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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Zur Psychologie und Anthropologie

er das UrWesen Stoffkraft, so würden wir vielleicht zu einer Verständigung
mit ihm gelangen. Wir können nicht jeder Kundgebung des metaphysischen
Materialismus gegenüber das ganze Abc des Idealismus immer wieder von
neuem herunterbuchstabicren und müssen uns auch in diesem Falle auf die
Hervorhebung einzelner besonders schwacher Punkte beschränken. Vorher aber
geben wir dem Verfasser das Zeugnis, daß er nicht zu den Schwachköpfen
gehört, die die Welt erklärt zu haben glauben, wenn sie einen Kausalzusammen¬
hang nachgewiesen und einen Namen dafür gefunden haben. Er nennt das
Gehirn einen Wunderbau, ebenso die <üg,msrg. obsizura des Auges, findet mit
Kußmaul, daß es kein größeres Wunder gebe, als die Entwicklung einer
Menschenseele, und er gesteht: "Etwas, was als Erfahrungsthatsache feststeht,
für deren Erklärung wir aber freilich keine Anhaltpunkte haben, ist die immanente
formbildende Eigenschaft des Kraftstoffs."

Damit hat er aber zugleich die Unzulänglichkeit seines Kraftstoffs zu¬
gestanden. Bloßer Stoff kann niemals zweckmäßige Formen bilden, am
wenigsten die Fülle der Wunderbauten der organischen Welt; das kann nur
eine Intelligenz, eine Stoffkraft, wenn man sie aus dem Grunde so nennen
will, weil sie sich uns durch die eigentümlichen Wirkungen bemerkbar macht,
die wir mit dem Worte Stoff zusammenfassen. Man war immer bestrebt,
schreibt Kroell, das Bewußtsein als etwas Immaterielles aufzufassen. Wo
und wann wäre man "bestrebt" gewesen? Das Bewußtsein offenbart sich
eben als etwas so Immaterielles, daß keinem Menschen einfallen konnte, es
für Materie zu halten. Wenn nun, nachdem die Menschheit schon jahrtausende¬
lang ihren Geist als das genommen hatte, als was er sich ihr giebt, als ein
vom Stoff verschiednes, jetzt endlich sein Zusammenhang mit dem Stoff und
seine Abhängigkeit von diesem erkannt wurde, muß sie da ihn selbst für
Stoff halten? Daß die absolute Trennung von Geist und Stoff, die Cartesius
vorgenommen hatte, eine seltsame Verirrung war, darin stimmen wir ja mit
Kroell überein. Immerhin aber lag in dieser allzureinlichen Scheidung ein
Fortschritt, ohne den die weitem Fortschritte der Wissenschaft nicht gemacht
werden konnten. Es mußte einmal erkannt werden, daß räumliche Ausdehnung
und Ortsbewegung die einzigen zwei Eigentümlichkeiten sind, die der Körper¬
welt zukommen, daß sich ihr Dasein darauf beschränkt, und daß alles, was
darüber hinausgeht, nicht ihr, sondern der Seele, einem geistigen Wesen eignet.
Die metaphysische Frage, ob es nicht die Körperatome selbst find, die, indem
sie im Raume fortschieben, rotieren, sich stoßen, zugleich empfinden, wahr¬
nehmen und denken, oder ob nicht der denkende Geist eine Welt von Raum
erfüllenden sich bewegenden Atomen schafft, oder sich die Körperwelt nur ein¬
bildet, die war dann später zu beantworten. Damit aber die Wissenschaften,
sowohl die Natur- wie die Geisteswissenschaften, festen Boden unter die Füße
bekamen, mußten die zwei Erscheinungsreihen, die körperliche und die geistige,
streng voneinander gesondert werden. Und wenn nun Kroell mit den Mate¬
rialisten die Entstehung von Wahrnehmungen auf den Anstoß von Molekular-


Zur Psychologie und Anthropologie

er das UrWesen Stoffkraft, so würden wir vielleicht zu einer Verständigung
mit ihm gelangen. Wir können nicht jeder Kundgebung des metaphysischen
Materialismus gegenüber das ganze Abc des Idealismus immer wieder von
neuem herunterbuchstabicren und müssen uns auch in diesem Falle auf die
Hervorhebung einzelner besonders schwacher Punkte beschränken. Vorher aber
geben wir dem Verfasser das Zeugnis, daß er nicht zu den Schwachköpfen
gehört, die die Welt erklärt zu haben glauben, wenn sie einen Kausalzusammen¬
hang nachgewiesen und einen Namen dafür gefunden haben. Er nennt das
Gehirn einen Wunderbau, ebenso die <üg,msrg. obsizura des Auges, findet mit
Kußmaul, daß es kein größeres Wunder gebe, als die Entwicklung einer
Menschenseele, und er gesteht: „Etwas, was als Erfahrungsthatsache feststeht,
für deren Erklärung wir aber freilich keine Anhaltpunkte haben, ist die immanente
formbildende Eigenschaft des Kraftstoffs."

Damit hat er aber zugleich die Unzulänglichkeit seines Kraftstoffs zu¬
gestanden. Bloßer Stoff kann niemals zweckmäßige Formen bilden, am
wenigsten die Fülle der Wunderbauten der organischen Welt; das kann nur
eine Intelligenz, eine Stoffkraft, wenn man sie aus dem Grunde so nennen
will, weil sie sich uns durch die eigentümlichen Wirkungen bemerkbar macht,
die wir mit dem Worte Stoff zusammenfassen. Man war immer bestrebt,
schreibt Kroell, das Bewußtsein als etwas Immaterielles aufzufassen. Wo
und wann wäre man „bestrebt" gewesen? Das Bewußtsein offenbart sich
eben als etwas so Immaterielles, daß keinem Menschen einfallen konnte, es
für Materie zu halten. Wenn nun, nachdem die Menschheit schon jahrtausende¬
lang ihren Geist als das genommen hatte, als was er sich ihr giebt, als ein
vom Stoff verschiednes, jetzt endlich sein Zusammenhang mit dem Stoff und
seine Abhängigkeit von diesem erkannt wurde, muß sie da ihn selbst für
Stoff halten? Daß die absolute Trennung von Geist und Stoff, die Cartesius
vorgenommen hatte, eine seltsame Verirrung war, darin stimmen wir ja mit
Kroell überein. Immerhin aber lag in dieser allzureinlichen Scheidung ein
Fortschritt, ohne den die weitem Fortschritte der Wissenschaft nicht gemacht
werden konnten. Es mußte einmal erkannt werden, daß räumliche Ausdehnung
und Ortsbewegung die einzigen zwei Eigentümlichkeiten sind, die der Körper¬
welt zukommen, daß sich ihr Dasein darauf beschränkt, und daß alles, was
darüber hinausgeht, nicht ihr, sondern der Seele, einem geistigen Wesen eignet.
Die metaphysische Frage, ob es nicht die Körperatome selbst find, die, indem
sie im Raume fortschieben, rotieren, sich stoßen, zugleich empfinden, wahr¬
nehmen und denken, oder ob nicht der denkende Geist eine Welt von Raum
erfüllenden sich bewegenden Atomen schafft, oder sich die Körperwelt nur ein¬
bildet, die war dann später zu beantworten. Damit aber die Wissenschaften,
sowohl die Natur- wie die Geisteswissenschaften, festen Boden unter die Füße
bekamen, mußten die zwei Erscheinungsreihen, die körperliche und die geistige,
streng voneinander gesondert werden. Und wenn nun Kroell mit den Mate¬
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[0365] Zur Psychologie und Anthropologie er das UrWesen Stoffkraft, so würden wir vielleicht zu einer Verständigung mit ihm gelangen. Wir können nicht jeder Kundgebung des metaphysischen Materialismus gegenüber das ganze Abc des Idealismus immer wieder von neuem herunterbuchstabicren und müssen uns auch in diesem Falle auf die Hervorhebung einzelner besonders schwacher Punkte beschränken. Vorher aber geben wir dem Verfasser das Zeugnis, daß er nicht zu den Schwachköpfen gehört, die die Welt erklärt zu haben glauben, wenn sie einen Kausalzusammen¬ hang nachgewiesen und einen Namen dafür gefunden haben. Er nennt das Gehirn einen Wunderbau, ebenso die <üg,msrg. obsizura des Auges, findet mit Kußmaul, daß es kein größeres Wunder gebe, als die Entwicklung einer Menschenseele, und er gesteht: „Etwas, was als Erfahrungsthatsache feststeht, für deren Erklärung wir aber freilich keine Anhaltpunkte haben, ist die immanente formbildende Eigenschaft des Kraftstoffs." Damit hat er aber zugleich die Unzulänglichkeit seines Kraftstoffs zu¬ gestanden. Bloßer Stoff kann niemals zweckmäßige Formen bilden, am wenigsten die Fülle der Wunderbauten der organischen Welt; das kann nur eine Intelligenz, eine Stoffkraft, wenn man sie aus dem Grunde so nennen will, weil sie sich uns durch die eigentümlichen Wirkungen bemerkbar macht, die wir mit dem Worte Stoff zusammenfassen. Man war immer bestrebt, schreibt Kroell, das Bewußtsein als etwas Immaterielles aufzufassen. Wo und wann wäre man „bestrebt" gewesen? Das Bewußtsein offenbart sich eben als etwas so Immaterielles, daß keinem Menschen einfallen konnte, es für Materie zu halten. Wenn nun, nachdem die Menschheit schon jahrtausende¬ lang ihren Geist als das genommen hatte, als was er sich ihr giebt, als ein vom Stoff verschiednes, jetzt endlich sein Zusammenhang mit dem Stoff und seine Abhängigkeit von diesem erkannt wurde, muß sie da ihn selbst für Stoff halten? Daß die absolute Trennung von Geist und Stoff, die Cartesius vorgenommen hatte, eine seltsame Verirrung war, darin stimmen wir ja mit Kroell überein. Immerhin aber lag in dieser allzureinlichen Scheidung ein Fortschritt, ohne den die weitem Fortschritte der Wissenschaft nicht gemacht werden konnten. Es mußte einmal erkannt werden, daß räumliche Ausdehnung und Ortsbewegung die einzigen zwei Eigentümlichkeiten sind, die der Körper¬ welt zukommen, daß sich ihr Dasein darauf beschränkt, und daß alles, was darüber hinausgeht, nicht ihr, sondern der Seele, einem geistigen Wesen eignet. Die metaphysische Frage, ob es nicht die Körperatome selbst find, die, indem sie im Raume fortschieben, rotieren, sich stoßen, zugleich empfinden, wahr¬ nehmen und denken, oder ob nicht der denkende Geist eine Welt von Raum erfüllenden sich bewegenden Atomen schafft, oder sich die Körperwelt nur ein¬ bildet, die war dann später zu beantworten. Damit aber die Wissenschaften, sowohl die Natur- wie die Geisteswissenschaften, festen Boden unter die Füße bekamen, mußten die zwei Erscheinungsreihen, die körperliche und die geistige, streng voneinander gesondert werden. Und wenn nun Kroell mit den Mate¬ rialisten die Entstehung von Wahrnehmungen auf den Anstoß von Molekular-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/365>, abgerufen am 16.06.2024.