Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Handelspolitik im Jahre ^9^U

reichen," die Professor Ernst Frau cke in einem Aufsatz über die "zollpolitischen
Einigungsbestrebnngen in Mitteleuropa wahrend des letzten Jahrzehnts" vertritt.
Es verlohnt sich, einen kurzen Blick darauf zu werfen.

Conrads Ansichten sind den Greuzbotenlesern nicht fremd. Sie sind wieder¬
holt von uns besprochen worden, lind zwar im großen und ganzen fast immer
>" zustimmenden Sinne. Conrad ist nicht nnr einer der besten Kenner der
ostelbischcu Landwirtschaft unter unsern Natiomllökonomen, der seine Kenntnis
und Wissenschaft nicht erst in den beiden letzten Jahrzehnten gewonnen,
sondern schon seit den sechziger Jahren gehabt und ergänzt hat, er ist auch ein
aufrichtiger Freund dieses schönen Berufs, dem sein Vaterhaus angehört, und
mit dem er persönlich immer Fühlung behalte" hat. Er ist zugleich einer der
von Schnlprograinmen und Schultendenzen unabhängigsten deutschen Volks¬
wirte und von Priuzipienreiterei und Rechthaberei weit entfernt. Den begründeten
Ansprüchen der Landwirtschaft nicht gerecht zu werde", würde er geradezu für
eine Sünde halten, sehr viel mehr als die Herren, die sich in überschweng¬
licher Vauerufreuudschaft und Schollenvcrherrlichung gefallen. Gewiß kann
auch er irren, aber gerade jetzt fällt sein Urteil schwer in die Wagschale, weil
es ihm eben um nichts zu thun ist als um die Wahrheit, waS leider von dem
modernen nationalökonomischen Strebertum, das sich in Berlin breit macht,
nicht gesagt werden kann. So ist es denn von ganz außerordentlicher Be¬
deutung, daß gerade Conrad sein Urteil in der ausschlaggebenden Vorfrage
folgendermaßen abgiebt:

Unsre Landwirte litten noch in der Gegenwart sehr nnter niedrigen Ge-
treidepreisen, und für die nächste Zeit sei nicht anzunehmen, daß die Welt¬
marktpreise in die Höhe gehn würden. Deshalb sei einstweilen die Beseitigung
der bestehenden Zölle unmöglich. Der landwirtschaftliche Betrieb dagegen sei
ü> entschiednen Aufschwung, es sei deshalb zu erwarte", daß die Depression
in einiger Zeit hier ebenso überwunden werde, wie es in andern Ländern,
wie Holland, Dänemark und zum größten Teil auch in England der Fall sei.
Eine Erhöhung der Zölle scheine darum nicht unbedingt erforderlich und deshalb
unzulässig. Am ersten könnte sie gerechtfertigt werden bei der Gerste, "ans das
entschiedenste verwerflich" sei sie dagegen beim Roggen, denn dadurch würde die
große Masse der untern Klassen noch mehr belastet werden. Eine Erhöhung
des HnferzollS werde wohl kaum beabsichtigt. Es wäre aber eine Herabsetzung
oder womöglich die Beseitigung im Interesse der Viehzucht sehr zu wünschen.
Bei der Eigentümlichkeit der Agrarzölle stehe zu befürchten, daß eine Erhöhung
im jetzigen Augenblick nnr zu einer künstlichen Steigerung des Grundwerth
führen würde, ohne zur Gesundung der Landwirtschaft beizutragen, sodaß nach
Ablauf der bevorstehenden Handelsverträge die Klagen der Landwirte sich gleich
bleiben würden lind Forderungen weiterer Zollerhöhungcn befürchtet werden
müßten, ebenso wie jetzt die Ansprüche auf eine weitere Erhöhung genau ebenso
sein würden, wenn Anfang der neunziger Jahre die Ermäßigung der Zölle
nicht stattgefunden hätte.


Grenzboten I 1901 3
Die Handelspolitik im Jahre ^9^U

reichen," die Professor Ernst Frau cke in einem Aufsatz über die „zollpolitischen
Einigungsbestrebnngen in Mitteleuropa wahrend des letzten Jahrzehnts" vertritt.
Es verlohnt sich, einen kurzen Blick darauf zu werfen.

Conrads Ansichten sind den Greuzbotenlesern nicht fremd. Sie sind wieder¬
holt von uns besprochen worden, lind zwar im großen und ganzen fast immer
>" zustimmenden Sinne. Conrad ist nicht nnr einer der besten Kenner der
ostelbischcu Landwirtschaft unter unsern Natiomllökonomen, der seine Kenntnis
und Wissenschaft nicht erst in den beiden letzten Jahrzehnten gewonnen,
sondern schon seit den sechziger Jahren gehabt und ergänzt hat, er ist auch ein
aufrichtiger Freund dieses schönen Berufs, dem sein Vaterhaus angehört, und
mit dem er persönlich immer Fühlung behalte« hat. Er ist zugleich einer der
von Schnlprograinmen und Schultendenzen unabhängigsten deutschen Volks¬
wirte und von Priuzipienreiterei und Rechthaberei weit entfernt. Den begründeten
Ansprüchen der Landwirtschaft nicht gerecht zu werde», würde er geradezu für
eine Sünde halten, sehr viel mehr als die Herren, die sich in überschweng¬
licher Vauerufreuudschaft und Schollenvcrherrlichung gefallen. Gewiß kann
auch er irren, aber gerade jetzt fällt sein Urteil schwer in die Wagschale, weil
es ihm eben um nichts zu thun ist als um die Wahrheit, waS leider von dem
modernen nationalökonomischen Strebertum, das sich in Berlin breit macht,
nicht gesagt werden kann. So ist es denn von ganz außerordentlicher Be¬
deutung, daß gerade Conrad sein Urteil in der ausschlaggebenden Vorfrage
folgendermaßen abgiebt:

Unsre Landwirte litten noch in der Gegenwart sehr nnter niedrigen Ge-
treidepreisen, und für die nächste Zeit sei nicht anzunehmen, daß die Welt¬
marktpreise in die Höhe gehn würden. Deshalb sei einstweilen die Beseitigung
der bestehenden Zölle unmöglich. Der landwirtschaftliche Betrieb dagegen sei
ü> entschiednen Aufschwung, es sei deshalb zu erwarte», daß die Depression
in einiger Zeit hier ebenso überwunden werde, wie es in andern Ländern,
wie Holland, Dänemark und zum größten Teil auch in England der Fall sei.
Eine Erhöhung der Zölle scheine darum nicht unbedingt erforderlich und deshalb
unzulässig. Am ersten könnte sie gerechtfertigt werden bei der Gerste, „ans das
entschiedenste verwerflich" sei sie dagegen beim Roggen, denn dadurch würde die
große Masse der untern Klassen noch mehr belastet werden. Eine Erhöhung
des HnferzollS werde wohl kaum beabsichtigt. Es wäre aber eine Herabsetzung
oder womöglich die Beseitigung im Interesse der Viehzucht sehr zu wünschen.
Bei der Eigentümlichkeit der Agrarzölle stehe zu befürchten, daß eine Erhöhung
im jetzigen Augenblick nnr zu einer künstlichen Steigerung des Grundwerth
führen würde, ohne zur Gesundung der Landwirtschaft beizutragen, sodaß nach
Ablauf der bevorstehenden Handelsverträge die Klagen der Landwirte sich gleich
bleiben würden lind Forderungen weiterer Zollerhöhungcn befürchtet werden
müßten, ebenso wie jetzt die Ansprüche auf eine weitere Erhöhung genau ebenso
sein würden, wenn Anfang der neunziger Jahre die Ermäßigung der Zölle
nicht stattgefunden hätte.


Grenzboten I 1901 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0025" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/233905"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Handelspolitik im Jahre ^9^U</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_38" prev="#ID_37"> reichen," die Professor Ernst Frau cke in einem Aufsatz über die &#x201E;zollpolitischen<lb/>
Einigungsbestrebnngen in Mitteleuropa wahrend des letzten Jahrzehnts" vertritt.<lb/>
Es verlohnt sich, einen kurzen Blick darauf zu werfen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_39"> Conrads Ansichten sind den Greuzbotenlesern nicht fremd. Sie sind wieder¬<lb/>
holt von uns besprochen worden, lind zwar im großen und ganzen fast immer<lb/>
&gt;" zustimmenden Sinne. Conrad ist nicht nnr einer der besten Kenner der<lb/>
ostelbischcu Landwirtschaft unter unsern Natiomllökonomen, der seine Kenntnis<lb/>
und Wissenschaft nicht erst in den beiden letzten Jahrzehnten gewonnen,<lb/>
sondern schon seit den sechziger Jahren gehabt und ergänzt hat, er ist auch ein<lb/>
aufrichtiger Freund dieses schönen Berufs, dem sein Vaterhaus angehört, und<lb/>
mit dem er persönlich immer Fühlung behalte« hat. Er ist zugleich einer der<lb/>
von Schnlprograinmen und Schultendenzen unabhängigsten deutschen Volks¬<lb/>
wirte und von Priuzipienreiterei und Rechthaberei weit entfernt. Den begründeten<lb/>
Ansprüchen der Landwirtschaft nicht gerecht zu werde», würde er geradezu für<lb/>
eine Sünde halten, sehr viel mehr als die Herren, die sich in überschweng¬<lb/>
licher Vauerufreuudschaft und Schollenvcrherrlichung gefallen. Gewiß kann<lb/>
auch er irren, aber gerade jetzt fällt sein Urteil schwer in die Wagschale, weil<lb/>
es ihm eben um nichts zu thun ist als um die Wahrheit, waS leider von dem<lb/>
modernen nationalökonomischen Strebertum, das sich in Berlin breit macht,<lb/>
nicht gesagt werden kann. So ist es denn von ganz außerordentlicher Be¬<lb/>
deutung, daß gerade Conrad sein Urteil in der ausschlaggebenden Vorfrage<lb/>
folgendermaßen abgiebt:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_40"> Unsre Landwirte litten noch in der Gegenwart sehr nnter niedrigen Ge-<lb/>
treidepreisen, und für die nächste Zeit sei nicht anzunehmen, daß die Welt¬<lb/>
marktpreise in die Höhe gehn würden. Deshalb sei einstweilen die Beseitigung<lb/>
der bestehenden Zölle unmöglich. Der landwirtschaftliche Betrieb dagegen sei<lb/>
ü&gt; entschiednen Aufschwung, es sei deshalb zu erwarte», daß die Depression<lb/>
in einiger Zeit hier ebenso überwunden werde, wie es in andern Ländern,<lb/>
wie Holland, Dänemark und zum größten Teil auch in England der Fall sei.<lb/>
Eine Erhöhung der Zölle scheine darum nicht unbedingt erforderlich und deshalb<lb/>
unzulässig. Am ersten könnte sie gerechtfertigt werden bei der Gerste, &#x201E;ans das<lb/>
entschiedenste verwerflich" sei sie dagegen beim Roggen, denn dadurch würde die<lb/>
große Masse der untern Klassen noch mehr belastet werden. Eine Erhöhung<lb/>
des HnferzollS werde wohl kaum beabsichtigt. Es wäre aber eine Herabsetzung<lb/>
oder womöglich die Beseitigung im Interesse der Viehzucht sehr zu wünschen.<lb/>
Bei der Eigentümlichkeit der Agrarzölle stehe zu befürchten, daß eine Erhöhung<lb/>
im jetzigen Augenblick nnr zu einer künstlichen Steigerung des Grundwerth<lb/>
führen würde, ohne zur Gesundung der Landwirtschaft beizutragen, sodaß nach<lb/>
Ablauf der bevorstehenden Handelsverträge die Klagen der Landwirte sich gleich<lb/>
bleiben würden lind Forderungen weiterer Zollerhöhungcn befürchtet werden<lb/>
müßten, ebenso wie jetzt die Ansprüche auf eine weitere Erhöhung genau ebenso<lb/>
sein würden, wenn Anfang der neunziger Jahre die Ermäßigung der Zölle<lb/>
nicht stattgefunden hätte.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1901 3</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0025] Die Handelspolitik im Jahre ^9^U reichen," die Professor Ernst Frau cke in einem Aufsatz über die „zollpolitischen Einigungsbestrebnngen in Mitteleuropa wahrend des letzten Jahrzehnts" vertritt. Es verlohnt sich, einen kurzen Blick darauf zu werfen. Conrads Ansichten sind den Greuzbotenlesern nicht fremd. Sie sind wieder¬ holt von uns besprochen worden, lind zwar im großen und ganzen fast immer >" zustimmenden Sinne. Conrad ist nicht nnr einer der besten Kenner der ostelbischcu Landwirtschaft unter unsern Natiomllökonomen, der seine Kenntnis und Wissenschaft nicht erst in den beiden letzten Jahrzehnten gewonnen, sondern schon seit den sechziger Jahren gehabt und ergänzt hat, er ist auch ein aufrichtiger Freund dieses schönen Berufs, dem sein Vaterhaus angehört, und mit dem er persönlich immer Fühlung behalte« hat. Er ist zugleich einer der von Schnlprograinmen und Schultendenzen unabhängigsten deutschen Volks¬ wirte und von Priuzipienreiterei und Rechthaberei weit entfernt. Den begründeten Ansprüchen der Landwirtschaft nicht gerecht zu werde», würde er geradezu für eine Sünde halten, sehr viel mehr als die Herren, die sich in überschweng¬ licher Vauerufreuudschaft und Schollenvcrherrlichung gefallen. Gewiß kann auch er irren, aber gerade jetzt fällt sein Urteil schwer in die Wagschale, weil es ihm eben um nichts zu thun ist als um die Wahrheit, waS leider von dem modernen nationalökonomischen Strebertum, das sich in Berlin breit macht, nicht gesagt werden kann. So ist es denn von ganz außerordentlicher Be¬ deutung, daß gerade Conrad sein Urteil in der ausschlaggebenden Vorfrage folgendermaßen abgiebt: Unsre Landwirte litten noch in der Gegenwart sehr nnter niedrigen Ge- treidepreisen, und für die nächste Zeit sei nicht anzunehmen, daß die Welt¬ marktpreise in die Höhe gehn würden. Deshalb sei einstweilen die Beseitigung der bestehenden Zölle unmöglich. Der landwirtschaftliche Betrieb dagegen sei ü> entschiednen Aufschwung, es sei deshalb zu erwarte», daß die Depression in einiger Zeit hier ebenso überwunden werde, wie es in andern Ländern, wie Holland, Dänemark und zum größten Teil auch in England der Fall sei. Eine Erhöhung der Zölle scheine darum nicht unbedingt erforderlich und deshalb unzulässig. Am ersten könnte sie gerechtfertigt werden bei der Gerste, „ans das entschiedenste verwerflich" sei sie dagegen beim Roggen, denn dadurch würde die große Masse der untern Klassen noch mehr belastet werden. Eine Erhöhung des HnferzollS werde wohl kaum beabsichtigt. Es wäre aber eine Herabsetzung oder womöglich die Beseitigung im Interesse der Viehzucht sehr zu wünschen. Bei der Eigentümlichkeit der Agrarzölle stehe zu befürchten, daß eine Erhöhung im jetzigen Augenblick nnr zu einer künstlichen Steigerung des Grundwerth führen würde, ohne zur Gesundung der Landwirtschaft beizutragen, sodaß nach Ablauf der bevorstehenden Handelsverträge die Klagen der Landwirte sich gleich bleiben würden lind Forderungen weiterer Zollerhöhungcn befürchtet werden müßten, ebenso wie jetzt die Ansprüche auf eine weitere Erhöhung genau ebenso sein würden, wenn Anfang der neunziger Jahre die Ermäßigung der Zölle nicht stattgefunden hätte. Grenzboten I 1901 3

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/25
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_233879/25>, abgerufen am 22.05.2024.