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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Line Denkschrift des Ministers Witte

das Rußland des zwanzigsten Jahrhunderts um nach der Meinung Wildes
lösen soll. Was trieb denn die Regierung Alexanders II, dazu, zur provin¬
ziellen Selbstverwaltung zu greifen, wenn nicht die Erfahrung, daß das staat¬
liche Bcamtentmn unfähig sei, sowohl den Pulsschlag des Volkes zu vernehmen,
als auch die übrigen Ideale des Herrn Ministers zu erfüllen? Was ist denn
die ewige seit Jahrhunderten von Rußland zu uns herübertönende Klage, daß
es an einem tüchtigen Beamtenmaterial fehle? Hat sich denn das plötzlich
geändert? Hören wir denn nicht täglich von den uralten Schäden dieser
Bureaukratie, an der seit Peter I. herum reformiert wird ohne durchgreifenden,
genügenden Erfolg, und der als Ersatz und Kontrolle in bescheidnen Grenzen
die landschaftliche Selbstverwaltung von 1864 gegenübergestellt ward? Woher
hat denn der Minister plötzlich das Vertrauen in diese Bureaukratie gewonnen,
mit ihr, auch wenn sie "richtig und passend organisiert" ist, die ideale Ver¬
waltung eines Reichs wie Rußland zu ermöglichen?

Es ist aber nicht unsre Sache, als Verteidiger der russischen Selbstver¬
waltung aufzutreten, Aus interessiert vor allem die Frage, welchen Weg das
russische Staatsleben einschlagen werde. Und hier haben wir eine Schrift, in
der sich der heute, oder doch vor zwei Jahren, als er die Schrift verfaßte,
mächtigste Mann in Rußland klar für die Rückkehr zu dem System rein
bureaukratisch-zentralistischer Regierung ausspricht. Wenn wir jedoch auf¬
merksam zwischen deu Zeilen lesen, so dünkt uns, daß der Minister n"r unter
schwerem inneren Kampf zu seiner Erklärung gelangt ist, weil er der Aus¬
führbarkeit seines luireaukrarischeu Ideals keineswegs so ganz sicher war,
vielmehr zu seinem Entschluß nur deshalb gelangte, weil er keinen andern
Ausweg fand, der gefürchteten Konstitution zu entgehn. So ängstlich wie er
steht aber wahrscheinlich nur eine Minderheit der politisch thätigen Männer
einer kommenden Volksvertretung gegenüber, und noch viel geringer dürfte die
Zahl derer sein, die mit dem Minister die Selbstverwaltung definitiv zu lähmen
und die Omnipotenz des Tschinowniktnms zu rehabilitieren bereit sind. Es
ist deshalb doch zweifelhaft, ob Witte das letzte Wort behalten wird, und von
Interesse, seinen Ausführungen etwas genauer nachzugehn.

In seiner ersten Denkschrift hatte er ausgeführt, daß in einer autokra-
tischen Staatsordnung mit der in ihr unvermeidlichen bureaukratischen Zentra-
lisation die landschaftliche Selbstverwaltung ein unpassendes administratives
Mittel sei is. 203), oder daß sie unvermeidlich zur Volksvertretung und zur
Teilnahme dieser an Gesetzgebung und oberster Verwaltung führe (S, 4).
Beides sucht er in dieser zweiten Denkschrift eingehend zu begründen, wobei
freilich der Beweis für die Unverträglichkeit der Selbstverwaltung mit einer
nutokratischen Staatsordnung recht leicht genommen wird. Denn so groß die
Menge wissenschaftlicher Autoritäten ist, auf die sich der Minister in seiner
Schrift beruft, so erscheint seine Behauptung, daß die Selbstverwaltung schon
heute von der Theorie fast verworfen sei, dennoch auch wissenschaftlich anfechtbar.
Sehr viel besser begründet, aber freilich auch kaum von jemand bestritten ist


Line Denkschrift des Ministers Witte

das Rußland des zwanzigsten Jahrhunderts um nach der Meinung Wildes
lösen soll. Was trieb denn die Regierung Alexanders II, dazu, zur provin¬
ziellen Selbstverwaltung zu greifen, wenn nicht die Erfahrung, daß das staat¬
liche Bcamtentmn unfähig sei, sowohl den Pulsschlag des Volkes zu vernehmen,
als auch die übrigen Ideale des Herrn Ministers zu erfüllen? Was ist denn
die ewige seit Jahrhunderten von Rußland zu uns herübertönende Klage, daß
es an einem tüchtigen Beamtenmaterial fehle? Hat sich denn das plötzlich
geändert? Hören wir denn nicht täglich von den uralten Schäden dieser
Bureaukratie, an der seit Peter I. herum reformiert wird ohne durchgreifenden,
genügenden Erfolg, und der als Ersatz und Kontrolle in bescheidnen Grenzen
die landschaftliche Selbstverwaltung von 1864 gegenübergestellt ward? Woher
hat denn der Minister plötzlich das Vertrauen in diese Bureaukratie gewonnen,
mit ihr, auch wenn sie „richtig und passend organisiert" ist, die ideale Ver¬
waltung eines Reichs wie Rußland zu ermöglichen?

Es ist aber nicht unsre Sache, als Verteidiger der russischen Selbstver¬
waltung aufzutreten, Aus interessiert vor allem die Frage, welchen Weg das
russische Staatsleben einschlagen werde. Und hier haben wir eine Schrift, in
der sich der heute, oder doch vor zwei Jahren, als er die Schrift verfaßte,
mächtigste Mann in Rußland klar für die Rückkehr zu dem System rein
bureaukratisch-zentralistischer Regierung ausspricht. Wenn wir jedoch auf¬
merksam zwischen deu Zeilen lesen, so dünkt uns, daß der Minister n»r unter
schwerem inneren Kampf zu seiner Erklärung gelangt ist, weil er der Aus¬
führbarkeit seines luireaukrarischeu Ideals keineswegs so ganz sicher war,
vielmehr zu seinem Entschluß nur deshalb gelangte, weil er keinen andern
Ausweg fand, der gefürchteten Konstitution zu entgehn. So ängstlich wie er
steht aber wahrscheinlich nur eine Minderheit der politisch thätigen Männer
einer kommenden Volksvertretung gegenüber, und noch viel geringer dürfte die
Zahl derer sein, die mit dem Minister die Selbstverwaltung definitiv zu lähmen
und die Omnipotenz des Tschinowniktnms zu rehabilitieren bereit sind. Es
ist deshalb doch zweifelhaft, ob Witte das letzte Wort behalten wird, und von
Interesse, seinen Ausführungen etwas genauer nachzugehn.

In seiner ersten Denkschrift hatte er ausgeführt, daß in einer autokra-
tischen Staatsordnung mit der in ihr unvermeidlichen bureaukratischen Zentra-
lisation die landschaftliche Selbstverwaltung ein unpassendes administratives
Mittel sei is. 203), oder daß sie unvermeidlich zur Volksvertretung und zur
Teilnahme dieser an Gesetzgebung und oberster Verwaltung führe (S, 4).
Beides sucht er in dieser zweiten Denkschrift eingehend zu begründen, wobei
freilich der Beweis für die Unverträglichkeit der Selbstverwaltung mit einer
nutokratischen Staatsordnung recht leicht genommen wird. Denn so groß die
Menge wissenschaftlicher Autoritäten ist, auf die sich der Minister in seiner
Schrift beruft, so erscheint seine Behauptung, daß die Selbstverwaltung schon
heute von der Theorie fast verworfen sei, dennoch auch wissenschaftlich anfechtbar.
Sehr viel besser begründet, aber freilich auch kaum von jemand bestritten ist


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[0251] Line Denkschrift des Ministers Witte das Rußland des zwanzigsten Jahrhunderts um nach der Meinung Wildes lösen soll. Was trieb denn die Regierung Alexanders II, dazu, zur provin¬ ziellen Selbstverwaltung zu greifen, wenn nicht die Erfahrung, daß das staat¬ liche Bcamtentmn unfähig sei, sowohl den Pulsschlag des Volkes zu vernehmen, als auch die übrigen Ideale des Herrn Ministers zu erfüllen? Was ist denn die ewige seit Jahrhunderten von Rußland zu uns herübertönende Klage, daß es an einem tüchtigen Beamtenmaterial fehle? Hat sich denn das plötzlich geändert? Hören wir denn nicht täglich von den uralten Schäden dieser Bureaukratie, an der seit Peter I. herum reformiert wird ohne durchgreifenden, genügenden Erfolg, und der als Ersatz und Kontrolle in bescheidnen Grenzen die landschaftliche Selbstverwaltung von 1864 gegenübergestellt ward? Woher hat denn der Minister plötzlich das Vertrauen in diese Bureaukratie gewonnen, mit ihr, auch wenn sie „richtig und passend organisiert" ist, die ideale Ver¬ waltung eines Reichs wie Rußland zu ermöglichen? Es ist aber nicht unsre Sache, als Verteidiger der russischen Selbstver¬ waltung aufzutreten, Aus interessiert vor allem die Frage, welchen Weg das russische Staatsleben einschlagen werde. Und hier haben wir eine Schrift, in der sich der heute, oder doch vor zwei Jahren, als er die Schrift verfaßte, mächtigste Mann in Rußland klar für die Rückkehr zu dem System rein bureaukratisch-zentralistischer Regierung ausspricht. Wenn wir jedoch auf¬ merksam zwischen deu Zeilen lesen, so dünkt uns, daß der Minister n»r unter schwerem inneren Kampf zu seiner Erklärung gelangt ist, weil er der Aus¬ führbarkeit seines luireaukrarischeu Ideals keineswegs so ganz sicher war, vielmehr zu seinem Entschluß nur deshalb gelangte, weil er keinen andern Ausweg fand, der gefürchteten Konstitution zu entgehn. So ängstlich wie er steht aber wahrscheinlich nur eine Minderheit der politisch thätigen Männer einer kommenden Volksvertretung gegenüber, und noch viel geringer dürfte die Zahl derer sein, die mit dem Minister die Selbstverwaltung definitiv zu lähmen und die Omnipotenz des Tschinowniktnms zu rehabilitieren bereit sind. Es ist deshalb doch zweifelhaft, ob Witte das letzte Wort behalten wird, und von Interesse, seinen Ausführungen etwas genauer nachzugehn. In seiner ersten Denkschrift hatte er ausgeführt, daß in einer autokra- tischen Staatsordnung mit der in ihr unvermeidlichen bureaukratischen Zentra- lisation die landschaftliche Selbstverwaltung ein unpassendes administratives Mittel sei is. 203), oder daß sie unvermeidlich zur Volksvertretung und zur Teilnahme dieser an Gesetzgebung und oberster Verwaltung führe (S, 4). Beides sucht er in dieser zweiten Denkschrift eingehend zu begründen, wobei freilich der Beweis für die Unverträglichkeit der Selbstverwaltung mit einer nutokratischen Staatsordnung recht leicht genommen wird. Denn so groß die Menge wissenschaftlicher Autoritäten ist, auf die sich der Minister in seiner Schrift beruft, so erscheint seine Behauptung, daß die Selbstverwaltung schon heute von der Theorie fast verworfen sei, dennoch auch wissenschaftlich anfechtbar. Sehr viel besser begründet, aber freilich auch kaum von jemand bestritten ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/251>, abgerufen am 28.05.2024.