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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

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Abendland und Morgenland

Was folgt aus dieser Stellung des Deutschen Reichs für die gegenwärtige
Weltlage? sollen wir das ungeheure Schwergewicht des Ostens dadurch ver¬
stärke", daß wir uns in die russische Gefolgschaft begeben und uns unter Um¬
ständen zum Stnrmbock gegen die britische Weltmacht brauchen lassen? Steht es
wirklich so, daß, wie Fürst Bismarck gern hervorhob, uur ehrgeizige Staatsmänner
und Leute polnischer Abkunft einen Gegensatz zwischen Rußland und Deutsch¬
land künstlich hervorrufen? Reicht wirklich die Bismarckische Formel noch aus:
"Es lag und liegt nicht in unserm Interesse, Rußland in der Verwendung
seiner überschüssigen Kräfte nach Osten hin hinderlich zu sein. Mit Frankreich
werden wir nie Frieden haben, mit Rußland nie die Notwendigkeit des Kriegs,
wenn nicht liberale Dummheiten oder dynastische Mißgriffe die Situation
fälschen"? (Gedanken und Erinnerungen I, 224.) Liegt es in unserm Interesse,
den äußersten Osten den Russen zu überlassen, nur damit sie uns in Europa
nichts zu leide thun? Unsre Reichspolitik hat diese Frage schon verneint;
sie ist 1895 den siegreichen Japanern, damals mit Rußland und seinein fran¬
zösischen Vasallenstaate im Bunde, in den Arm gefallen, um sich die Thüren
nach China nicht zuschlagen zu lassen, und so entschieden Graf Bülow jüngst
betont hat, eine "gut geleitete" russische Politik könne mit einer "gut geleiteten"
deutschen Politik niemals feindlich zusammenstoßen, so energisch hat er doch
auch hervorgehoben, daß sich Deutschland seineu "Platz um der Sonue" dort
von niemand nehmen lassen wird. Einen Konflikt mit Rußland kann bei uns
niemand wünsche", denn es stünde hier sehr großes auf dem Spiele, und wir
haben zu Rußland schon durch die Hunderttausende der dort angesiedelten
Deutschen sehr enge Beziehungen, aber nur gehöre!? eben doch zum Westen,
und zum Westen gehört auch England. Unsre wirtschaftlichen Beziehungen zu
England sind ungleich stärker als die zu Rußland, und mit England haben
wir eine gemeinsame Kulturbasis, mit Rußland nicht. Diesen Thatbestand
darf die tiefe Erbitterung, die bei uns jetzt in weiten Kreisen gegen England
herrscht, nicht verdunkeln, und weil diese Stimmung jetzt überwiegt, so ist es
die Pflicht auch einer besonnenen Presse, ihr diese Thatsache entgegenzuhalten.
Das hat letzthin Erich Marcks von historischem Standpunkt aus in einer geist¬
reichen Broschüre gethan (Deutschland und England in den großen europäischen
Krisen seit der Reformation, Stuttgart, I. G. Cottci, 1900), worin er nach¬
weist, daß beide Völker trotz starker Gegellsätze immer wieder Seite an Seite
gedrängt worden sind. Die unfreundliche oder geradezu feindselige Haltung,
die England oft genug und bis in die jüngste Zeit deutschen Interessen gegen¬
über eingenommen hat, bemäntelt er natürlich durchaus nicht, er sucht sie nur
aus den englischen Interessen und Stimmungen zu erklären, und von einem
festen, dauernden Vertragsverhältnis zwischen Deutschland und England kann,
wie die Dinge drüben liegen, gar keine Rede sein, nur von gelegentlichen Ab¬
machungen. Aber so berechtigt die Erbitterung gegen den südafrikanischen
Raubkrieg auch ist, wir können doch auch den Zusammenbruch des britischen
Reichs, der uur das Übergewicht Rußlands verstärken würde, kaum wünschen


Abendland und Morgenland

Was folgt aus dieser Stellung des Deutschen Reichs für die gegenwärtige
Weltlage? sollen wir das ungeheure Schwergewicht des Ostens dadurch ver¬
stärke», daß wir uns in die russische Gefolgschaft begeben und uns unter Um¬
ständen zum Stnrmbock gegen die britische Weltmacht brauchen lassen? Steht es
wirklich so, daß, wie Fürst Bismarck gern hervorhob, uur ehrgeizige Staatsmänner
und Leute polnischer Abkunft einen Gegensatz zwischen Rußland und Deutsch¬
land künstlich hervorrufen? Reicht wirklich die Bismarckische Formel noch aus:
„Es lag und liegt nicht in unserm Interesse, Rußland in der Verwendung
seiner überschüssigen Kräfte nach Osten hin hinderlich zu sein. Mit Frankreich
werden wir nie Frieden haben, mit Rußland nie die Notwendigkeit des Kriegs,
wenn nicht liberale Dummheiten oder dynastische Mißgriffe die Situation
fälschen"? (Gedanken und Erinnerungen I, 224.) Liegt es in unserm Interesse,
den äußersten Osten den Russen zu überlassen, nur damit sie uns in Europa
nichts zu leide thun? Unsre Reichspolitik hat diese Frage schon verneint;
sie ist 1895 den siegreichen Japanern, damals mit Rußland und seinein fran¬
zösischen Vasallenstaate im Bunde, in den Arm gefallen, um sich die Thüren
nach China nicht zuschlagen zu lassen, und so entschieden Graf Bülow jüngst
betont hat, eine „gut geleitete" russische Politik könne mit einer „gut geleiteten"
deutschen Politik niemals feindlich zusammenstoßen, so energisch hat er doch
auch hervorgehoben, daß sich Deutschland seineu „Platz um der Sonue" dort
von niemand nehmen lassen wird. Einen Konflikt mit Rußland kann bei uns
niemand wünsche», denn es stünde hier sehr großes auf dem Spiele, und wir
haben zu Rußland schon durch die Hunderttausende der dort angesiedelten
Deutschen sehr enge Beziehungen, aber nur gehöre!? eben doch zum Westen,
und zum Westen gehört auch England. Unsre wirtschaftlichen Beziehungen zu
England sind ungleich stärker als die zu Rußland, und mit England haben
wir eine gemeinsame Kulturbasis, mit Rußland nicht. Diesen Thatbestand
darf die tiefe Erbitterung, die bei uns jetzt in weiten Kreisen gegen England
herrscht, nicht verdunkeln, und weil diese Stimmung jetzt überwiegt, so ist es
die Pflicht auch einer besonnenen Presse, ihr diese Thatsache entgegenzuhalten.
Das hat letzthin Erich Marcks von historischem Standpunkt aus in einer geist¬
reichen Broschüre gethan (Deutschland und England in den großen europäischen
Krisen seit der Reformation, Stuttgart, I. G. Cottci, 1900), worin er nach¬
weist, daß beide Völker trotz starker Gegellsätze immer wieder Seite an Seite
gedrängt worden sind. Die unfreundliche oder geradezu feindselige Haltung,
die England oft genug und bis in die jüngste Zeit deutschen Interessen gegen¬
über eingenommen hat, bemäntelt er natürlich durchaus nicht, er sucht sie nur
aus den englischen Interessen und Stimmungen zu erklären, und von einem
festen, dauernden Vertragsverhältnis zwischen Deutschland und England kann,
wie die Dinge drüben liegen, gar keine Rede sein, nur von gelegentlichen Ab¬
machungen. Aber so berechtigt die Erbitterung gegen den südafrikanischen
Raubkrieg auch ist, wir können doch auch den Zusammenbruch des britischen
Reichs, der uur das Übergewicht Rußlands verstärken würde, kaum wünschen


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[0016] Abendland und Morgenland Was folgt aus dieser Stellung des Deutschen Reichs für die gegenwärtige Weltlage? sollen wir das ungeheure Schwergewicht des Ostens dadurch ver¬ stärke», daß wir uns in die russische Gefolgschaft begeben und uns unter Um¬ ständen zum Stnrmbock gegen die britische Weltmacht brauchen lassen? Steht es wirklich so, daß, wie Fürst Bismarck gern hervorhob, uur ehrgeizige Staatsmänner und Leute polnischer Abkunft einen Gegensatz zwischen Rußland und Deutsch¬ land künstlich hervorrufen? Reicht wirklich die Bismarckische Formel noch aus: „Es lag und liegt nicht in unserm Interesse, Rußland in der Verwendung seiner überschüssigen Kräfte nach Osten hin hinderlich zu sein. Mit Frankreich werden wir nie Frieden haben, mit Rußland nie die Notwendigkeit des Kriegs, wenn nicht liberale Dummheiten oder dynastische Mißgriffe die Situation fälschen"? (Gedanken und Erinnerungen I, 224.) Liegt es in unserm Interesse, den äußersten Osten den Russen zu überlassen, nur damit sie uns in Europa nichts zu leide thun? Unsre Reichspolitik hat diese Frage schon verneint; sie ist 1895 den siegreichen Japanern, damals mit Rußland und seinein fran¬ zösischen Vasallenstaate im Bunde, in den Arm gefallen, um sich die Thüren nach China nicht zuschlagen zu lassen, und so entschieden Graf Bülow jüngst betont hat, eine „gut geleitete" russische Politik könne mit einer „gut geleiteten" deutschen Politik niemals feindlich zusammenstoßen, so energisch hat er doch auch hervorgehoben, daß sich Deutschland seineu „Platz um der Sonue" dort von niemand nehmen lassen wird. Einen Konflikt mit Rußland kann bei uns niemand wünsche», denn es stünde hier sehr großes auf dem Spiele, und wir haben zu Rußland schon durch die Hunderttausende der dort angesiedelten Deutschen sehr enge Beziehungen, aber nur gehöre!? eben doch zum Westen, und zum Westen gehört auch England. Unsre wirtschaftlichen Beziehungen zu England sind ungleich stärker als die zu Rußland, und mit England haben wir eine gemeinsame Kulturbasis, mit Rußland nicht. Diesen Thatbestand darf die tiefe Erbitterung, die bei uns jetzt in weiten Kreisen gegen England herrscht, nicht verdunkeln, und weil diese Stimmung jetzt überwiegt, so ist es die Pflicht auch einer besonnenen Presse, ihr diese Thatsache entgegenzuhalten. Das hat letzthin Erich Marcks von historischem Standpunkt aus in einer geist¬ reichen Broschüre gethan (Deutschland und England in den großen europäischen Krisen seit der Reformation, Stuttgart, I. G. Cottci, 1900), worin er nach¬ weist, daß beide Völker trotz starker Gegellsätze immer wieder Seite an Seite gedrängt worden sind. Die unfreundliche oder geradezu feindselige Haltung, die England oft genug und bis in die jüngste Zeit deutschen Interessen gegen¬ über eingenommen hat, bemäntelt er natürlich durchaus nicht, er sucht sie nur aus den englischen Interessen und Stimmungen zu erklären, und von einem festen, dauernden Vertragsverhältnis zwischen Deutschland und England kann, wie die Dinge drüben liegen, gar keine Rede sein, nur von gelegentlichen Ab¬ machungen. Aber so berechtigt die Erbitterung gegen den südafrikanischen Raubkrieg auch ist, wir können doch auch den Zusammenbruch des britischen Reichs, der uur das Übergewicht Rußlands verstärken würde, kaum wünschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/16>, abgerufen am 22.05.2024.