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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Das Kritische Parlament

richterliche Gewalt unter dein Könige. Doch so erhaben sich das Oberhaus
in ihm darstellt, gerade er zeigt, daß das Unterhaus der mächtigere Teil des
Parlaments ist. Keine Vorlage kann Gesetz werden ohne die Zustimmung des
Oberhauses, die Geschicke einer Regierung werden in der aus Wahlen hervor-
gegnngnen Kammer bestimmt, und wenn eine Regierung fällt, so muß der
Kanzler nach. Ein fester Grundsatz ist, daß sich keine der beiden Kammern
in die Angelegenheiten der andern mischen darf. Die übliche Ausnahme wird
vom Lordkanzler gemacht. Es geht die Lords nichts an, wen die Gemeinen
zu ihrem Sprecher wählen. Aber eine Abstimmung des Unterhauses kann den
Sprecher des Oberhauses von seinein Wollsacke treiben und den Peers einen
neuen Sprecher aufzwingen, mit dessen Politischen Ansichten die Mehrzahl
nicht übereinstimmt. Denn der Lordkanzlcr ist immer ein Mitglied der
Regierung.

Die Stellung der beiden Sprecher ist also sehr ungleich. Der des Unter¬
hauses gilt als über den Parteien stehend, obgleich er als Parteimann ins
Parlament gelaugt sein muß, und es ist üblich, daß er, einmal erwählt, lauter
wieder gewählt wird, bis ihm die Last des Amts zuviel wird. Der gegen¬
wärtige Sprecher, Gully, sitzt schon dem dritten Unterhause vor, sein Bor¬
gänger, Peel, jetzt Viscount Peel, füllte die Stelle von 1884 bis 1895, und
im ganzen neunzehnten Jahrhundert haben nur neun Personen das Amt ver¬
sehen. Der Hauptunterschied zwischen Lordkanzler und Sprecher der Gemeinen
ist, daß jeuer von der Krone, d. h. der Regierung ernannt, dieser vom Unter¬
hause gewühlt und von der Krone nur, der Form nach, bestätigt wird. Der
Sprecher gilt als parteiloser Mund der Gemeinen, der Lordkanzler, unbeschadet
seiner Unparteilichkeit in der Leitung der Verhandlungen, ist und bleibt der
Manu einer Partei. Der Sprecher beteiligt sich nie nu den Erörterungen,
der Lordknnzler darf seine Meinung durch die Rede vertreten, aber wenn seine
Partei die Regierung aufgiebt, muß er scheiden.

Es ist nicht nötig, daß eine an der Wahlurne geschlagne Regierung sofort
zurücktritt. Sie kann es thun, kann aber ebensogut warten, bis das neue
Unterhaus nach seinem Zusammentritt sie durch ein Mißtrauensvotum zwingt,
der Gegenpartei das Ruder des Staats zu überantworten. Das Parlament
ist vou dem Lande mit der Führung der Geschäfte betraut worden, und die
Negierung ist nichts als ein Ausschuß der Mehrheitspartei, deren Führer die
Bildung des Kabinetts zukommt, mag er das Vertrauen des Königs haben
oder nicht. Dem Namen nach betraut ja der Monarch einen hervorragenden
Politiker mit der Kabinettsbildung, doch eine eigne Wahl übt er nicht, und
ebensowenig kann einem außerhalb des Parlaments stehenden Manne ein
Ministerium, übertragen werden, da ein solcher zu keinem der beiden Hänser
Zutritt hat und darum dem Parlament weder Auskunft noch Rechenschaft zu
geben imstande ist.

Nach Sir Edward Coka ist die Macht des Parlaments so unbeschränkt,
daß sich für sie überhaupt keine Grenzen abstecken lasse", weder was Personen


Das Kritische Parlament

richterliche Gewalt unter dein Könige. Doch so erhaben sich das Oberhaus
in ihm darstellt, gerade er zeigt, daß das Unterhaus der mächtigere Teil des
Parlaments ist. Keine Vorlage kann Gesetz werden ohne die Zustimmung des
Oberhauses, die Geschicke einer Regierung werden in der aus Wahlen hervor-
gegnngnen Kammer bestimmt, und wenn eine Regierung fällt, so muß der
Kanzler nach. Ein fester Grundsatz ist, daß sich keine der beiden Kammern
in die Angelegenheiten der andern mischen darf. Die übliche Ausnahme wird
vom Lordkanzler gemacht. Es geht die Lords nichts an, wen die Gemeinen
zu ihrem Sprecher wählen. Aber eine Abstimmung des Unterhauses kann den
Sprecher des Oberhauses von seinein Wollsacke treiben und den Peers einen
neuen Sprecher aufzwingen, mit dessen Politischen Ansichten die Mehrzahl
nicht übereinstimmt. Denn der Lordkanzlcr ist immer ein Mitglied der
Regierung.

Die Stellung der beiden Sprecher ist also sehr ungleich. Der des Unter¬
hauses gilt als über den Parteien stehend, obgleich er als Parteimann ins
Parlament gelaugt sein muß, und es ist üblich, daß er, einmal erwählt, lauter
wieder gewählt wird, bis ihm die Last des Amts zuviel wird. Der gegen¬
wärtige Sprecher, Gully, sitzt schon dem dritten Unterhause vor, sein Bor¬
gänger, Peel, jetzt Viscount Peel, füllte die Stelle von 1884 bis 1895, und
im ganzen neunzehnten Jahrhundert haben nur neun Personen das Amt ver¬
sehen. Der Hauptunterschied zwischen Lordkanzler und Sprecher der Gemeinen
ist, daß jeuer von der Krone, d. h. der Regierung ernannt, dieser vom Unter¬
hause gewühlt und von der Krone nur, der Form nach, bestätigt wird. Der
Sprecher gilt als parteiloser Mund der Gemeinen, der Lordkanzler, unbeschadet
seiner Unparteilichkeit in der Leitung der Verhandlungen, ist und bleibt der
Manu einer Partei. Der Sprecher beteiligt sich nie nu den Erörterungen,
der Lordknnzler darf seine Meinung durch die Rede vertreten, aber wenn seine
Partei die Regierung aufgiebt, muß er scheiden.

Es ist nicht nötig, daß eine an der Wahlurne geschlagne Regierung sofort
zurücktritt. Sie kann es thun, kann aber ebensogut warten, bis das neue
Unterhaus nach seinem Zusammentritt sie durch ein Mißtrauensvotum zwingt,
der Gegenpartei das Ruder des Staats zu überantworten. Das Parlament
ist vou dem Lande mit der Führung der Geschäfte betraut worden, und die
Negierung ist nichts als ein Ausschuß der Mehrheitspartei, deren Führer die
Bildung des Kabinetts zukommt, mag er das Vertrauen des Königs haben
oder nicht. Dem Namen nach betraut ja der Monarch einen hervorragenden
Politiker mit der Kabinettsbildung, doch eine eigne Wahl übt er nicht, und
ebensowenig kann einem außerhalb des Parlaments stehenden Manne ein
Ministerium, übertragen werden, da ein solcher zu keinem der beiden Hänser
Zutritt hat und darum dem Parlament weder Auskunft noch Rechenschaft zu
geben imstande ist.

Nach Sir Edward Coka ist die Macht des Parlaments so unbeschränkt,
daß sich für sie überhaupt keine Grenzen abstecken lasse», weder was Personen


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[0168] Das Kritische Parlament richterliche Gewalt unter dein Könige. Doch so erhaben sich das Oberhaus in ihm darstellt, gerade er zeigt, daß das Unterhaus der mächtigere Teil des Parlaments ist. Keine Vorlage kann Gesetz werden ohne die Zustimmung des Oberhauses, die Geschicke einer Regierung werden in der aus Wahlen hervor- gegnngnen Kammer bestimmt, und wenn eine Regierung fällt, so muß der Kanzler nach. Ein fester Grundsatz ist, daß sich keine der beiden Kammern in die Angelegenheiten der andern mischen darf. Die übliche Ausnahme wird vom Lordkanzler gemacht. Es geht die Lords nichts an, wen die Gemeinen zu ihrem Sprecher wählen. Aber eine Abstimmung des Unterhauses kann den Sprecher des Oberhauses von seinein Wollsacke treiben und den Peers einen neuen Sprecher aufzwingen, mit dessen Politischen Ansichten die Mehrzahl nicht übereinstimmt. Denn der Lordkanzlcr ist immer ein Mitglied der Regierung. Die Stellung der beiden Sprecher ist also sehr ungleich. Der des Unter¬ hauses gilt als über den Parteien stehend, obgleich er als Parteimann ins Parlament gelaugt sein muß, und es ist üblich, daß er, einmal erwählt, lauter wieder gewählt wird, bis ihm die Last des Amts zuviel wird. Der gegen¬ wärtige Sprecher, Gully, sitzt schon dem dritten Unterhause vor, sein Bor¬ gänger, Peel, jetzt Viscount Peel, füllte die Stelle von 1884 bis 1895, und im ganzen neunzehnten Jahrhundert haben nur neun Personen das Amt ver¬ sehen. Der Hauptunterschied zwischen Lordkanzler und Sprecher der Gemeinen ist, daß jeuer von der Krone, d. h. der Regierung ernannt, dieser vom Unter¬ hause gewühlt und von der Krone nur, der Form nach, bestätigt wird. Der Sprecher gilt als parteiloser Mund der Gemeinen, der Lordkanzler, unbeschadet seiner Unparteilichkeit in der Leitung der Verhandlungen, ist und bleibt der Manu einer Partei. Der Sprecher beteiligt sich nie nu den Erörterungen, der Lordknnzler darf seine Meinung durch die Rede vertreten, aber wenn seine Partei die Regierung aufgiebt, muß er scheiden. Es ist nicht nötig, daß eine an der Wahlurne geschlagne Regierung sofort zurücktritt. Sie kann es thun, kann aber ebensogut warten, bis das neue Unterhaus nach seinem Zusammentritt sie durch ein Mißtrauensvotum zwingt, der Gegenpartei das Ruder des Staats zu überantworten. Das Parlament ist vou dem Lande mit der Führung der Geschäfte betraut worden, und die Negierung ist nichts als ein Ausschuß der Mehrheitspartei, deren Führer die Bildung des Kabinetts zukommt, mag er das Vertrauen des Königs haben oder nicht. Dem Namen nach betraut ja der Monarch einen hervorragenden Politiker mit der Kabinettsbildung, doch eine eigne Wahl übt er nicht, und ebensowenig kann einem außerhalb des Parlaments stehenden Manne ein Ministerium, übertragen werden, da ein solcher zu keinem der beiden Hänser Zutritt hat und darum dem Parlament weder Auskunft noch Rechenschaft zu geben imstande ist. Nach Sir Edward Coka ist die Macht des Parlaments so unbeschränkt, daß sich für sie überhaupt keine Grenzen abstecken lasse», weder was Personen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/168>, abgerufen am 26.05.2024.