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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Die englische Lokalverwaltmig

von den englischen Zuständen bei seinen Landsleuten einbürgerte lind dadurch
einen verschönernden Schleier über die häßliche Wirklichkeit breitete. In der
dritten, praktischen Periode der Reformbewegung waren die Whigs so klug,
sich mit den "Radikalen" zu Verbunden, d, h, mit den Wortführern des in der
napoleonischen Periode zu gewaltigem Reichtum gelangten Standes der Händler
und Fabrikanten, die sich in England Mittelstand nannten, eine Bezeichnung,
die heute bei uns einen ganz andern Sinn hat. Diese Bourgeoisie benutzte nun
zwar die Arbeiterschaft für ihre Agitation, belaste aber den Ertrag für sich
allein ein. Die Reformakte von 1832, die nach Redlich für England das
Ende des imoisn rvUms bedeutet, machte, durch Beseitigung von 86 kleinen
Wahlflecken 123 Sitze frei, die unter die Grafschaften und die bis dahin nn-
vertretnen Städte verteilt wurden; das ländliche Wahlrecht wurde erweitert, das
städtische von den privilegierte" Körperschaften abgelöst, persönlich gemacht und
an einen Zensus von 10 Pfund geknüpft. Doch ließ man 42 Pocket Boronghs,
die 69 Mandate zu vergeben hatten, sozusagen als Privateigentum eiuer aristo¬
kratischen Bevölkerung von 370000 Seelen, und eine Anzahl kleiner Wahl¬
flecken mit 300 bis 500 Köpfe starken Wählerschaften als Operationsfeld für
Bestechungsküuste bestehn. Die Reform war also nichts weniger als demo¬
kratisch; kaum ein Vierundzwanzigstel der Bevölkerung wurde dnrch sie wahl¬
berechtigt, aber sie war die erste Etappe zur Demokratisierung des aristokratischen
Englands.

Zunächst verschmolzen um die reichen Bürgerlichen, die im Parlament
und auf der Friedensrichterbank Platz nahmen, mit der Gentry zu einer Klasse,
aber die Verwaltung wurde dadurch allein noch nicht besser. Diese berühmte
Selbstverwaltung war nach dem Bericht einer Parlnmentskommission vom
Jahre 1835 der reine Skandal. In Städten von 75000 Einwohnern wird
sie von einer privilegierten Körperschaft von etwa 400 zum Teil auswärts
wohnenden Mitgliedern besorgt, die aus ihrem Kreise alle wirtschaftlich tüch¬
tige" Elemente fern halten, weil sie die bezahlten Wahlmacher ihrer Patrone
sind. Die Bürgerschaften sind deshalb durchweg unzufrieden mit der städtischen
Verwaltung und von Mißtrauen gegen sie erfüllt. Als den Mann, dessen
Gedanken für die der Parlamentsresvrm folgende Verwaltungsresorm ma߬
gebend geworden sind, und der durch seine unermüdliche Agitation am kräftigsten
dazu getrieben hat, bezeichnet Redlich Jeremias Bentham. Mit seinem Grund¬
sätze: Das größte mögliche Glück (oder der größte mögliche Nutzen) für die
größte mögliche Zahl, ließ sich die Unvernunft der englischen Verwaltung am
besten klar machen. Einer seiner Schüler, Edwin Chndwick, verwirklichte die
Ideen des Meisters zunächst in der Armengesetzgebung. Die Armenordmmg
der Kömgin Elisabeth, die Redlich für gut hält, war von den herrschenden
Squires zu einer Ungeheuerlichkeit verzerrt worde". Unter dem Namen der
Armenunterstützung ließen sie sich von den Steuerzahlern den Lohn ihrer Tage¬
löhner bezahlen. Sie bewilligten Armenunterstützung jedem, der sie verlangte,
ohne Rücksicht auf seiue Arbeitfähigkeit und nach der Kopfzahl der Familie,


Die englische Lokalverwaltmig

von den englischen Zuständen bei seinen Landsleuten einbürgerte lind dadurch
einen verschönernden Schleier über die häßliche Wirklichkeit breitete. In der
dritten, praktischen Periode der Reformbewegung waren die Whigs so klug,
sich mit den „Radikalen" zu Verbunden, d, h, mit den Wortführern des in der
napoleonischen Periode zu gewaltigem Reichtum gelangten Standes der Händler
und Fabrikanten, die sich in England Mittelstand nannten, eine Bezeichnung,
die heute bei uns einen ganz andern Sinn hat. Diese Bourgeoisie benutzte nun
zwar die Arbeiterschaft für ihre Agitation, belaste aber den Ertrag für sich
allein ein. Die Reformakte von 1832, die nach Redlich für England das
Ende des imoisn rvUms bedeutet, machte, durch Beseitigung von 86 kleinen
Wahlflecken 123 Sitze frei, die unter die Grafschaften und die bis dahin nn-
vertretnen Städte verteilt wurden; das ländliche Wahlrecht wurde erweitert, das
städtische von den privilegierte» Körperschaften abgelöst, persönlich gemacht und
an einen Zensus von 10 Pfund geknüpft. Doch ließ man 42 Pocket Boronghs,
die 69 Mandate zu vergeben hatten, sozusagen als Privateigentum eiuer aristo¬
kratischen Bevölkerung von 370000 Seelen, und eine Anzahl kleiner Wahl¬
flecken mit 300 bis 500 Köpfe starken Wählerschaften als Operationsfeld für
Bestechungsküuste bestehn. Die Reform war also nichts weniger als demo¬
kratisch; kaum ein Vierundzwanzigstel der Bevölkerung wurde dnrch sie wahl¬
berechtigt, aber sie war die erste Etappe zur Demokratisierung des aristokratischen
Englands.

Zunächst verschmolzen um die reichen Bürgerlichen, die im Parlament
und auf der Friedensrichterbank Platz nahmen, mit der Gentry zu einer Klasse,
aber die Verwaltung wurde dadurch allein noch nicht besser. Diese berühmte
Selbstverwaltung war nach dem Bericht einer Parlnmentskommission vom
Jahre 1835 der reine Skandal. In Städten von 75000 Einwohnern wird
sie von einer privilegierten Körperschaft von etwa 400 zum Teil auswärts
wohnenden Mitgliedern besorgt, die aus ihrem Kreise alle wirtschaftlich tüch¬
tige» Elemente fern halten, weil sie die bezahlten Wahlmacher ihrer Patrone
sind. Die Bürgerschaften sind deshalb durchweg unzufrieden mit der städtischen
Verwaltung und von Mißtrauen gegen sie erfüllt. Als den Mann, dessen
Gedanken für die der Parlamentsresvrm folgende Verwaltungsresorm ma߬
gebend geworden sind, und der durch seine unermüdliche Agitation am kräftigsten
dazu getrieben hat, bezeichnet Redlich Jeremias Bentham. Mit seinem Grund¬
sätze: Das größte mögliche Glück (oder der größte mögliche Nutzen) für die
größte mögliche Zahl, ließ sich die Unvernunft der englischen Verwaltung am
besten klar machen. Einer seiner Schüler, Edwin Chndwick, verwirklichte die
Ideen des Meisters zunächst in der Armengesetzgebung. Die Armenordmmg
der Kömgin Elisabeth, die Redlich für gut hält, war von den herrschenden
Squires zu einer Ungeheuerlichkeit verzerrt worde». Unter dem Namen der
Armenunterstützung ließen sie sich von den Steuerzahlern den Lohn ihrer Tage¬
löhner bezahlen. Sie bewilligten Armenunterstützung jedem, der sie verlangte,
ohne Rücksicht auf seiue Arbeitfähigkeit und nach der Kopfzahl der Familie,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/446>, abgerufen am 17.06.2024.