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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Holland und Deutschland

eine Unruhe und Bewegung hervorgerufen haben, die nicht im Lande selbst ge¬
blieben sein, sondern sich weit über dessen Grenzen fortgesetzt haben würde.

Wer die Holländer nicht bloß ans Zeitungsberichten und aus Schilderungen
von Reisenden, sondern ans der eignen Erfahrung und aus dein Zusammen-
leben mit ihnen kennt, der weiß, wie außerordentlich empfindlich das National-
gefühl des sonst so ruhigen Volkes ist, und wie besonders eifersüchtig aufgeregt
es war, als der Krieg von 1870 auch seine Erwartungen getäuscht hatte.
Sogar vernünftige Niederländer glaubten, daß die deutschen Siege in Frank¬
reich eine direkte Ankündigung der demnächst von deutscher Seite zu erwartenden
Feindseligkeiten bedeuteten. Wenn die deutsche Regierung nach 1870 ans den
Gedanken hätte kommen können, die Befestigungen von Wilhelmshavcn ruhig
im Schlamm stecken zu lassen und dafür neue an der Krot zu bauen, so würde
man innerhalb der holländischen Grenze allgemein der Meinung gewesen sein,
daß nunmehr eingetreten sei, was man überall befürchtete, die erste Veran¬
staltung der Annexiouslust, die, nachdem sie innerhalb des alten Bundes¬
gebiets ihre Weide abgegrast habe, nicht vor den Hoheitsrechten des Nachbar¬
staats Halt machen würde.

Seit jenen Tagen einer unbegreiflichen Prcnßenfurcht, die den Leuten so
wellig auszureden war wie dem eingebildeten Kranken seine Halluzination, haben
sich die Zeiten sehr geändert. In welchem Maße, das geht aus der bekannten
Äußerung des Fürsten Bismarck hervor, die in die Zeit der russisch-türkischen
Wirren fällt, daß die Interessen, die Deutschland auf der Balkanhalbinsel zu
vertreten habe, uicht so viel wert seien, die Knochen eines einzigen pommerschen
Grenadiers daran zu setzen. Das mag auch jetzt noch der Fall sein, aber
nebenher geht die Thatsache, daß augenblicklich in deutschen Häfen ganze große
Schiffsladungen dieses kostbaren Materials an Bord von Transportdampfern
gebracht worden sind, um im fernen Ostasien die nationalen Interessen mit
demi Leben zu verfechten. Es haben Wertverschiebnugen stattgefunden, die den
all ihnen beteiligten Völkern das Nächste in eine kaum noch erkennbare Ferne
gerückt und das weit Entfernte in den Vordergrund ihres Interesses gezogen
haben. Die Holländer haben um die Sicherheit ihrer Küste jetzt so wellig
Sorge, als ob sie auf dem Balkan läge, aber sie zittern für ihre Kolonien
im fernen Weltmeer, als ob sie dein Kreuzfeuer preußischer Batterien aus¬
gesetzt wären.

Wenn im gegenwärtigen Augenblick die Krot in einen deutschen Kriegs-
hafeii umgearbeitet wäre, so würden die Holländer ihre politische Selbständigkeit
dnrch die Kämmen dieser Festung nicht für bedroht, sondern für verteidigt
halten, während alle Versicherungen Englands, die Neutralität und den Besitz¬
stand der Niederlande achten zu wollen, sie keinen Augenblick darüber in Zweifel
lasse" würden, daß zu ihrer Völliger Sicherheit realere Garantien nötig sind,
als die ihnen die mit den heiligsten Eiden beschworner Verträge zu leisten
imstande sind. Die Zeit hat mit einer Plötzlichkeit des Umschwungs, die bei¬
spiellos ist, die Welt vou oberst zu Anderst gekehrt und hat einmal wieder


Holland und Deutschland

eine Unruhe und Bewegung hervorgerufen haben, die nicht im Lande selbst ge¬
blieben sein, sondern sich weit über dessen Grenzen fortgesetzt haben würde.

Wer die Holländer nicht bloß ans Zeitungsberichten und aus Schilderungen
von Reisenden, sondern ans der eignen Erfahrung und aus dein Zusammen-
leben mit ihnen kennt, der weiß, wie außerordentlich empfindlich das National-
gefühl des sonst so ruhigen Volkes ist, und wie besonders eifersüchtig aufgeregt
es war, als der Krieg von 1870 auch seine Erwartungen getäuscht hatte.
Sogar vernünftige Niederländer glaubten, daß die deutschen Siege in Frank¬
reich eine direkte Ankündigung der demnächst von deutscher Seite zu erwartenden
Feindseligkeiten bedeuteten. Wenn die deutsche Regierung nach 1870 ans den
Gedanken hätte kommen können, die Befestigungen von Wilhelmshavcn ruhig
im Schlamm stecken zu lassen und dafür neue an der Krot zu bauen, so würde
man innerhalb der holländischen Grenze allgemein der Meinung gewesen sein,
daß nunmehr eingetreten sei, was man überall befürchtete, die erste Veran¬
staltung der Annexiouslust, die, nachdem sie innerhalb des alten Bundes¬
gebiets ihre Weide abgegrast habe, nicht vor den Hoheitsrechten des Nachbar¬
staats Halt machen würde.

Seit jenen Tagen einer unbegreiflichen Prcnßenfurcht, die den Leuten so
wellig auszureden war wie dem eingebildeten Kranken seine Halluzination, haben
sich die Zeiten sehr geändert. In welchem Maße, das geht aus der bekannten
Äußerung des Fürsten Bismarck hervor, die in die Zeit der russisch-türkischen
Wirren fällt, daß die Interessen, die Deutschland auf der Balkanhalbinsel zu
vertreten habe, uicht so viel wert seien, die Knochen eines einzigen pommerschen
Grenadiers daran zu setzen. Das mag auch jetzt noch der Fall sein, aber
nebenher geht die Thatsache, daß augenblicklich in deutschen Häfen ganze große
Schiffsladungen dieses kostbaren Materials an Bord von Transportdampfern
gebracht worden sind, um im fernen Ostasien die nationalen Interessen mit
demi Leben zu verfechten. Es haben Wertverschiebnugen stattgefunden, die den
all ihnen beteiligten Völkern das Nächste in eine kaum noch erkennbare Ferne
gerückt und das weit Entfernte in den Vordergrund ihres Interesses gezogen
haben. Die Holländer haben um die Sicherheit ihrer Küste jetzt so wellig
Sorge, als ob sie auf dem Balkan läge, aber sie zittern für ihre Kolonien
im fernen Weltmeer, als ob sie dein Kreuzfeuer preußischer Batterien aus¬
gesetzt wären.

Wenn im gegenwärtigen Augenblick die Krot in einen deutschen Kriegs-
hafeii umgearbeitet wäre, so würden die Holländer ihre politische Selbständigkeit
dnrch die Kämmen dieser Festung nicht für bedroht, sondern für verteidigt
halten, während alle Versicherungen Englands, die Neutralität und den Besitz¬
stand der Niederlande achten zu wollen, sie keinen Augenblick darüber in Zweifel
lasse» würden, daß zu ihrer Völliger Sicherheit realere Garantien nötig sind,
als die ihnen die mit den heiligsten Eiden beschworner Verträge zu leisten
imstande sind. Die Zeit hat mit einer Plötzlichkeit des Umschwungs, die bei¬
spiellos ist, die Welt vou oberst zu Anderst gekehrt und hat einmal wieder


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[0154] Holland und Deutschland eine Unruhe und Bewegung hervorgerufen haben, die nicht im Lande selbst ge¬ blieben sein, sondern sich weit über dessen Grenzen fortgesetzt haben würde. Wer die Holländer nicht bloß ans Zeitungsberichten und aus Schilderungen von Reisenden, sondern ans der eignen Erfahrung und aus dein Zusammen- leben mit ihnen kennt, der weiß, wie außerordentlich empfindlich das National- gefühl des sonst so ruhigen Volkes ist, und wie besonders eifersüchtig aufgeregt es war, als der Krieg von 1870 auch seine Erwartungen getäuscht hatte. Sogar vernünftige Niederländer glaubten, daß die deutschen Siege in Frank¬ reich eine direkte Ankündigung der demnächst von deutscher Seite zu erwartenden Feindseligkeiten bedeuteten. Wenn die deutsche Regierung nach 1870 ans den Gedanken hätte kommen können, die Befestigungen von Wilhelmshavcn ruhig im Schlamm stecken zu lassen und dafür neue an der Krot zu bauen, so würde man innerhalb der holländischen Grenze allgemein der Meinung gewesen sein, daß nunmehr eingetreten sei, was man überall befürchtete, die erste Veran¬ staltung der Annexiouslust, die, nachdem sie innerhalb des alten Bundes¬ gebiets ihre Weide abgegrast habe, nicht vor den Hoheitsrechten des Nachbar¬ staats Halt machen würde. Seit jenen Tagen einer unbegreiflichen Prcnßenfurcht, die den Leuten so wellig auszureden war wie dem eingebildeten Kranken seine Halluzination, haben sich die Zeiten sehr geändert. In welchem Maße, das geht aus der bekannten Äußerung des Fürsten Bismarck hervor, die in die Zeit der russisch-türkischen Wirren fällt, daß die Interessen, die Deutschland auf der Balkanhalbinsel zu vertreten habe, uicht so viel wert seien, die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers daran zu setzen. Das mag auch jetzt noch der Fall sein, aber nebenher geht die Thatsache, daß augenblicklich in deutschen Häfen ganze große Schiffsladungen dieses kostbaren Materials an Bord von Transportdampfern gebracht worden sind, um im fernen Ostasien die nationalen Interessen mit demi Leben zu verfechten. Es haben Wertverschiebnugen stattgefunden, die den all ihnen beteiligten Völkern das Nächste in eine kaum noch erkennbare Ferne gerückt und das weit Entfernte in den Vordergrund ihres Interesses gezogen haben. Die Holländer haben um die Sicherheit ihrer Küste jetzt so wellig Sorge, als ob sie auf dem Balkan läge, aber sie zittern für ihre Kolonien im fernen Weltmeer, als ob sie dein Kreuzfeuer preußischer Batterien aus¬ gesetzt wären. Wenn im gegenwärtigen Augenblick die Krot in einen deutschen Kriegs- hafeii umgearbeitet wäre, so würden die Holländer ihre politische Selbständigkeit dnrch die Kämmen dieser Festung nicht für bedroht, sondern für verteidigt halten, während alle Versicherungen Englands, die Neutralität und den Besitz¬ stand der Niederlande achten zu wollen, sie keinen Augenblick darüber in Zweifel lasse» würden, daß zu ihrer Völliger Sicherheit realere Garantien nötig sind, als die ihnen die mit den heiligsten Eiden beschworner Verträge zu leisten imstande sind. Die Zeit hat mit einer Plötzlichkeit des Umschwungs, die bei¬ spiellos ist, die Welt vou oberst zu Anderst gekehrt und hat einmal wieder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/154>, abgerufen am 13.05.2024.