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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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und Besonderheiten nachzugehn die zentrale Kreisvcrwaltung außer stände ist.
Ohne festen Boden und die nötige Verbindung mit der Örtlichkeit, ohne eigne
ausführende Organe waren die Landschaften nicht nur außer Stande, ihre Ma߬
regeln richtig durchzuführen, sondern konnten nicht einmal das richtige Ein¬
gehn der landschaftlichen Steuern sichern, weshalb manche von ihnen manchmal
in eine sehr bedrängte finanzielle Lage gerieten. Die niedern Polizeiämter
waren schlechte Hüter der Interessen der Landschaften und erfüllten schlecht ihre
Anordnungen, während ihnen doch die Ausführung der landschaftlichen Ma߬
regeln oblag.

"Den gekennzeichneten Mangel ihrer Organisation suchten die Landschaften
von den ersten Tagen seines Auftauchens an zu beseitigen. Diesem Ziele
strebten die einzelnen Landschaften auf verschiednen Wegen zu. . . . Alle land¬
schaftlichen Gesuche in dieser Richtung aber wurden systematisch abgewiesen,
und man darf annehmen, daß sich bei diesen Abweisungen die Negierung mehr
von politischen Erwägungen leiten ließ; denn vom Standpunkt der Zweck¬
mäßigkeit kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Landschaft ohne festen
Boden und ohne Zusammenhang mit dem Wirkungsgebiet nicht erfolgreich
wirken konnte und mit oder ohne ihren Willen manche ihrer wichtigsten
Pflichten versäumen mußte. Ganz besonders mißtrauisch verhielt sich die Re¬
gierung zu den Versuchen der Landschaften, eine engere Verbindung zwischen
sich und der bäuerlichen Selbstverwaltung herzustellen. Die Mehrheit der
Bevölkerung der Gnbernien machen die Dorfbewohner aus; auf Befriedigung
der Bedürfnisse dieser Volksklasse waren denn auch anfänglich alle Bemühungen
der landschaftlichen Ämter gerichtet. Die landschaftlichen Vertreter meinten,
daß die Sorge um die Bedürfnisse des bäuerlichen Standes die alltäglichste
und hauptsächlichste sei, daß zur Befriedigung dieser Bedürfnisse das sorg¬
fältigste Bekanntwerden mit dem Sein und den Lebensbedingungen der ört¬
lichen Bauern unumgänglich sei; sonst konnte es immer vorkommen, daß Un¬
wesentliches befriedigt wurde und Wesentlicheres nicht. Die Regierung jedoch
erachtete nicht bloß für unmöglich, die bäuerliche Selbstverwaltung*) in den
Bau der Laudschaftsiustitutioueu einzufügen, etwa durch Errichtung einer alt¬
ständischen Dorfgemeinde, sondern verhielt sich zu den Bemühungen der Land¬
schaften um die Bedürfnisse des Bauernstandes sogar höchst abwehrend." So
verbot z. B. der Minister des Innern im Jahre 1874 der Landschaft von
Taurien, die sich um die Vvlksernührung kümmern wollte, alle örtlichen
Untersuchungen über die wirtschaftliche" Bedürfnisse und die Ausstattung mit
Land bei den Bauern. "So wurde der landschaftlichen Selbstverwaltung, die
berufen war, "für die örtlichen Bedürfnisse und den Nutzen der Bevölkerung
zu sorgen", in Wirklichkeit das Recht genommen, diese Bedürfnisse des Volkes
durch Untersuchung seiner Lage zu erfahren."



*) Die Bauerngemeinde ist das einzige ständische Institut in Rußland, das sich seit lange
einer unangetasteten gesetzlichen Selbstverwaltung erfreut.
Line Denkschrift des Ministers Witte

und Besonderheiten nachzugehn die zentrale Kreisvcrwaltung außer stände ist.
Ohne festen Boden und die nötige Verbindung mit der Örtlichkeit, ohne eigne
ausführende Organe waren die Landschaften nicht nur außer Stande, ihre Ma߬
regeln richtig durchzuführen, sondern konnten nicht einmal das richtige Ein¬
gehn der landschaftlichen Steuern sichern, weshalb manche von ihnen manchmal
in eine sehr bedrängte finanzielle Lage gerieten. Die niedern Polizeiämter
waren schlechte Hüter der Interessen der Landschaften und erfüllten schlecht ihre
Anordnungen, während ihnen doch die Ausführung der landschaftlichen Ma߬
regeln oblag.

„Den gekennzeichneten Mangel ihrer Organisation suchten die Landschaften
von den ersten Tagen seines Auftauchens an zu beseitigen. Diesem Ziele
strebten die einzelnen Landschaften auf verschiednen Wegen zu. . . . Alle land¬
schaftlichen Gesuche in dieser Richtung aber wurden systematisch abgewiesen,
und man darf annehmen, daß sich bei diesen Abweisungen die Negierung mehr
von politischen Erwägungen leiten ließ; denn vom Standpunkt der Zweck¬
mäßigkeit kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Landschaft ohne festen
Boden und ohne Zusammenhang mit dem Wirkungsgebiet nicht erfolgreich
wirken konnte und mit oder ohne ihren Willen manche ihrer wichtigsten
Pflichten versäumen mußte. Ganz besonders mißtrauisch verhielt sich die Re¬
gierung zu den Versuchen der Landschaften, eine engere Verbindung zwischen
sich und der bäuerlichen Selbstverwaltung herzustellen. Die Mehrheit der
Bevölkerung der Gnbernien machen die Dorfbewohner aus; auf Befriedigung
der Bedürfnisse dieser Volksklasse waren denn auch anfänglich alle Bemühungen
der landschaftlichen Ämter gerichtet. Die landschaftlichen Vertreter meinten,
daß die Sorge um die Bedürfnisse des bäuerlichen Standes die alltäglichste
und hauptsächlichste sei, daß zur Befriedigung dieser Bedürfnisse das sorg¬
fältigste Bekanntwerden mit dem Sein und den Lebensbedingungen der ört¬
lichen Bauern unumgänglich sei; sonst konnte es immer vorkommen, daß Un¬
wesentliches befriedigt wurde und Wesentlicheres nicht. Die Regierung jedoch
erachtete nicht bloß für unmöglich, die bäuerliche Selbstverwaltung*) in den
Bau der Laudschaftsiustitutioueu einzufügen, etwa durch Errichtung einer alt¬
ständischen Dorfgemeinde, sondern verhielt sich zu den Bemühungen der Land¬
schaften um die Bedürfnisse des Bauernstandes sogar höchst abwehrend." So
verbot z. B. der Minister des Innern im Jahre 1874 der Landschaft von
Taurien, die sich um die Vvlksernührung kümmern wollte, alle örtlichen
Untersuchungen über die wirtschaftliche« Bedürfnisse und die Ausstattung mit
Land bei den Bauern. „So wurde der landschaftlichen Selbstverwaltung, die
berufen war, »für die örtlichen Bedürfnisse und den Nutzen der Bevölkerung
zu sorgen«, in Wirklichkeit das Recht genommen, diese Bedürfnisse des Volkes
durch Untersuchung seiner Lage zu erfahren."



*) Die Bauerngemeinde ist das einzige ständische Institut in Rußland, das sich seit lange
einer unangetasteten gesetzlichen Selbstverwaltung erfreut.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/258>, abgerufen am 09.06.2024.