn er die protestantische Religion beschuldigte,
sie hätte dem einzelnen Individuum zu viel zu tragen gegeben. Ehemals
konnte eine Gewissenslast durch andre vom Gewissen genommen werden, jetzt
muß sie ein belastetes Gewissen selbst tragen und verliert darüber die Kraft,
mit sich selber wieder in Harmonie zu kommen. Die Ohrenbeichte, sagte er,
hätte dem Menschen nie sollen genommen werden." Im siebenten Buch vou
"Dichtung und Wahrheit" zieht er gleichfalls eine Parallele zwischen Katho¬
lizismus und Protestantismus, die die Unzufriedenheit protestantischer Kreise
erregte. In "Wilhelm Meisters Lehrjahren" hat er mit tiefstem Verständnis
eine zwar nicht katholische, aber echt christliche Persönlichkeit geschildert (eine
"Muckerin" würden viele Goethebündler sie nennen, ein Beiwort, dem auch
die von Goethe hochgeschützte streng katholische Fürstin Galitzin kaum entgehn
dürfte), in dem sechsten Buch nämlich, dessen Blätter in dem Handexemplar so
manches Goethebündlers wohl noch zusammenkleben. Goethe wäre ohne Ver¬
ständnis für das Christentum überhaupt nicht der universelle Geist, den wir
in ihm verehren. Er war eine religiöse Natur und vermochte sich die Kunst
nicht ohne religiösen Untergrund vorzustellen; daß der Name Christus bei ihm
so auffallend selten vorkommt, ist in seiner Abneigung gegen das Aussprechen
der tiefsten Mysterien begründet. "Der große Heide" ist also ein sehr mi߬
verständliches Schlagwort, dürfte aber immerhin das einzige Material sein,
das manche Mitglieder des Goethebundes zur Beurteilung von Goethes reli¬
giöser Stellung haben.

Nebenbei wollen wir schließlich die Aufmerksamkeit der Goethekenner als
ans eins der drolligen Dinge, an denen es beim Gocthebund nicht fehlt,
auf die Frage lenken: was der Meister wohl zu den litterarischen Produk-
tionen seiner Büudlcr gesagt hätte? Er, der schon zu seiner Zeit klagte,
"daß die Politik und der Realismus jegliche schöne Litteratur und Kunst
töteten."

Es kaun mich dem Angeführten kaum zweifelhaft sein, daß Goethe nicht
sonderlich erbaut gewesen wäre von seinen? Vuud, und daß jeder, der sich von
ihm erziehen lassen null, Goethe in seinen Werken suchen muß, nicht in diesem
Bunde. Unendliches kann man an Goethe haben, wenn man ihn studiert,
immer wieder studiert. Mau kann von ihm das Sehen lernen, das objektive
Schauen von Natur, Kunst und Menschenleben. Man kann handeln von ihm
lernen, lernen die Gegenwart benutzen, sich selber und die gegebnen Verhält¬
nisse als Material betrachten, aus dem man etwas möglichst Schönes gestalten
soll. Und man kann die große Liebe von ihm lernen, die die ganze Welt
"mfaßt und alle Strebenden auch ohne äußeres Band zu einer Gemeinde ver¬
einigt, wie sie sich im "Wilhelm Meister" findet, ganz von selbst, durch die
Gemeinsamkeit deS Strebens. Dabei wird einem dann zugleich immer klarer,
daß dus. was nicht zusammengehört, sich scheiden sollte, und die Vereins-


Goethe und der Goethebimd

heit hielt er ein schönes Gespräch über die Vorzüge und Nachteile der Refor¬
mation und über die Vorzüge der katholischen und protestantischen Religion.
Ich gab ihm vollkommen recht, wenn er die protestantische Religion beschuldigte,
sie hätte dem einzelnen Individuum zu viel zu tragen gegeben. Ehemals
konnte eine Gewissenslast durch andre vom Gewissen genommen werden, jetzt
muß sie ein belastetes Gewissen selbst tragen und verliert darüber die Kraft,
mit sich selber wieder in Harmonie zu kommen. Die Ohrenbeichte, sagte er,
hätte dem Menschen nie sollen genommen werden." Im siebenten Buch vou
„Dichtung und Wahrheit" zieht er gleichfalls eine Parallele zwischen Katho¬
lizismus und Protestantismus, die die Unzufriedenheit protestantischer Kreise
erregte. In „Wilhelm Meisters Lehrjahren" hat er mit tiefstem Verständnis
eine zwar nicht katholische, aber echt christliche Persönlichkeit geschildert (eine
„Muckerin" würden viele Goethebündler sie nennen, ein Beiwort, dem auch
die von Goethe hochgeschützte streng katholische Fürstin Galitzin kaum entgehn
dürfte), in dem sechsten Buch nämlich, dessen Blätter in dem Handexemplar so
manches Goethebündlers wohl noch zusammenkleben. Goethe wäre ohne Ver¬
ständnis für das Christentum überhaupt nicht der universelle Geist, den wir
in ihm verehren. Er war eine religiöse Natur und vermochte sich die Kunst
nicht ohne religiösen Untergrund vorzustellen; daß der Name Christus bei ihm
so auffallend selten vorkommt, ist in seiner Abneigung gegen das Aussprechen
der tiefsten Mysterien begründet. „Der große Heide" ist also ein sehr mi߬
verständliches Schlagwort, dürfte aber immerhin das einzige Material sein,
das manche Mitglieder des Goethebundes zur Beurteilung von Goethes reli¬
giöser Stellung haben.

Nebenbei wollen wir schließlich die Aufmerksamkeit der Goethekenner als
ans eins der drolligen Dinge, an denen es beim Gocthebund nicht fehlt,
auf die Frage lenken: was der Meister wohl zu den litterarischen Produk-
tionen seiner Büudlcr gesagt hätte? Er, der schon zu seiner Zeit klagte,
„daß die Politik und der Realismus jegliche schöne Litteratur und Kunst
töteten."

Es kaun mich dem Angeführten kaum zweifelhaft sein, daß Goethe nicht
sonderlich erbaut gewesen wäre von seinen? Vuud, und daß jeder, der sich von
ihm erziehen lassen null, Goethe in seinen Werken suchen muß, nicht in diesem
Bunde. Unendliches kann man an Goethe haben, wenn man ihn studiert,
immer wieder studiert. Mau kann von ihm das Sehen lernen, das objektive
Schauen von Natur, Kunst und Menschenleben. Man kann handeln von ihm
lernen, lernen die Gegenwart benutzen, sich selber und die gegebnen Verhält¬
nisse als Material betrachten, aus dem man etwas möglichst Schönes gestalten
soll. Und man kann die große Liebe von ihm lernen, die die ganze Welt
"mfaßt und alle Strebenden auch ohne äußeres Band zu einer Gemeinde ver¬
einigt, wie sie sich im „Wilhelm Meister" findet, ganz von selbst, durch die
Gemeinsamkeit deS Strebens. Dabei wird einem dann zugleich immer klarer,
daß dus. was nicht zusammengehört, sich scheiden sollte, und die Vereins-


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[0033] Goethe und der Goethebimd heit hielt er ein schönes Gespräch über die Vorzüge und Nachteile der Refor¬ mation und über die Vorzüge der katholischen und protestantischen Religion. Ich gab ihm vollkommen recht, wenn er die protestantische Religion beschuldigte, sie hätte dem einzelnen Individuum zu viel zu tragen gegeben. Ehemals konnte eine Gewissenslast durch andre vom Gewissen genommen werden, jetzt muß sie ein belastetes Gewissen selbst tragen und verliert darüber die Kraft, mit sich selber wieder in Harmonie zu kommen. Die Ohrenbeichte, sagte er, hätte dem Menschen nie sollen genommen werden." Im siebenten Buch vou „Dichtung und Wahrheit" zieht er gleichfalls eine Parallele zwischen Katho¬ lizismus und Protestantismus, die die Unzufriedenheit protestantischer Kreise erregte. In „Wilhelm Meisters Lehrjahren" hat er mit tiefstem Verständnis eine zwar nicht katholische, aber echt christliche Persönlichkeit geschildert (eine „Muckerin" würden viele Goethebündler sie nennen, ein Beiwort, dem auch die von Goethe hochgeschützte streng katholische Fürstin Galitzin kaum entgehn dürfte), in dem sechsten Buch nämlich, dessen Blätter in dem Handexemplar so manches Goethebündlers wohl noch zusammenkleben. Goethe wäre ohne Ver¬ ständnis für das Christentum überhaupt nicht der universelle Geist, den wir in ihm verehren. Er war eine religiöse Natur und vermochte sich die Kunst nicht ohne religiösen Untergrund vorzustellen; daß der Name Christus bei ihm so auffallend selten vorkommt, ist in seiner Abneigung gegen das Aussprechen der tiefsten Mysterien begründet. „Der große Heide" ist also ein sehr mi߬ verständliches Schlagwort, dürfte aber immerhin das einzige Material sein, das manche Mitglieder des Goethebundes zur Beurteilung von Goethes reli¬ giöser Stellung haben. Nebenbei wollen wir schließlich die Aufmerksamkeit der Goethekenner als ans eins der drolligen Dinge, an denen es beim Gocthebund nicht fehlt, auf die Frage lenken: was der Meister wohl zu den litterarischen Produk- tionen seiner Büudlcr gesagt hätte? Er, der schon zu seiner Zeit klagte, „daß die Politik und der Realismus jegliche schöne Litteratur und Kunst töteten." Es kaun mich dem Angeführten kaum zweifelhaft sein, daß Goethe nicht sonderlich erbaut gewesen wäre von seinen? Vuud, und daß jeder, der sich von ihm erziehen lassen null, Goethe in seinen Werken suchen muß, nicht in diesem Bunde. Unendliches kann man an Goethe haben, wenn man ihn studiert, immer wieder studiert. Mau kann von ihm das Sehen lernen, das objektive Schauen von Natur, Kunst und Menschenleben. Man kann handeln von ihm lernen, lernen die Gegenwart benutzen, sich selber und die gegebnen Verhält¬ nisse als Material betrachten, aus dem man etwas möglichst Schönes gestalten soll. Und man kann die große Liebe von ihm lernen, die die ganze Welt "mfaßt und alle Strebenden auch ohne äußeres Band zu einer Gemeinde ver¬ einigt, wie sie sich im „Wilhelm Meister" findet, ganz von selbst, durch die Gemeinsamkeit deS Strebens. Dabei wird einem dann zugleich immer klarer, daß dus. was nicht zusammengehört, sich scheiden sollte, und die Vereins-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/33>, abgerufen am 16.06.2024.