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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Abendland und Morgenland

ständische Gliederung, ein auf sich selbst stehender Adel kann sich nicht bilden,
denn dem Herrn gegenüber sind alle Unterthanen gleich, nämlich Knechte, also
rechtlos. Die Theokratie kann mir ans dem Boden geistig gebnndner, einer
absoluten Autorität bedürftiger Völker entstehn und sich nur unter solchen
halten, denn sie entspricht einer kindlichen Entwicklungsstufe, Hält sie die
Völker zu lauge aus einer solchen fest, so erstarren diese, und die Theokratie
hat dann oft eine Dauer vou Jahrtausenden; ist sie das nicht imstande, so
bricht sie zusammen, denn sie ist jeder wirklichen Reform unfähig.

Zu den stärksten Zeugnissen einer alles überragenden Weisheit, die Christus
gegeben hat, gehört es, daß er sich ans das sittlich-religiöse Gebiet, auf die Ver¬
mittlung des persönlichen Verhältnisses zwischen Gott und dem Menschen be¬
schränkte und sich dem Staate gegenüber ans das schlichte Wort zurückzog: "Gebet
dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist." Die Gründung
einer Theokratie hat Christus uicht gewollt. Gerade darin offenbart sich am
deutlichste", daß das Christentum, obwohl räumlich orientalischen Ursprungs,
doch nicht orientalischen Geistes ist. Wenn die theatralische Idee trotzdem anch
im Abeudlnude Boden gewann, so verdankt sie das der Schrift Augustins vom
Gottesstaat, einer der gefährlichsten und verhängnisvollsten Verirrungen des
abendländischen Geistes nach der orientalischen Seite hin, und nicht minder dem
unreifen Zustande der damaligen abendländischen Völker, die sie später immer
bekämpft und schließlich die päpstliche Theokratie auf das geistliche Gebiet be¬
schränkt oder ganz abgeworfen haben. In seiner orientalischen Heimat ist das
Christentum einer rohern Form deS Monotheismus, dem Islam, beinahe er¬
legen, weil der unfreie Geist dieser Völker ihm widerstrebte; im Abendland?
hat es gesiegt, weil es dein nach der persönlichen Geistesfreiheit ringenden
Wesen der westlichen Nationen entgegenkam.

Während die christlich-abendländische Kultur laugsam in den theokrntischen
Orient eindrang, hat dieser Orient halb unbemerkt, weil unter abendländischen
Forme" versteckt, einen neuen umfassenden Vorstoß gegen Europa begonnen,
nämlich i" der Ausbreitung des russischen Reichs, Denn Nußland ist kein
europäischer Staat. Schon die unermeßlichen gleichförmigen Ebenen, die von
der mannigfaltigen landschaftlichen Gestaltung des mittlern und westlichen
Enrovn so stark abstechen, begünstigen auch eine Gleichförmigkeit der Volksart
und Volkssitte (das Großrussische hat z. B. gar keine Dialekte), die in Europa
unerhört ist, und erzeugen, verkehrsarm wie sie sind, eine öde Eintönigkeit
des ganzen Lebens, "die breite Stille" (ZUirolcssa tisollina), wie man dort
sagt, die auf den Geist lähmend und einschläfernd wirkt. Sodann sind die
herrschenden Großrussen stark mit mongolisch-tatarischen Elementen durchsetzt,
die selbst fast ungemischt in großer Ausdehnung noch längs der Wolga wohnen;
sie sind jahrhundertelang den Mongolen unterworfen gewesen, ihr Zartum
selbst beruht ursprünglich auf der dem Großfürsten von Moskau durch den
Khan der Goldner Horde übertragnen Gewalt. Das Christentum aber hat
Rußland nicht von Rom, sondern von Byzanz empfangen, es ist also zu dem


Abendland und Morgenland

ständische Gliederung, ein auf sich selbst stehender Adel kann sich nicht bilden,
denn dem Herrn gegenüber sind alle Unterthanen gleich, nämlich Knechte, also
rechtlos. Die Theokratie kann mir ans dem Boden geistig gebnndner, einer
absoluten Autorität bedürftiger Völker entstehn und sich nur unter solchen
halten, denn sie entspricht einer kindlichen Entwicklungsstufe, Hält sie die
Völker zu lauge aus einer solchen fest, so erstarren diese, und die Theokratie
hat dann oft eine Dauer vou Jahrtausenden; ist sie das nicht imstande, so
bricht sie zusammen, denn sie ist jeder wirklichen Reform unfähig.

Zu den stärksten Zeugnissen einer alles überragenden Weisheit, die Christus
gegeben hat, gehört es, daß er sich ans das sittlich-religiöse Gebiet, auf die Ver¬
mittlung des persönlichen Verhältnisses zwischen Gott und dem Menschen be¬
schränkte und sich dem Staate gegenüber ans das schlichte Wort zurückzog: „Gebet
dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist." Die Gründung
einer Theokratie hat Christus uicht gewollt. Gerade darin offenbart sich am
deutlichste», daß das Christentum, obwohl räumlich orientalischen Ursprungs,
doch nicht orientalischen Geistes ist. Wenn die theatralische Idee trotzdem anch
im Abeudlnude Boden gewann, so verdankt sie das der Schrift Augustins vom
Gottesstaat, einer der gefährlichsten und verhängnisvollsten Verirrungen des
abendländischen Geistes nach der orientalischen Seite hin, und nicht minder dem
unreifen Zustande der damaligen abendländischen Völker, die sie später immer
bekämpft und schließlich die päpstliche Theokratie auf das geistliche Gebiet be¬
schränkt oder ganz abgeworfen haben. In seiner orientalischen Heimat ist das
Christentum einer rohern Form deS Monotheismus, dem Islam, beinahe er¬
legen, weil der unfreie Geist dieser Völker ihm widerstrebte; im Abendland?
hat es gesiegt, weil es dein nach der persönlichen Geistesfreiheit ringenden
Wesen der westlichen Nationen entgegenkam.

Während die christlich-abendländische Kultur laugsam in den theokrntischen
Orient eindrang, hat dieser Orient halb unbemerkt, weil unter abendländischen
Forme» versteckt, einen neuen umfassenden Vorstoß gegen Europa begonnen,
nämlich i» der Ausbreitung des russischen Reichs, Denn Nußland ist kein
europäischer Staat. Schon die unermeßlichen gleichförmigen Ebenen, die von
der mannigfaltigen landschaftlichen Gestaltung des mittlern und westlichen
Enrovn so stark abstechen, begünstigen auch eine Gleichförmigkeit der Volksart
und Volkssitte (das Großrussische hat z. B. gar keine Dialekte), die in Europa
unerhört ist, und erzeugen, verkehrsarm wie sie sind, eine öde Eintönigkeit
des ganzen Lebens, „die breite Stille" (ZUirolcssa tisollina), wie man dort
sagt, die auf den Geist lähmend und einschläfernd wirkt. Sodann sind die
herrschenden Großrussen stark mit mongolisch-tatarischen Elementen durchsetzt,
die selbst fast ungemischt in großer Ausdehnung noch längs der Wolga wohnen;
sie sind jahrhundertelang den Mongolen unterworfen gewesen, ihr Zartum
selbst beruht ursprünglich auf der dem Großfürsten von Moskau durch den
Khan der Goldner Horde übertragnen Gewalt. Das Christentum aber hat
Rußland nicht von Rom, sondern von Byzanz empfangen, es ist also zu dem


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[0011] Abendland und Morgenland ständische Gliederung, ein auf sich selbst stehender Adel kann sich nicht bilden, denn dem Herrn gegenüber sind alle Unterthanen gleich, nämlich Knechte, also rechtlos. Die Theokratie kann mir ans dem Boden geistig gebnndner, einer absoluten Autorität bedürftiger Völker entstehn und sich nur unter solchen halten, denn sie entspricht einer kindlichen Entwicklungsstufe, Hält sie die Völker zu lauge aus einer solchen fest, so erstarren diese, und die Theokratie hat dann oft eine Dauer vou Jahrtausenden; ist sie das nicht imstande, so bricht sie zusammen, denn sie ist jeder wirklichen Reform unfähig. Zu den stärksten Zeugnissen einer alles überragenden Weisheit, die Christus gegeben hat, gehört es, daß er sich ans das sittlich-religiöse Gebiet, auf die Ver¬ mittlung des persönlichen Verhältnisses zwischen Gott und dem Menschen be¬ schränkte und sich dem Staate gegenüber ans das schlichte Wort zurückzog: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist." Die Gründung einer Theokratie hat Christus uicht gewollt. Gerade darin offenbart sich am deutlichste», daß das Christentum, obwohl räumlich orientalischen Ursprungs, doch nicht orientalischen Geistes ist. Wenn die theatralische Idee trotzdem anch im Abeudlnude Boden gewann, so verdankt sie das der Schrift Augustins vom Gottesstaat, einer der gefährlichsten und verhängnisvollsten Verirrungen des abendländischen Geistes nach der orientalischen Seite hin, und nicht minder dem unreifen Zustande der damaligen abendländischen Völker, die sie später immer bekämpft und schließlich die päpstliche Theokratie auf das geistliche Gebiet be¬ schränkt oder ganz abgeworfen haben. In seiner orientalischen Heimat ist das Christentum einer rohern Form deS Monotheismus, dem Islam, beinahe er¬ legen, weil der unfreie Geist dieser Völker ihm widerstrebte; im Abendland? hat es gesiegt, weil es dein nach der persönlichen Geistesfreiheit ringenden Wesen der westlichen Nationen entgegenkam. Während die christlich-abendländische Kultur laugsam in den theokrntischen Orient eindrang, hat dieser Orient halb unbemerkt, weil unter abendländischen Forme» versteckt, einen neuen umfassenden Vorstoß gegen Europa begonnen, nämlich i» der Ausbreitung des russischen Reichs, Denn Nußland ist kein europäischer Staat. Schon die unermeßlichen gleichförmigen Ebenen, die von der mannigfaltigen landschaftlichen Gestaltung des mittlern und westlichen Enrovn so stark abstechen, begünstigen auch eine Gleichförmigkeit der Volksart und Volkssitte (das Großrussische hat z. B. gar keine Dialekte), die in Europa unerhört ist, und erzeugen, verkehrsarm wie sie sind, eine öde Eintönigkeit des ganzen Lebens, „die breite Stille" (ZUirolcssa tisollina), wie man dort sagt, die auf den Geist lähmend und einschläfernd wirkt. Sodann sind die herrschenden Großrussen stark mit mongolisch-tatarischen Elementen durchsetzt, die selbst fast ungemischt in großer Ausdehnung noch längs der Wolga wohnen; sie sind jahrhundertelang den Mongolen unterworfen gewesen, ihr Zartum selbst beruht ursprünglich auf der dem Großfürsten von Moskau durch den Khan der Goldner Horde übertragnen Gewalt. Das Christentum aber hat Rußland nicht von Rom, sondern von Byzanz empfangen, es ist also zu dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/11>, abgerufen am 22.05.2024.