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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Stendhal

die französischen Kenner seine Komposition zerfahren und im ganzen verun¬
glückt, seine Einzelbeobachtung dagegen von einer so mustergiltigen Reinheit
und Schärfe, daß man ihn jetzt unter die bedeutenden und nachahmungs-
würdigen Fragmentisten stellt. Da sich seine Kenntnis bei uns auf einen
engen Kreis beschränkt, auf Nietzsche, der ihn mit zuerst gewürdigt hat, und
eine kleine Zahl litterarischer Feinschmecker, z. B. einiger Schriftsteller der nun
eingegangnen Zeitschrift Pan, so muß uns eine Sammlung "Aphorismen aus
Stendhal über Schönheit, Kunst und Kultur" von Venno Rüttenauer (Stra߬
burg, Heitz) willkommen sein, die sich zweckmäßigerweise mit Übergchung der
romanartigen Bücher bloß an die weitschichtigen Memoiren hält und deren
Lektüre den meisten unsrer Leser wird ersetzen können. Sie finden in diesen
Auszügen nichts von den krankhaften Übertreibungen der Selbstcmnlyse, die
unsern neusten Dichtern soviel Freude machen, sondern Ansichten von Welt
und Leben aus ungemein sicherer Beobachtung, mit überlegnem Urteil ver¬
allgemeinert und gewöhnlich auch in eine scharfausgeprägte Form gebracht.
Der Genuß dieser Form, also des Stils, ist nicht unbeträchtlich, wertvoller
aber noch, daß wir es hier mit einer Einsicht zu thun haben, die in vielen
Stücken ihrer Zeit vorauf ist. Wir teilen einiges aus Steudhals Knust¬
betrachtungen mit.

Das Jahrhundert der Budgets und der Freiheit kann nicht zugleich das
der schönen Künste sein; wenn das aktive Leben zu stark ist, erdrückt es die
Kunst. Zur Zeit Raffaels und Michelangelos war das gemeine Volk wie
immer um ein Jahrhundert zurück; die Kunst lebte von den Interessen der
höher" Kreise. Nur zur Zeit großer Seelenerhebuugeu ist das Volk der gute"
Gesellschaft überlegen. Naivität schadet vielleicht dem Verstände, aber sie ist
unerläßlich für jeden, der in der Kunst etwas erreichen will. Das künstlerische
Gefühl kann sich nicht bilden ohne die Angewöhnung einer etwas melancho¬
lischen Traumverfnssung, aber der französische Geist achtet immer nur auf die
Eindrücke, die er auf andre hervorbringen möchte. Darum sind die Künstler
Ludwigs XIV. so unwahr, weil sie mit ihren Schauspielergesten niemals auf
eigne Rechnung fühlen. Stendhal verurteilt aber auch die Maler seiner Zeit,
den französischen .Klassizismus überhaupt und die ganze französische Kunst noch
weiter zurück, erst bei den Gotikern findet er Wahrheit und Charakter. Das
moderne Schönheitsideal des großen Publikums sei Eleganz, also die Ab¬
wesenheit aller Art Kraft. Daß ein mächtiges Volk wie das französische die
Kunst der kleinen Bevölkerungen Griechenlands kopiert, die kaum zwei Mil¬
lionen Einwohner ausmachen, kommt ihm lächerlich vor. In Italien hat ihn
zuerst die Malerei der Volognesen angezogen, dann aber ärgert ihn die grie¬
chische und nicht italienische Schönheit der Köpfe Guido Renis, und er fühlt
sich in das italienische Mittelalter verliebt, in die herbe Strenge Mottos und die
Naturtreue der florentinischen Maler der Frührenaissance, vor der Überschwem¬
mung durch das Jdealschöne. "Wenn der Zufall dem Filippo Lippi oder
Fiesole einen Engelkopf über den Weg führte, so kopierten sie ihn sorgfältig,


Stendhal

die französischen Kenner seine Komposition zerfahren und im ganzen verun¬
glückt, seine Einzelbeobachtung dagegen von einer so mustergiltigen Reinheit
und Schärfe, daß man ihn jetzt unter die bedeutenden und nachahmungs-
würdigen Fragmentisten stellt. Da sich seine Kenntnis bei uns auf einen
engen Kreis beschränkt, auf Nietzsche, der ihn mit zuerst gewürdigt hat, und
eine kleine Zahl litterarischer Feinschmecker, z. B. einiger Schriftsteller der nun
eingegangnen Zeitschrift Pan, so muß uns eine Sammlung „Aphorismen aus
Stendhal über Schönheit, Kunst und Kultur" von Venno Rüttenauer (Stra߬
burg, Heitz) willkommen sein, die sich zweckmäßigerweise mit Übergchung der
romanartigen Bücher bloß an die weitschichtigen Memoiren hält und deren
Lektüre den meisten unsrer Leser wird ersetzen können. Sie finden in diesen
Auszügen nichts von den krankhaften Übertreibungen der Selbstcmnlyse, die
unsern neusten Dichtern soviel Freude machen, sondern Ansichten von Welt
und Leben aus ungemein sicherer Beobachtung, mit überlegnem Urteil ver¬
allgemeinert und gewöhnlich auch in eine scharfausgeprägte Form gebracht.
Der Genuß dieser Form, also des Stils, ist nicht unbeträchtlich, wertvoller
aber noch, daß wir es hier mit einer Einsicht zu thun haben, die in vielen
Stücken ihrer Zeit vorauf ist. Wir teilen einiges aus Steudhals Knust¬
betrachtungen mit.

Das Jahrhundert der Budgets und der Freiheit kann nicht zugleich das
der schönen Künste sein; wenn das aktive Leben zu stark ist, erdrückt es die
Kunst. Zur Zeit Raffaels und Michelangelos war das gemeine Volk wie
immer um ein Jahrhundert zurück; die Kunst lebte von den Interessen der
höher» Kreise. Nur zur Zeit großer Seelenerhebuugeu ist das Volk der gute»
Gesellschaft überlegen. Naivität schadet vielleicht dem Verstände, aber sie ist
unerläßlich für jeden, der in der Kunst etwas erreichen will. Das künstlerische
Gefühl kann sich nicht bilden ohne die Angewöhnung einer etwas melancho¬
lischen Traumverfnssung, aber der französische Geist achtet immer nur auf die
Eindrücke, die er auf andre hervorbringen möchte. Darum sind die Künstler
Ludwigs XIV. so unwahr, weil sie mit ihren Schauspielergesten niemals auf
eigne Rechnung fühlen. Stendhal verurteilt aber auch die Maler seiner Zeit,
den französischen .Klassizismus überhaupt und die ganze französische Kunst noch
weiter zurück, erst bei den Gotikern findet er Wahrheit und Charakter. Das
moderne Schönheitsideal des großen Publikums sei Eleganz, also die Ab¬
wesenheit aller Art Kraft. Daß ein mächtiges Volk wie das französische die
Kunst der kleinen Bevölkerungen Griechenlands kopiert, die kaum zwei Mil¬
lionen Einwohner ausmachen, kommt ihm lächerlich vor. In Italien hat ihn
zuerst die Malerei der Volognesen angezogen, dann aber ärgert ihn die grie¬
chische und nicht italienische Schönheit der Köpfe Guido Renis, und er fühlt
sich in das italienische Mittelalter verliebt, in die herbe Strenge Mottos und die
Naturtreue der florentinischen Maler der Frührenaissance, vor der Überschwem¬
mung durch das Jdealschöne. „Wenn der Zufall dem Filippo Lippi oder
Fiesole einen Engelkopf über den Weg führte, so kopierten sie ihn sorgfältig,


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[0282] Stendhal die französischen Kenner seine Komposition zerfahren und im ganzen verun¬ glückt, seine Einzelbeobachtung dagegen von einer so mustergiltigen Reinheit und Schärfe, daß man ihn jetzt unter die bedeutenden und nachahmungs- würdigen Fragmentisten stellt. Da sich seine Kenntnis bei uns auf einen engen Kreis beschränkt, auf Nietzsche, der ihn mit zuerst gewürdigt hat, und eine kleine Zahl litterarischer Feinschmecker, z. B. einiger Schriftsteller der nun eingegangnen Zeitschrift Pan, so muß uns eine Sammlung „Aphorismen aus Stendhal über Schönheit, Kunst und Kultur" von Venno Rüttenauer (Stra߬ burg, Heitz) willkommen sein, die sich zweckmäßigerweise mit Übergchung der romanartigen Bücher bloß an die weitschichtigen Memoiren hält und deren Lektüre den meisten unsrer Leser wird ersetzen können. Sie finden in diesen Auszügen nichts von den krankhaften Übertreibungen der Selbstcmnlyse, die unsern neusten Dichtern soviel Freude machen, sondern Ansichten von Welt und Leben aus ungemein sicherer Beobachtung, mit überlegnem Urteil ver¬ allgemeinert und gewöhnlich auch in eine scharfausgeprägte Form gebracht. Der Genuß dieser Form, also des Stils, ist nicht unbeträchtlich, wertvoller aber noch, daß wir es hier mit einer Einsicht zu thun haben, die in vielen Stücken ihrer Zeit vorauf ist. Wir teilen einiges aus Steudhals Knust¬ betrachtungen mit. Das Jahrhundert der Budgets und der Freiheit kann nicht zugleich das der schönen Künste sein; wenn das aktive Leben zu stark ist, erdrückt es die Kunst. Zur Zeit Raffaels und Michelangelos war das gemeine Volk wie immer um ein Jahrhundert zurück; die Kunst lebte von den Interessen der höher» Kreise. Nur zur Zeit großer Seelenerhebuugeu ist das Volk der gute» Gesellschaft überlegen. Naivität schadet vielleicht dem Verstände, aber sie ist unerläßlich für jeden, der in der Kunst etwas erreichen will. Das künstlerische Gefühl kann sich nicht bilden ohne die Angewöhnung einer etwas melancho¬ lischen Traumverfnssung, aber der französische Geist achtet immer nur auf die Eindrücke, die er auf andre hervorbringen möchte. Darum sind die Künstler Ludwigs XIV. so unwahr, weil sie mit ihren Schauspielergesten niemals auf eigne Rechnung fühlen. Stendhal verurteilt aber auch die Maler seiner Zeit, den französischen .Klassizismus überhaupt und die ganze französische Kunst noch weiter zurück, erst bei den Gotikern findet er Wahrheit und Charakter. Das moderne Schönheitsideal des großen Publikums sei Eleganz, also die Ab¬ wesenheit aller Art Kraft. Daß ein mächtiges Volk wie das französische die Kunst der kleinen Bevölkerungen Griechenlands kopiert, die kaum zwei Mil¬ lionen Einwohner ausmachen, kommt ihm lächerlich vor. In Italien hat ihn zuerst die Malerei der Volognesen angezogen, dann aber ärgert ihn die grie¬ chische und nicht italienische Schönheit der Köpfe Guido Renis, und er fühlt sich in das italienische Mittelalter verliebt, in die herbe Strenge Mottos und die Naturtreue der florentinischen Maler der Frührenaissance, vor der Überschwem¬ mung durch das Jdealschöne. „Wenn der Zufall dem Filippo Lippi oder Fiesole einen Engelkopf über den Weg führte, so kopierten sie ihn sorgfältig,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/282>, abgerufen am 14.05.2024.