Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Psychologie und Anthropologie

Dame ist eben darin nicht Kulturmensch. Es giebt wohl auch Kulturmenschen,
denen preußische Militärblechmusik lieber ist als ein Streichquartett, aber nicht
deswegen, weil sie Kulturmenschen, sondern weil sie taub sind. Die Vorliebe
für Monstrekonzerte bedeutet nicht einen Kulturfortschritt, sondern einen Rück¬
schritt zur Barbarei. Gewöhnliche starke Orchester werden allerdings durch
einen Kulturfortschritt gefordert, nämlich durch den der musikalischen Komposition,
denn um den reichen Inhalt einer Symphonie auszudrücken, zu dem auch ge¬
waltige Steigerungen, Kontraste, Stimmungswechsel und Auflösung von Disso¬
nanzen gehören, dazu gehört eben eine große Anzahl verschiedner Instrumente.
Wenn sich die Kinder und das Volk mit einfachen Melodien begnügen, so
geschieht das nicht, weil ihnen Lärm und Dissonanzen mißfielen, sondern weil
sie über die Mittel zu einer großen Aufführung nicht verfügen. Ebensowenig
ist zuzugeben, daß dem Kulturmenschen grelle Farben weh thäten. Der ge¬
sunde Kulturmensch freut sich über das leuchtende Himmelsblau und Wiesen¬
grün und über die roten Mohnblumen auf dem Felde ebenso und vielleicht
noch intensiver als das Kind und der Bauer; nicht weniger über die leuch¬
tenden Farben im Corrcggiosaale der Dresdner Galerie. Wenn manche moderne
Maler ausschließlich matte und stumpfe Farben verwenden, so ist das eben ein
krankhafter, nicht ein höher gebildeter Geschmack. Bei Kleidern und Wohnungs¬
ausstattungen weicht der gebildete Geschmack nur insofern vom rohen ab, als
er den einfachen Farben eine Menge Mischungen und Abtönungen beifügt, die
durch Zartheit und harmonische Zusammenstellung erfreuen. Was aber in
beiden Gebieten die Verwendung greller und bunter Farben verbietet oder ein¬
schränkt, das sind Rücksichten, die außerhalb der Physiologie des Auges und
zum Teil außerhalb der Ästhetik liegen. Eine Dame von Geschmack wird sich
niemals ganz und gar in grasgrün hüllen, nicht weil sie glaubte, daß irgend
jemand Augenschmerzen davon bekommen könnte -- thut doch gerade dem von
weißem Papier und schwarzer Tinte oder Druckerschwärze gepeinigten Ange
des Kulturmenschen nichts wohler als eine grüne Wiese --, sondern weil sie
nicht an den Laubfrosch erinnern will. Männer unsrer Zeit aber kleiden sich
schwarz oder grau nicht aus Abneigung gegen schöne Farben, sondern weil sie
es für ungeziemend halten, durch bunte Gewandung die Aufmerksamkeit des
Publikums auf ihre Leiblichkeit zu lenken. An unsern Wänden endlich können
wir lebhafte Farben nicht brauchen, weil die uns in der Arbeit stören würden.

Kroells Buch trägt streng wissenschaftlichen Charakter. Es ist eine
ausgezeichnete physiologische Psychologie und kann allen, die sich über die
Gehirnfunktionen unterrichten wollen, ohne dieses Gebiet zu ihrem Fachstudium
zu machen, sehr empfohlen werden. Was der Physiolog dem Psychologen
leisten kann, das leistet Kroell, und wir nehmen alle seine Erklärungen ohne
Einschränkung an, einschließlich der Bedeutung der in den Hirndispositionen
liegenden Hemmungen für die Ethik. Aber seinen Monismus lehnen wir ab;
nicht den Monismus an sich, sondern eben seinen Monismus. Denn sein
Meines ist nicht der Geist, nicht das Wort, sondern der "Kraftstoff." Nennt--


Zur Psychologie und Anthropologie

Dame ist eben darin nicht Kulturmensch. Es giebt wohl auch Kulturmenschen,
denen preußische Militärblechmusik lieber ist als ein Streichquartett, aber nicht
deswegen, weil sie Kulturmenschen, sondern weil sie taub sind. Die Vorliebe
für Monstrekonzerte bedeutet nicht einen Kulturfortschritt, sondern einen Rück¬
schritt zur Barbarei. Gewöhnliche starke Orchester werden allerdings durch
einen Kulturfortschritt gefordert, nämlich durch den der musikalischen Komposition,
denn um den reichen Inhalt einer Symphonie auszudrücken, zu dem auch ge¬
waltige Steigerungen, Kontraste, Stimmungswechsel und Auflösung von Disso¬
nanzen gehören, dazu gehört eben eine große Anzahl verschiedner Instrumente.
Wenn sich die Kinder und das Volk mit einfachen Melodien begnügen, so
geschieht das nicht, weil ihnen Lärm und Dissonanzen mißfielen, sondern weil
sie über die Mittel zu einer großen Aufführung nicht verfügen. Ebensowenig
ist zuzugeben, daß dem Kulturmenschen grelle Farben weh thäten. Der ge¬
sunde Kulturmensch freut sich über das leuchtende Himmelsblau und Wiesen¬
grün und über die roten Mohnblumen auf dem Felde ebenso und vielleicht
noch intensiver als das Kind und der Bauer; nicht weniger über die leuch¬
tenden Farben im Corrcggiosaale der Dresdner Galerie. Wenn manche moderne
Maler ausschließlich matte und stumpfe Farben verwenden, so ist das eben ein
krankhafter, nicht ein höher gebildeter Geschmack. Bei Kleidern und Wohnungs¬
ausstattungen weicht der gebildete Geschmack nur insofern vom rohen ab, als
er den einfachen Farben eine Menge Mischungen und Abtönungen beifügt, die
durch Zartheit und harmonische Zusammenstellung erfreuen. Was aber in
beiden Gebieten die Verwendung greller und bunter Farben verbietet oder ein¬
schränkt, das sind Rücksichten, die außerhalb der Physiologie des Auges und
zum Teil außerhalb der Ästhetik liegen. Eine Dame von Geschmack wird sich
niemals ganz und gar in grasgrün hüllen, nicht weil sie glaubte, daß irgend
jemand Augenschmerzen davon bekommen könnte — thut doch gerade dem von
weißem Papier und schwarzer Tinte oder Druckerschwärze gepeinigten Ange
des Kulturmenschen nichts wohler als eine grüne Wiese —, sondern weil sie
nicht an den Laubfrosch erinnern will. Männer unsrer Zeit aber kleiden sich
schwarz oder grau nicht aus Abneigung gegen schöne Farben, sondern weil sie
es für ungeziemend halten, durch bunte Gewandung die Aufmerksamkeit des
Publikums auf ihre Leiblichkeit zu lenken. An unsern Wänden endlich können
wir lebhafte Farben nicht brauchen, weil die uns in der Arbeit stören würden.

Kroells Buch trägt streng wissenschaftlichen Charakter. Es ist eine
ausgezeichnete physiologische Psychologie und kann allen, die sich über die
Gehirnfunktionen unterrichten wollen, ohne dieses Gebiet zu ihrem Fachstudium
zu machen, sehr empfohlen werden. Was der Physiolog dem Psychologen
leisten kann, das leistet Kroell, und wir nehmen alle seine Erklärungen ohne
Einschränkung an, einschließlich der Bedeutung der in den Hirndispositionen
liegenden Hemmungen für die Ethik. Aber seinen Monismus lehnen wir ab;
nicht den Monismus an sich, sondern eben seinen Monismus. Denn sein
Meines ist nicht der Geist, nicht das Wort, sondern der „Kraftstoff." Nennt--


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0364" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235536"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Psychologie und Anthropologie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1669" prev="#ID_1668"> Dame ist eben darin nicht Kulturmensch. Es giebt wohl auch Kulturmenschen,<lb/>
denen preußische Militärblechmusik lieber ist als ein Streichquartett, aber nicht<lb/>
deswegen, weil sie Kulturmenschen, sondern weil sie taub sind. Die Vorliebe<lb/>
für Monstrekonzerte bedeutet nicht einen Kulturfortschritt, sondern einen Rück¬<lb/>
schritt zur Barbarei. Gewöhnliche starke Orchester werden allerdings durch<lb/>
einen Kulturfortschritt gefordert, nämlich durch den der musikalischen Komposition,<lb/>
denn um den reichen Inhalt einer Symphonie auszudrücken, zu dem auch ge¬<lb/>
waltige Steigerungen, Kontraste, Stimmungswechsel und Auflösung von Disso¬<lb/>
nanzen gehören, dazu gehört eben eine große Anzahl verschiedner Instrumente.<lb/>
Wenn sich die Kinder und das Volk mit einfachen Melodien begnügen, so<lb/>
geschieht das nicht, weil ihnen Lärm und Dissonanzen mißfielen, sondern weil<lb/>
sie über die Mittel zu einer großen Aufführung nicht verfügen. Ebensowenig<lb/>
ist zuzugeben, daß dem Kulturmenschen grelle Farben weh thäten. Der ge¬<lb/>
sunde Kulturmensch freut sich über das leuchtende Himmelsblau und Wiesen¬<lb/>
grün und über die roten Mohnblumen auf dem Felde ebenso und vielleicht<lb/>
noch intensiver als das Kind und der Bauer; nicht weniger über die leuch¬<lb/>
tenden Farben im Corrcggiosaale der Dresdner Galerie. Wenn manche moderne<lb/>
Maler ausschließlich matte und stumpfe Farben verwenden, so ist das eben ein<lb/>
krankhafter, nicht ein höher gebildeter Geschmack. Bei Kleidern und Wohnungs¬<lb/>
ausstattungen weicht der gebildete Geschmack nur insofern vom rohen ab, als<lb/>
er den einfachen Farben eine Menge Mischungen und Abtönungen beifügt, die<lb/>
durch Zartheit und harmonische Zusammenstellung erfreuen. Was aber in<lb/>
beiden Gebieten die Verwendung greller und bunter Farben verbietet oder ein¬<lb/>
schränkt, das sind Rücksichten, die außerhalb der Physiologie des Auges und<lb/>
zum Teil außerhalb der Ästhetik liegen. Eine Dame von Geschmack wird sich<lb/>
niemals ganz und gar in grasgrün hüllen, nicht weil sie glaubte, daß irgend<lb/>
jemand Augenschmerzen davon bekommen könnte &#x2014; thut doch gerade dem von<lb/>
weißem Papier und schwarzer Tinte oder Druckerschwärze gepeinigten Ange<lb/>
des Kulturmenschen nichts wohler als eine grüne Wiese &#x2014;, sondern weil sie<lb/>
nicht an den Laubfrosch erinnern will. Männer unsrer Zeit aber kleiden sich<lb/>
schwarz oder grau nicht aus Abneigung gegen schöne Farben, sondern weil sie<lb/>
es für ungeziemend halten, durch bunte Gewandung die Aufmerksamkeit des<lb/>
Publikums auf ihre Leiblichkeit zu lenken. An unsern Wänden endlich können<lb/>
wir lebhafte Farben nicht brauchen, weil die uns in der Arbeit stören würden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1670" next="#ID_1671"> Kroells Buch trägt streng wissenschaftlichen Charakter. Es ist eine<lb/>
ausgezeichnete physiologische Psychologie und kann allen, die sich über die<lb/>
Gehirnfunktionen unterrichten wollen, ohne dieses Gebiet zu ihrem Fachstudium<lb/>
zu machen, sehr empfohlen werden. Was der Physiolog dem Psychologen<lb/>
leisten kann, das leistet Kroell, und wir nehmen alle seine Erklärungen ohne<lb/>
Einschränkung an, einschließlich der Bedeutung der in den Hirndispositionen<lb/>
liegenden Hemmungen für die Ethik. Aber seinen Monismus lehnen wir ab;<lb/>
nicht den Monismus an sich, sondern eben seinen Monismus. Denn sein<lb/>
Meines ist nicht der Geist, nicht das Wort, sondern der &#x201E;Kraftstoff." Nennt--</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0364] Zur Psychologie und Anthropologie Dame ist eben darin nicht Kulturmensch. Es giebt wohl auch Kulturmenschen, denen preußische Militärblechmusik lieber ist als ein Streichquartett, aber nicht deswegen, weil sie Kulturmenschen, sondern weil sie taub sind. Die Vorliebe für Monstrekonzerte bedeutet nicht einen Kulturfortschritt, sondern einen Rück¬ schritt zur Barbarei. Gewöhnliche starke Orchester werden allerdings durch einen Kulturfortschritt gefordert, nämlich durch den der musikalischen Komposition, denn um den reichen Inhalt einer Symphonie auszudrücken, zu dem auch ge¬ waltige Steigerungen, Kontraste, Stimmungswechsel und Auflösung von Disso¬ nanzen gehören, dazu gehört eben eine große Anzahl verschiedner Instrumente. Wenn sich die Kinder und das Volk mit einfachen Melodien begnügen, so geschieht das nicht, weil ihnen Lärm und Dissonanzen mißfielen, sondern weil sie über die Mittel zu einer großen Aufführung nicht verfügen. Ebensowenig ist zuzugeben, daß dem Kulturmenschen grelle Farben weh thäten. Der ge¬ sunde Kulturmensch freut sich über das leuchtende Himmelsblau und Wiesen¬ grün und über die roten Mohnblumen auf dem Felde ebenso und vielleicht noch intensiver als das Kind und der Bauer; nicht weniger über die leuch¬ tenden Farben im Corrcggiosaale der Dresdner Galerie. Wenn manche moderne Maler ausschließlich matte und stumpfe Farben verwenden, so ist das eben ein krankhafter, nicht ein höher gebildeter Geschmack. Bei Kleidern und Wohnungs¬ ausstattungen weicht der gebildete Geschmack nur insofern vom rohen ab, als er den einfachen Farben eine Menge Mischungen und Abtönungen beifügt, die durch Zartheit und harmonische Zusammenstellung erfreuen. Was aber in beiden Gebieten die Verwendung greller und bunter Farben verbietet oder ein¬ schränkt, das sind Rücksichten, die außerhalb der Physiologie des Auges und zum Teil außerhalb der Ästhetik liegen. Eine Dame von Geschmack wird sich niemals ganz und gar in grasgrün hüllen, nicht weil sie glaubte, daß irgend jemand Augenschmerzen davon bekommen könnte — thut doch gerade dem von weißem Papier und schwarzer Tinte oder Druckerschwärze gepeinigten Ange des Kulturmenschen nichts wohler als eine grüne Wiese —, sondern weil sie nicht an den Laubfrosch erinnern will. Männer unsrer Zeit aber kleiden sich schwarz oder grau nicht aus Abneigung gegen schöne Farben, sondern weil sie es für ungeziemend halten, durch bunte Gewandung die Aufmerksamkeit des Publikums auf ihre Leiblichkeit zu lenken. An unsern Wänden endlich können wir lebhafte Farben nicht brauchen, weil die uns in der Arbeit stören würden. Kroells Buch trägt streng wissenschaftlichen Charakter. Es ist eine ausgezeichnete physiologische Psychologie und kann allen, die sich über die Gehirnfunktionen unterrichten wollen, ohne dieses Gebiet zu ihrem Fachstudium zu machen, sehr empfohlen werden. Was der Physiolog dem Psychologen leisten kann, das leistet Kroell, und wir nehmen alle seine Erklärungen ohne Einschränkung an, einschließlich der Bedeutung der in den Hirndispositionen liegenden Hemmungen für die Ethik. Aber seinen Monismus lehnen wir ab; nicht den Monismus an sich, sondern eben seinen Monismus. Denn sein Meines ist nicht der Geist, nicht das Wort, sondern der „Kraftstoff." Nennt--

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/364
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/364>, abgerufen am 23.05.2024.