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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Stendhal

Statue Mi rein irdische Gefühle für einen Fehler hält, lind merkt nicht, daß
er selbst noch unter ihm steht. Gut und fein sind seine Bemerkungen über
die Architektur, für die ihm erst in Italien das volle Verständnis aufgegangen
ist, wo er sich die äußere Erscheinung aus ihrem Zusammenhang mit dem
Leben und der Kultur erklären kann. Er spottet über die Theoretiker, die
den Stil nach den angebrachten Verzierungen, den Nachahmungen früherer
Formen, bestimmen wollen, wie Racines Iphigenie die des Euripides nach¬
ahme, >lud er sieht die wahre Phhsiognomie eines Bauwerks in dein Eindruck,
den es ans die Menschen macht: es soll seine Bestimmung kund geben. Ein
florentinischer Palast flößt Achtung, ein öffentliches Gebäude sogar Schrecken
ein. Man meint es den Rilstikcifassaden anzusehen, daß in diesen Straßen so
oft die Gefahr umging; die Abwesenheit aller Gefahr auf den Straßen aber
ist es, die uns so klein macht (wofür unsre "Kraftfahrzeuge" ja Ersatz ver¬
sprechen). Nun sucht er überall den Eindruck der Größe, den kein Zierat be¬
einträchtigt und verdirbt, in dem römischen Kolosseum und den antiken Bau¬
werken Südfrankreichs, in den ältern französischen Kathedralen und dem Dom
von Florenz und vergleicht damit den kleinen Geist des Barock und des
französischen Rokoko. Am Triumphbogen des Severus in Rom fällt ihm zu¬
erst die lauge Inschrift ans, die des Kaisers Thaten auf die Nachwelt bringen
sollte. "Und diese Geschichte kommt wirklich bis zu ihr." Ein heutiger
Italiener empfinde bei dem Anblick einer guten Fassade eine wahre Freude,
und für den reich gewordnen Mailänder Bankier sei der größte Stolz, sich
ein schönes Haus bauen zu lassen. "Geruhe das eine zu bedenken, o Leser,
nicht ein Viertel der großen Meisterwerke der Kunst besäßen wir, wenn nicht
zuerst die Frömmigkeit und dann die Eitelkeit das Geld dazu gegeben hätten."
Er bewundert die unbeschreibliche Pracht der Peterskirche und findet ihre
höfische lind weltliche Schönheit einer päpstlichen Hofhaltung angemessen, aber
den Nordländer werde eine halb verfallne gotische Dorfkapelle mehr zur An¬
dacht stimmen als die Art von Architektur, die Bramante von den Griechen
gelernt habe. Immer wieder klingt der Satz durch, daß das Schöne in der
Architektur einfach sein müsse, daß alle Stile nacheinander, der griechische, der
romanische, der gotische und der italienische, in einem Übermaß von Verzierung
erstickt seien, und immer wieder kommt er auf den letzten großen Stilverdcrbcr
Ludwig XIV. zurück. Das hält ihn jedoch nicht ab, für den Mailänder Dom,
der ihm in seiner Buntheit eigentlich mißfallen müßte, geradezu zu schwärmen.

Als geistreicher Mann hat er ja das Recht, sich zu widersprechen, und
Aphorismen sind überhaupt nicht dazu da, miteinander verglichen zu werden. Wir
meinen nur, auf offenbaren Unsinn hätte der Herausgeber durch eine Anmerkung,
wie wir sie an weniger wichtigen Stellen finden, seine Leser hinweisen können.
So wenn sich Stendhal wundert, daß Pietro Aretino, in dem sich die ganze
Opposition des fünfzehnten Jahrhunderts verkörpere, nicht zwanzigmal ermordet
worden sei. "Ein Jahrhundert später, als der Einfluß Karls V. und der
deutscheu Reformation alles in Italien erniedrigt hatte, hätte er nicht sechs


Stendhal

Statue Mi rein irdische Gefühle für einen Fehler hält, lind merkt nicht, daß
er selbst noch unter ihm steht. Gut und fein sind seine Bemerkungen über
die Architektur, für die ihm erst in Italien das volle Verständnis aufgegangen
ist, wo er sich die äußere Erscheinung aus ihrem Zusammenhang mit dem
Leben und der Kultur erklären kann. Er spottet über die Theoretiker, die
den Stil nach den angebrachten Verzierungen, den Nachahmungen früherer
Formen, bestimmen wollen, wie Racines Iphigenie die des Euripides nach¬
ahme, >lud er sieht die wahre Phhsiognomie eines Bauwerks in dein Eindruck,
den es ans die Menschen macht: es soll seine Bestimmung kund geben. Ein
florentinischer Palast flößt Achtung, ein öffentliches Gebäude sogar Schrecken
ein. Man meint es den Rilstikcifassaden anzusehen, daß in diesen Straßen so
oft die Gefahr umging; die Abwesenheit aller Gefahr auf den Straßen aber
ist es, die uns so klein macht (wofür unsre „Kraftfahrzeuge" ja Ersatz ver¬
sprechen). Nun sucht er überall den Eindruck der Größe, den kein Zierat be¬
einträchtigt und verdirbt, in dem römischen Kolosseum und den antiken Bau¬
werken Südfrankreichs, in den ältern französischen Kathedralen und dem Dom
von Florenz und vergleicht damit den kleinen Geist des Barock und des
französischen Rokoko. Am Triumphbogen des Severus in Rom fällt ihm zu¬
erst die lauge Inschrift ans, die des Kaisers Thaten auf die Nachwelt bringen
sollte. „Und diese Geschichte kommt wirklich bis zu ihr." Ein heutiger
Italiener empfinde bei dem Anblick einer guten Fassade eine wahre Freude,
und für den reich gewordnen Mailänder Bankier sei der größte Stolz, sich
ein schönes Haus bauen zu lassen. „Geruhe das eine zu bedenken, o Leser,
nicht ein Viertel der großen Meisterwerke der Kunst besäßen wir, wenn nicht
zuerst die Frömmigkeit und dann die Eitelkeit das Geld dazu gegeben hätten."
Er bewundert die unbeschreibliche Pracht der Peterskirche und findet ihre
höfische lind weltliche Schönheit einer päpstlichen Hofhaltung angemessen, aber
den Nordländer werde eine halb verfallne gotische Dorfkapelle mehr zur An¬
dacht stimmen als die Art von Architektur, die Bramante von den Griechen
gelernt habe. Immer wieder klingt der Satz durch, daß das Schöne in der
Architektur einfach sein müsse, daß alle Stile nacheinander, der griechische, der
romanische, der gotische und der italienische, in einem Übermaß von Verzierung
erstickt seien, und immer wieder kommt er auf den letzten großen Stilverdcrbcr
Ludwig XIV. zurück. Das hält ihn jedoch nicht ab, für den Mailänder Dom,
der ihm in seiner Buntheit eigentlich mißfallen müßte, geradezu zu schwärmen.

Als geistreicher Mann hat er ja das Recht, sich zu widersprechen, und
Aphorismen sind überhaupt nicht dazu da, miteinander verglichen zu werden. Wir
meinen nur, auf offenbaren Unsinn hätte der Herausgeber durch eine Anmerkung,
wie wir sie an weniger wichtigen Stellen finden, seine Leser hinweisen können.
So wenn sich Stendhal wundert, daß Pietro Aretino, in dem sich die ganze
Opposition des fünfzehnten Jahrhunderts verkörpere, nicht zwanzigmal ermordet
worden sei. „Ein Jahrhundert später, als der Einfluß Karls V. und der
deutscheu Reformation alles in Italien erniedrigt hatte, hätte er nicht sechs


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[0284] Stendhal Statue Mi rein irdische Gefühle für einen Fehler hält, lind merkt nicht, daß er selbst noch unter ihm steht. Gut und fein sind seine Bemerkungen über die Architektur, für die ihm erst in Italien das volle Verständnis aufgegangen ist, wo er sich die äußere Erscheinung aus ihrem Zusammenhang mit dem Leben und der Kultur erklären kann. Er spottet über die Theoretiker, die den Stil nach den angebrachten Verzierungen, den Nachahmungen früherer Formen, bestimmen wollen, wie Racines Iphigenie die des Euripides nach¬ ahme, >lud er sieht die wahre Phhsiognomie eines Bauwerks in dein Eindruck, den es ans die Menschen macht: es soll seine Bestimmung kund geben. Ein florentinischer Palast flößt Achtung, ein öffentliches Gebäude sogar Schrecken ein. Man meint es den Rilstikcifassaden anzusehen, daß in diesen Straßen so oft die Gefahr umging; die Abwesenheit aller Gefahr auf den Straßen aber ist es, die uns so klein macht (wofür unsre „Kraftfahrzeuge" ja Ersatz ver¬ sprechen). Nun sucht er überall den Eindruck der Größe, den kein Zierat be¬ einträchtigt und verdirbt, in dem römischen Kolosseum und den antiken Bau¬ werken Südfrankreichs, in den ältern französischen Kathedralen und dem Dom von Florenz und vergleicht damit den kleinen Geist des Barock und des französischen Rokoko. Am Triumphbogen des Severus in Rom fällt ihm zu¬ erst die lauge Inschrift ans, die des Kaisers Thaten auf die Nachwelt bringen sollte. „Und diese Geschichte kommt wirklich bis zu ihr." Ein heutiger Italiener empfinde bei dem Anblick einer guten Fassade eine wahre Freude, und für den reich gewordnen Mailänder Bankier sei der größte Stolz, sich ein schönes Haus bauen zu lassen. „Geruhe das eine zu bedenken, o Leser, nicht ein Viertel der großen Meisterwerke der Kunst besäßen wir, wenn nicht zuerst die Frömmigkeit und dann die Eitelkeit das Geld dazu gegeben hätten." Er bewundert die unbeschreibliche Pracht der Peterskirche und findet ihre höfische lind weltliche Schönheit einer päpstlichen Hofhaltung angemessen, aber den Nordländer werde eine halb verfallne gotische Dorfkapelle mehr zur An¬ dacht stimmen als die Art von Architektur, die Bramante von den Griechen gelernt habe. Immer wieder klingt der Satz durch, daß das Schöne in der Architektur einfach sein müsse, daß alle Stile nacheinander, der griechische, der romanische, der gotische und der italienische, in einem Übermaß von Verzierung erstickt seien, und immer wieder kommt er auf den letzten großen Stilverdcrbcr Ludwig XIV. zurück. Das hält ihn jedoch nicht ab, für den Mailänder Dom, der ihm in seiner Buntheit eigentlich mißfallen müßte, geradezu zu schwärmen. Als geistreicher Mann hat er ja das Recht, sich zu widersprechen, und Aphorismen sind überhaupt nicht dazu da, miteinander verglichen zu werden. Wir meinen nur, auf offenbaren Unsinn hätte der Herausgeber durch eine Anmerkung, wie wir sie an weniger wichtigen Stellen finden, seine Leser hinweisen können. So wenn sich Stendhal wundert, daß Pietro Aretino, in dem sich die ganze Opposition des fünfzehnten Jahrhunderts verkörpere, nicht zwanzigmal ermordet worden sei. „Ein Jahrhundert später, als der Einfluß Karls V. und der deutscheu Reformation alles in Italien erniedrigt hatte, hätte er nicht sechs

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/284>, abgerufen am 13.05.2024.