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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Line Denkschrift des Ministers Witte

als Vertreterin monarchischer Selbstherrschaft, diese als Vertreter einer Volks¬
gewalt, die notwendig zur Konstitution, zur Teilnahme des Volks an der
Gesetzgebung führen müsse. Auch hierin mag Witte Recht haben. Aber was
soll nun geschehn, den Zwiespalt aufzulösen? Es soll, sagt Witte, keinerlei
Erweiterung der Thätigkeit der Landschaften erlaubt werden, es soll ihr eine
klare Grenze gezogen werden, die sie unter keinem Vorwande überschreiten
darf. Zugleich aber soll so schleunig als möglich eine richtige und zweckent¬
sprechende Organisation der staatlichen Administration vorgenommen werden,
in dem Bewußtsein, daß "wer der Wirt im Lande ist, auch der Wirt in der
Administration sein soll."

Soll hierin nun das Programm Wildes enthalten sein, mit dem er die
große Reform ins Werk setzen und die Entwicklung einer landschaftlichen
Thätigkeit von vierzig Jahren abthun will? Eine Reform der Staatsverwal¬
tung -- nichts weiter? Das El des Kolumbus, so scheint es; uur daß, wenn
man bedenkt, wie sich seit zweihundert Jahren alle russischen Zaren, Zarinnen,
Minister und Kanzler bemüht haben, eine solche "regelrechte und passende
Organisation" zu erfinden, bisher aber keine "regelrecht und passend" war,
man etwas zweifelhaft werde" kann an der Ausführbarkeit der Aufgabe, die
Witte sich oder andern Ministern stellt. Wenn das so leicht wäre, wenn das
auch überhaupt ausführbar wäre, was Witte will: eine durchaus zeutralistisch
geleitete, allgewaltige Beamtenhcrrschaft, mit einer "richtig organisierten Be¬
teiligung der gesellschaftlichen Elemente an den staatlichen Institutionen" (S. 208),
dann wäre seit den Reformen Katharinas II. dieses Ideal wohl gefunden
worden, dann hätte Witte auch nicht so viel Mühe darauf zu verwenden
brauchen, nachzuweisen, daß die Landschaftsinstitutionen prinzipiell unvereinbar
seien mit der absoluten zarischen Macht. Was ist denn die "richtig organi¬
sierte Beteiligung der gesellschaftlichen Elemente" an der Verwaltung der
öffentlichen Dinge, die die unrichtig organisierte Beteiligung der Landschaften
ersetzen soll?

"Die Entwicklung der gesellschaftlichen Kräfte, sagt Witte, die volle und
allseitige Entwicklung widerspricht nicht nur nicht deu Prinzipien der absoluten
Monarchie, sondern verleiht ihr vielmehr Lebendigkeit und Kraft. Indem die
Regierung zur Entwicklung der gesellschaftlichen Selbstthätigkeit mitwirkt, indem
sie sozusagen ans den Schlag des gesellschaftlichen Pulses horcht, gerät sie doch
nicht in Abhängigkeit von der Gesellschaft, bleibt sie eine vernünftige Kraft
und eine folgerichtige Macht, versteht immer ihre Ziele, kennt immer mich
die Mittel zu ihrer Erreichung, weiß, wohin sie geht und führt" is, 209).
Nun wahrlich, wir haben Witte bisher oft als einen Mann der praktischen
und energischen Thaikraft bewundert und sind um so mehr erstaunt, ihm hier
als einem Idealisten von höchstem Fluge zu begegnen. Der aufgeklärte
Absolutismus des Herrn Ministers stellt sich da, wie es uns scheint, eine
Aufgabe, die kein Staat des achtzehnten Jahrhunderts vollständig gelöst hat,
auch wenn er das beste Material an Beamten zur Verfügung hatte, und die


Line Denkschrift des Ministers Witte

als Vertreterin monarchischer Selbstherrschaft, diese als Vertreter einer Volks¬
gewalt, die notwendig zur Konstitution, zur Teilnahme des Volks an der
Gesetzgebung führen müsse. Auch hierin mag Witte Recht haben. Aber was
soll nun geschehn, den Zwiespalt aufzulösen? Es soll, sagt Witte, keinerlei
Erweiterung der Thätigkeit der Landschaften erlaubt werden, es soll ihr eine
klare Grenze gezogen werden, die sie unter keinem Vorwande überschreiten
darf. Zugleich aber soll so schleunig als möglich eine richtige und zweckent¬
sprechende Organisation der staatlichen Administration vorgenommen werden,
in dem Bewußtsein, daß „wer der Wirt im Lande ist, auch der Wirt in der
Administration sein soll."

Soll hierin nun das Programm Wildes enthalten sein, mit dem er die
große Reform ins Werk setzen und die Entwicklung einer landschaftlichen
Thätigkeit von vierzig Jahren abthun will? Eine Reform der Staatsverwal¬
tung — nichts weiter? Das El des Kolumbus, so scheint es; uur daß, wenn
man bedenkt, wie sich seit zweihundert Jahren alle russischen Zaren, Zarinnen,
Minister und Kanzler bemüht haben, eine solche „regelrechte und passende
Organisation" zu erfinden, bisher aber keine „regelrecht und passend" war,
man etwas zweifelhaft werde» kann an der Ausführbarkeit der Aufgabe, die
Witte sich oder andern Ministern stellt. Wenn das so leicht wäre, wenn das
auch überhaupt ausführbar wäre, was Witte will: eine durchaus zeutralistisch
geleitete, allgewaltige Beamtenhcrrschaft, mit einer „richtig organisierten Be¬
teiligung der gesellschaftlichen Elemente an den staatlichen Institutionen" (S. 208),
dann wäre seit den Reformen Katharinas II. dieses Ideal wohl gefunden
worden, dann hätte Witte auch nicht so viel Mühe darauf zu verwenden
brauchen, nachzuweisen, daß die Landschaftsinstitutionen prinzipiell unvereinbar
seien mit der absoluten zarischen Macht. Was ist denn die „richtig organi¬
sierte Beteiligung der gesellschaftlichen Elemente" an der Verwaltung der
öffentlichen Dinge, die die unrichtig organisierte Beteiligung der Landschaften
ersetzen soll?

„Die Entwicklung der gesellschaftlichen Kräfte, sagt Witte, die volle und
allseitige Entwicklung widerspricht nicht nur nicht deu Prinzipien der absoluten
Monarchie, sondern verleiht ihr vielmehr Lebendigkeit und Kraft. Indem die
Regierung zur Entwicklung der gesellschaftlichen Selbstthätigkeit mitwirkt, indem
sie sozusagen ans den Schlag des gesellschaftlichen Pulses horcht, gerät sie doch
nicht in Abhängigkeit von der Gesellschaft, bleibt sie eine vernünftige Kraft
und eine folgerichtige Macht, versteht immer ihre Ziele, kennt immer mich
die Mittel zu ihrer Erreichung, weiß, wohin sie geht und führt" is, 209).
Nun wahrlich, wir haben Witte bisher oft als einen Mann der praktischen
und energischen Thaikraft bewundert und sind um so mehr erstaunt, ihm hier
als einem Idealisten von höchstem Fluge zu begegnen. Der aufgeklärte
Absolutismus des Herrn Ministers stellt sich da, wie es uns scheint, eine
Aufgabe, die kein Staat des achtzehnten Jahrhunderts vollständig gelöst hat,
auch wenn er das beste Material an Beamten zur Verfügung hatte, und die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/250>, abgerufen am 13.05.2024.