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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Die modernen Italiener denken und handeln ganz ähnlich, und ihre
Sitte, auch ihrer Trauer um Verstorbne in ausführlichen Inschriften wie in
reichen plastischen Denkmälern Ausdruck zu geben, die den großen italienischen
Friedhöfen ihren eigentümlichen Charakter verleiht, wurzelt in demselben Be¬
dürfnis.

Das Lebensideal hängt immer von der religiös-sittlichen Weltan¬
schauung ab; wie steht es damit bei Horaz und seinen Zeitgenossen? Sicher ist
damals bei den gebildeten Römern der alte Glaube an die nationalen Götter
selbst in ihrer griechischen Aus- und Umgestaltung längst aufgelöst; sie siud dem
Dichter nur noch poetische Figuren oder allenfalls Personifikationen bestimmter
Begriffe; ein persönliches Verhältnis zu ihnen hat er nicht. Im Volke freilich
war die abergläubische Furcht vor den Göttern, der tiuror äsormri, so wenig
erstorben, daß Horaz sie von einem Stoiker als eine der vier größten Narr-
heiten des Menschen verspotten läßt,'") Dafür suchen manche seiner gebil¬
deten Zeitgenossen eine Art von Ersatz im Anschluß an das Judentum, das
ihnen als eine besonders merkwürdige und eigentümliche Form orientalischer
Kulte erschienen sein mag. Die Juden waren schon zu Cäsars Zeit in Rom
eine mächtige Genossenschaft, vor der man sich in acht nehmen mußte, und
die eifrig Propaganda trieb, sodaß Horaz im Scherz seinen Feinden zuruft,
sie sollten sich vor ihm und der ganzen Dichtcrzunft hüten, sonst würden
sie über sie kommen wie die Juden. sein Freund Austins Fuscus nimmt an
ihrer Sabbnthfeier teil, und er leugnet diese Schwäche nicht, als "einer von
vielen."^) Horaz selbst teilt allerdings diesen "Aberglauben" uicht und ver¬
spottet deshalb gelegentlich die Juden. Aber ob er andern ähnlichen Dingen
gegenüber so sicher war? Zwar die Prophezeiung einer alten Frau nus dem
Sabinerlande, dem gelobten Lande der Hexerei und Wahrsagern, er möge sich
vor den Schwätzern hüten, nimmt er, trotz des feierlichen Tones, den er an¬
schlägt, schwerlich Ernst;"-') aber sein Kampf gegen die böse Hexe Canidici, die
er bald mit grimmigem Hasse, bald mit beißendem Spotte verfolgt, verrät doch
wohl die geheime Furcht, sie könne einmal auch ihm schaden, und sicher war
der Glaube an die Kraft solcher unheimlicher Künste, namentlich des Liebcs-
zaubers, weit verbreitet. Ein Zeugnis dafür ist die Schilderung der Be¬
schwörung auf den Esquilien, wie Canidia und Sagana erst ein Lamm zerreißen,
dann eine Wachspuppe, das Sinnbild des zu bezaubernden Geliebten, ver¬
brennen, alles unter Anrufung der Hekate und Tisiphone bei Mondschein.^)
Wahrsager, Astrologen und andre Zeichendeuter trieben gegen Abend namentlich
am Zirkus ihr Wesen und fanden ein gläubiges Publikum."")

Bessern Ersatz für den Verlornen alten religiösen Glauben fanden die
Gebildeten in der Philosophie, die ja Cieero zumeist im weiten Umfange zu
Popularisieren versucht hatte. Im lebhaften Kampfe stauben sich dabei Stoiker
und Epikuräer gegenüber, und Figuren wie Crispinus nud Stertinius, der
den bankerotten Dmnasippus bekehrt, zeigen, wie rührig die Vertreter der Stoa
damals Gläubige warben."") Für Horaz selbst war das Studium der Philo¬
sophie allmählich zur wichtigsten geistigen Beschäftigung geworden, die er um-


Die modernen Italiener denken und handeln ganz ähnlich, und ihre
Sitte, auch ihrer Trauer um Verstorbne in ausführlichen Inschriften wie in
reichen plastischen Denkmälern Ausdruck zu geben, die den großen italienischen
Friedhöfen ihren eigentümlichen Charakter verleiht, wurzelt in demselben Be¬
dürfnis.

Das Lebensideal hängt immer von der religiös-sittlichen Weltan¬
schauung ab; wie steht es damit bei Horaz und seinen Zeitgenossen? Sicher ist
damals bei den gebildeten Römern der alte Glaube an die nationalen Götter
selbst in ihrer griechischen Aus- und Umgestaltung längst aufgelöst; sie siud dem
Dichter nur noch poetische Figuren oder allenfalls Personifikationen bestimmter
Begriffe; ein persönliches Verhältnis zu ihnen hat er nicht. Im Volke freilich
war die abergläubische Furcht vor den Göttern, der tiuror äsormri, so wenig
erstorben, daß Horaz sie von einem Stoiker als eine der vier größten Narr-
heiten des Menschen verspotten läßt,'") Dafür suchen manche seiner gebil¬
deten Zeitgenossen eine Art von Ersatz im Anschluß an das Judentum, das
ihnen als eine besonders merkwürdige und eigentümliche Form orientalischer
Kulte erschienen sein mag. Die Juden waren schon zu Cäsars Zeit in Rom
eine mächtige Genossenschaft, vor der man sich in acht nehmen mußte, und
die eifrig Propaganda trieb, sodaß Horaz im Scherz seinen Feinden zuruft,
sie sollten sich vor ihm und der ganzen Dichtcrzunft hüten, sonst würden
sie über sie kommen wie die Juden. sein Freund Austins Fuscus nimmt an
ihrer Sabbnthfeier teil, und er leugnet diese Schwäche nicht, als „einer von
vielen."^) Horaz selbst teilt allerdings diesen „Aberglauben" uicht und ver¬
spottet deshalb gelegentlich die Juden. Aber ob er andern ähnlichen Dingen
gegenüber so sicher war? Zwar die Prophezeiung einer alten Frau nus dem
Sabinerlande, dem gelobten Lande der Hexerei und Wahrsagern, er möge sich
vor den Schwätzern hüten, nimmt er, trotz des feierlichen Tones, den er an¬
schlägt, schwerlich Ernst;»-') aber sein Kampf gegen die böse Hexe Canidici, die
er bald mit grimmigem Hasse, bald mit beißendem Spotte verfolgt, verrät doch
wohl die geheime Furcht, sie könne einmal auch ihm schaden, und sicher war
der Glaube an die Kraft solcher unheimlicher Künste, namentlich des Liebcs-
zaubers, weit verbreitet. Ein Zeugnis dafür ist die Schilderung der Be¬
schwörung auf den Esquilien, wie Canidia und Sagana erst ein Lamm zerreißen,
dann eine Wachspuppe, das Sinnbild des zu bezaubernden Geliebten, ver¬
brennen, alles unter Anrufung der Hekate und Tisiphone bei Mondschein.^)
Wahrsager, Astrologen und andre Zeichendeuter trieben gegen Abend namentlich
am Zirkus ihr Wesen und fanden ein gläubiges Publikum."")

Bessern Ersatz für den Verlornen alten religiösen Glauben fanden die
Gebildeten in der Philosophie, die ja Cieero zumeist im weiten Umfange zu
Popularisieren versucht hatte. Im lebhaften Kampfe stauben sich dabei Stoiker
und Epikuräer gegenüber, und Figuren wie Crispinus nud Stertinius, der
den bankerotten Dmnasippus bekehrt, zeigen, wie rührig die Vertreter der Stoa
damals Gläubige warben."«) Für Horaz selbst war das Studium der Philo¬
sophie allmählich zur wichtigsten geistigen Beschäftigung geworden, die er um-


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[0461] Die modernen Italiener denken und handeln ganz ähnlich, und ihre Sitte, auch ihrer Trauer um Verstorbne in ausführlichen Inschriften wie in reichen plastischen Denkmälern Ausdruck zu geben, die den großen italienischen Friedhöfen ihren eigentümlichen Charakter verleiht, wurzelt in demselben Be¬ dürfnis. Das Lebensideal hängt immer von der religiös-sittlichen Weltan¬ schauung ab; wie steht es damit bei Horaz und seinen Zeitgenossen? Sicher ist damals bei den gebildeten Römern der alte Glaube an die nationalen Götter selbst in ihrer griechischen Aus- und Umgestaltung längst aufgelöst; sie siud dem Dichter nur noch poetische Figuren oder allenfalls Personifikationen bestimmter Begriffe; ein persönliches Verhältnis zu ihnen hat er nicht. Im Volke freilich war die abergläubische Furcht vor den Göttern, der tiuror äsormri, so wenig erstorben, daß Horaz sie von einem Stoiker als eine der vier größten Narr- heiten des Menschen verspotten läßt,'") Dafür suchen manche seiner gebil¬ deten Zeitgenossen eine Art von Ersatz im Anschluß an das Judentum, das ihnen als eine besonders merkwürdige und eigentümliche Form orientalischer Kulte erschienen sein mag. Die Juden waren schon zu Cäsars Zeit in Rom eine mächtige Genossenschaft, vor der man sich in acht nehmen mußte, und die eifrig Propaganda trieb, sodaß Horaz im Scherz seinen Feinden zuruft, sie sollten sich vor ihm und der ganzen Dichtcrzunft hüten, sonst würden sie über sie kommen wie die Juden. sein Freund Austins Fuscus nimmt an ihrer Sabbnthfeier teil, und er leugnet diese Schwäche nicht, als „einer von vielen."^) Horaz selbst teilt allerdings diesen „Aberglauben" uicht und ver¬ spottet deshalb gelegentlich die Juden. Aber ob er andern ähnlichen Dingen gegenüber so sicher war? Zwar die Prophezeiung einer alten Frau nus dem Sabinerlande, dem gelobten Lande der Hexerei und Wahrsagern, er möge sich vor den Schwätzern hüten, nimmt er, trotz des feierlichen Tones, den er an¬ schlägt, schwerlich Ernst;»-') aber sein Kampf gegen die böse Hexe Canidici, die er bald mit grimmigem Hasse, bald mit beißendem Spotte verfolgt, verrät doch wohl die geheime Furcht, sie könne einmal auch ihm schaden, und sicher war der Glaube an die Kraft solcher unheimlicher Künste, namentlich des Liebcs- zaubers, weit verbreitet. Ein Zeugnis dafür ist die Schilderung der Be¬ schwörung auf den Esquilien, wie Canidia und Sagana erst ein Lamm zerreißen, dann eine Wachspuppe, das Sinnbild des zu bezaubernden Geliebten, ver¬ brennen, alles unter Anrufung der Hekate und Tisiphone bei Mondschein.^) Wahrsager, Astrologen und andre Zeichendeuter trieben gegen Abend namentlich am Zirkus ihr Wesen und fanden ein gläubiges Publikum."") Bessern Ersatz für den Verlornen alten religiösen Glauben fanden die Gebildeten in der Philosophie, die ja Cieero zumeist im weiten Umfange zu Popularisieren versucht hatte. Im lebhaften Kampfe stauben sich dabei Stoiker und Epikuräer gegenüber, und Figuren wie Crispinus nud Stertinius, der den bankerotten Dmnasippus bekehrt, zeigen, wie rührig die Vertreter der Stoa damals Gläubige warben."«) Für Horaz selbst war das Studium der Philo¬ sophie allmählich zur wichtigsten geistigen Beschäftigung geworden, die er um-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/461>, abgerufen am 16.06.2024.