Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Seitdem ist die Psychologie trockner und abstrakter geworden. Sie ver¬
bohrt sich immer tiefer in das Problem vom Wesen der Seele, ohne doch
seiner Lösung näher zu kommen, Ihr Hauptverdienst besteht in der Über¬
windung von Irrtümern, die zwar keine unmittelbare Bedeutung für das prak¬
tische Leben habe", aber doch, wie die materialistischen, mittelbar einen schäd¬
lichen Einfluß üben können. Hnrtmann gebührt das Verdienst, mit der ihm
eignen Schärfe und bewundrungswürdigen Abstraktionskraft deu Materialis¬
mus aus seinen letzten Schlupfwinkeln vertrieben zu haben, und nach seinem
vorliegenden letzten Werke") dürste noch weitere Arbeit in dieser Beziehung
kaum notwendig sein. Es ist eigentlich kein Lehrbuch der Psychologie, sondern
ein Buch über die Lehrbücher andrer, giebt aber doch in deren Kritik des Ver¬
fassers eigne Psychologie. Er behandelt: Aufgabe und Methode der Psycho¬
logie; das Unbewußte; Assoziativ" und Reproduktion; Empfindung, Gefühl
und Wille; die Einheit des Bewußtseins; den psychophysischen Parallelismus,
entwickelt und kritisiert die Ansicht von 116 Gelehrte-, (die Mehrzahl von
ihnen wird allerdings kurz abgefertigt), zeigt bei der kleinern Hälfte, die er
ausführlich behandelt, worin ein jeder mit seinen Meinnngsvcrwandten über¬
einstimmt, und worin er sich von ihnen unterscheidet, worin er Recht und
worin er Unrecht hat, und zieht zuletzt "die Bilanz der modernen Psychologie,"
die, auf den kürzesten Ausdruck gebracht, lautet: "Die vollständige Psychologie
erkennt die Wechselwirkung beider Erscheinungsgebietc ödes psychischen und des
Physiologischen j, deu Parallelismus als ihre Wirkung und die Jdentitäts-
Philosophie als ihre Grundlage an, aber eben darum bekämpft sie den unver¬
mittelter, antikausalen Parallelismus," d.h. die Ansicht des Okkasionalisten
Geulinex, wonach sich der leibliche und der geistige Lebenslauf eines Menschen
verhalten sollen wie der Gang zweier Uhren, die miteinander übereinstimmen,
ohne daß irgend ein Zusammenhang zwischen ihnen bestünde.

Hartmann bekämpft auch deu von England ansgegangnen Agnostizismus
als ein Hindernis des Fortschritts in der Psychologie. Und sofern die Agno¬
stiker und Positivisten sich streng auf die Beschreibung des bewußten Seelen¬
lebens beschränken wollen, muß man ihrer Psychologie allerdings die Würde
einer Geisteswissenschaft absprechen, obwohl bei solcher Beschränkung die prak¬
tische Seelenkunde ganz gut gedeihen nud zur höchsten Kunst der Seelenleitung
ausgebildet werden kann. Aber es giebt auch noch eine andre Art von
Agnostizismus, der wir selbst huldigen, und der auch Hartmann, selbstver¬
ständlich unbewußt, huldigt. Wir halten es mit Lotze für ein vergebliches
Bemühen, herausbekommen zu wollen, wie der Schöpfer es anfängt, Wesen
zu machen, die wahrnehmen, fühlen, wollen und denken, und wie er es an¬
fängt, Atome -- unwahrnehmbare, unfaßbare und für uns unbegreifliche
Dinge -- so zu ordnen und sich bewegen zu lassen, daß sie uns deu Stoff



"') Die moderne Psychologie von Eduard von Hartmann, Leipzig, ssernmnn
Vaacke, 1V0I, " >" °

Seitdem ist die Psychologie trockner und abstrakter geworden. Sie ver¬
bohrt sich immer tiefer in das Problem vom Wesen der Seele, ohne doch
seiner Lösung näher zu kommen, Ihr Hauptverdienst besteht in der Über¬
windung von Irrtümern, die zwar keine unmittelbare Bedeutung für das prak¬
tische Leben habe», aber doch, wie die materialistischen, mittelbar einen schäd¬
lichen Einfluß üben können. Hnrtmann gebührt das Verdienst, mit der ihm
eignen Schärfe und bewundrungswürdigen Abstraktionskraft deu Materialis¬
mus aus seinen letzten Schlupfwinkeln vertrieben zu haben, und nach seinem
vorliegenden letzten Werke") dürste noch weitere Arbeit in dieser Beziehung
kaum notwendig sein. Es ist eigentlich kein Lehrbuch der Psychologie, sondern
ein Buch über die Lehrbücher andrer, giebt aber doch in deren Kritik des Ver¬
fassers eigne Psychologie. Er behandelt: Aufgabe und Methode der Psycho¬
logie; das Unbewußte; Assoziativ» und Reproduktion; Empfindung, Gefühl
und Wille; die Einheit des Bewußtseins; den psychophysischen Parallelismus,
entwickelt und kritisiert die Ansicht von 116 Gelehrte-, (die Mehrzahl von
ihnen wird allerdings kurz abgefertigt), zeigt bei der kleinern Hälfte, die er
ausführlich behandelt, worin ein jeder mit seinen Meinnngsvcrwandten über¬
einstimmt, und worin er sich von ihnen unterscheidet, worin er Recht und
worin er Unrecht hat, und zieht zuletzt „die Bilanz der modernen Psychologie,"
die, auf den kürzesten Ausdruck gebracht, lautet: „Die vollständige Psychologie
erkennt die Wechselwirkung beider Erscheinungsgebietc ödes psychischen und des
Physiologischen j, deu Parallelismus als ihre Wirkung und die Jdentitäts-
Philosophie als ihre Grundlage an, aber eben darum bekämpft sie den unver¬
mittelter, antikausalen Parallelismus," d.h. die Ansicht des Okkasionalisten
Geulinex, wonach sich der leibliche und der geistige Lebenslauf eines Menschen
verhalten sollen wie der Gang zweier Uhren, die miteinander übereinstimmen,
ohne daß irgend ein Zusammenhang zwischen ihnen bestünde.

Hartmann bekämpft auch deu von England ansgegangnen Agnostizismus
als ein Hindernis des Fortschritts in der Psychologie. Und sofern die Agno¬
stiker und Positivisten sich streng auf die Beschreibung des bewußten Seelen¬
lebens beschränken wollen, muß man ihrer Psychologie allerdings die Würde
einer Geisteswissenschaft absprechen, obwohl bei solcher Beschränkung die prak¬
tische Seelenkunde ganz gut gedeihen nud zur höchsten Kunst der Seelenleitung
ausgebildet werden kann. Aber es giebt auch noch eine andre Art von
Agnostizismus, der wir selbst huldigen, und der auch Hartmann, selbstver¬
ständlich unbewußt, huldigt. Wir halten es mit Lotze für ein vergebliches
Bemühen, herausbekommen zu wollen, wie der Schöpfer es anfängt, Wesen
zu machen, die wahrnehmen, fühlen, wollen und denken, und wie er es an¬
fängt, Atome — unwahrnehmbare, unfaßbare und für uns unbegreifliche
Dinge — so zu ordnen und sich bewegen zu lassen, daß sie uns deu Stoff



"') Die moderne Psychologie von Eduard von Hartmann, Leipzig, ssernmnn
Vaacke, 1V0I, " >" °
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0029" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235201"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_62"> Seitdem ist die Psychologie trockner und abstrakter geworden. Sie ver¬<lb/>
bohrt sich immer tiefer in das Problem vom Wesen der Seele, ohne doch<lb/>
seiner Lösung näher zu kommen, Ihr Hauptverdienst besteht in der Über¬<lb/>
windung von Irrtümern, die zwar keine unmittelbare Bedeutung für das prak¬<lb/>
tische Leben habe», aber doch, wie die materialistischen, mittelbar einen schäd¬<lb/>
lichen Einfluß üben können. Hnrtmann gebührt das Verdienst, mit der ihm<lb/>
eignen Schärfe und bewundrungswürdigen Abstraktionskraft deu Materialis¬<lb/>
mus aus seinen letzten Schlupfwinkeln vertrieben zu haben, und nach seinem<lb/>
vorliegenden letzten Werke") dürste noch weitere Arbeit in dieser Beziehung<lb/>
kaum notwendig sein. Es ist eigentlich kein Lehrbuch der Psychologie, sondern<lb/>
ein Buch über die Lehrbücher andrer, giebt aber doch in deren Kritik des Ver¬<lb/>
fassers eigne Psychologie. Er behandelt: Aufgabe und Methode der Psycho¬<lb/>
logie; das Unbewußte; Assoziativ» und Reproduktion; Empfindung, Gefühl<lb/>
und Wille; die Einheit des Bewußtseins; den psychophysischen Parallelismus,<lb/>
entwickelt und kritisiert die Ansicht von 116 Gelehrte-, (die Mehrzahl von<lb/>
ihnen wird allerdings kurz abgefertigt), zeigt bei der kleinern Hälfte, die er<lb/>
ausführlich behandelt, worin ein jeder mit seinen Meinnngsvcrwandten über¬<lb/>
einstimmt, und worin er sich von ihnen unterscheidet, worin er Recht und<lb/>
worin er Unrecht hat, und zieht zuletzt &#x201E;die Bilanz der modernen Psychologie,"<lb/>
die, auf den kürzesten Ausdruck gebracht, lautet: &#x201E;Die vollständige Psychologie<lb/>
erkennt die Wechselwirkung beider Erscheinungsgebietc ödes psychischen und des<lb/>
Physiologischen j, deu Parallelismus als ihre Wirkung und die Jdentitäts-<lb/>
Philosophie als ihre Grundlage an, aber eben darum bekämpft sie den unver¬<lb/>
mittelter, antikausalen Parallelismus," d.h. die Ansicht des Okkasionalisten<lb/>
Geulinex, wonach sich der leibliche und der geistige Lebenslauf eines Menschen<lb/>
verhalten sollen wie der Gang zweier Uhren, die miteinander übereinstimmen,<lb/>
ohne daß irgend ein Zusammenhang zwischen ihnen bestünde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_63" next="#ID_64"> Hartmann bekämpft auch deu von England ansgegangnen Agnostizismus<lb/>
als ein Hindernis des Fortschritts in der Psychologie. Und sofern die Agno¬<lb/>
stiker und Positivisten sich streng auf die Beschreibung des bewußten Seelen¬<lb/>
lebens beschränken wollen, muß man ihrer Psychologie allerdings die Würde<lb/>
einer Geisteswissenschaft absprechen, obwohl bei solcher Beschränkung die prak¬<lb/>
tische Seelenkunde ganz gut gedeihen nud zur höchsten Kunst der Seelenleitung<lb/>
ausgebildet werden kann. Aber es giebt auch noch eine andre Art von<lb/>
Agnostizismus, der wir selbst huldigen, und der auch Hartmann, selbstver¬<lb/>
ständlich unbewußt, huldigt. Wir halten es mit Lotze für ein vergebliches<lb/>
Bemühen, herausbekommen zu wollen, wie der Schöpfer es anfängt, Wesen<lb/>
zu machen, die wahrnehmen, fühlen, wollen und denken, und wie er es an¬<lb/>
fängt, Atome &#x2014; unwahrnehmbare, unfaßbare und für uns unbegreifliche<lb/>
Dinge &#x2014; so zu ordnen und sich bewegen zu lassen, daß sie uns deu Stoff</p><lb/>
          <note xml:id="FID_3" place="foot"> "') Die moderne Psychologie von Eduard von Hartmann, Leipzig, ssernmnn<lb/>
Vaacke, 1V0I, " &gt;" °</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0029] Seitdem ist die Psychologie trockner und abstrakter geworden. Sie ver¬ bohrt sich immer tiefer in das Problem vom Wesen der Seele, ohne doch seiner Lösung näher zu kommen, Ihr Hauptverdienst besteht in der Über¬ windung von Irrtümern, die zwar keine unmittelbare Bedeutung für das prak¬ tische Leben habe», aber doch, wie die materialistischen, mittelbar einen schäd¬ lichen Einfluß üben können. Hnrtmann gebührt das Verdienst, mit der ihm eignen Schärfe und bewundrungswürdigen Abstraktionskraft deu Materialis¬ mus aus seinen letzten Schlupfwinkeln vertrieben zu haben, und nach seinem vorliegenden letzten Werke") dürste noch weitere Arbeit in dieser Beziehung kaum notwendig sein. Es ist eigentlich kein Lehrbuch der Psychologie, sondern ein Buch über die Lehrbücher andrer, giebt aber doch in deren Kritik des Ver¬ fassers eigne Psychologie. Er behandelt: Aufgabe und Methode der Psycho¬ logie; das Unbewußte; Assoziativ» und Reproduktion; Empfindung, Gefühl und Wille; die Einheit des Bewußtseins; den psychophysischen Parallelismus, entwickelt und kritisiert die Ansicht von 116 Gelehrte-, (die Mehrzahl von ihnen wird allerdings kurz abgefertigt), zeigt bei der kleinern Hälfte, die er ausführlich behandelt, worin ein jeder mit seinen Meinnngsvcrwandten über¬ einstimmt, und worin er sich von ihnen unterscheidet, worin er Recht und worin er Unrecht hat, und zieht zuletzt „die Bilanz der modernen Psychologie," die, auf den kürzesten Ausdruck gebracht, lautet: „Die vollständige Psychologie erkennt die Wechselwirkung beider Erscheinungsgebietc ödes psychischen und des Physiologischen j, deu Parallelismus als ihre Wirkung und die Jdentitäts- Philosophie als ihre Grundlage an, aber eben darum bekämpft sie den unver¬ mittelter, antikausalen Parallelismus," d.h. die Ansicht des Okkasionalisten Geulinex, wonach sich der leibliche und der geistige Lebenslauf eines Menschen verhalten sollen wie der Gang zweier Uhren, die miteinander übereinstimmen, ohne daß irgend ein Zusammenhang zwischen ihnen bestünde. Hartmann bekämpft auch deu von England ansgegangnen Agnostizismus als ein Hindernis des Fortschritts in der Psychologie. Und sofern die Agno¬ stiker und Positivisten sich streng auf die Beschreibung des bewußten Seelen¬ lebens beschränken wollen, muß man ihrer Psychologie allerdings die Würde einer Geisteswissenschaft absprechen, obwohl bei solcher Beschränkung die prak¬ tische Seelenkunde ganz gut gedeihen nud zur höchsten Kunst der Seelenleitung ausgebildet werden kann. Aber es giebt auch noch eine andre Art von Agnostizismus, der wir selbst huldigen, und der auch Hartmann, selbstver¬ ständlich unbewußt, huldigt. Wir halten es mit Lotze für ein vergebliches Bemühen, herausbekommen zu wollen, wie der Schöpfer es anfängt, Wesen zu machen, die wahrnehmen, fühlen, wollen und denken, und wie er es an¬ fängt, Atome — unwahrnehmbare, unfaßbare und für uns unbegreifliche Dinge — so zu ordnen und sich bewegen zu lassen, daß sie uns deu Stoff "') Die moderne Psychologie von Eduard von Hartmann, Leipzig, ssernmnn Vaacke, 1V0I, " >" °

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/29
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/29>, abgerufen am 13.05.2024.