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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Das Wort Gesellschaft bezeichnet die Gesamtheit der Beziehungen der
Menschen zur Güterwelt. Diese Beziehungen begründen Abhüngigkeitsvcrhält-
nisse, und aus diesen entspringt der Kampf der abhängigen Nichtbesitzenden
gegen die Besitzendein Die einander entgegenstehenden Interessen zu versöhnen
ist die Gesellschaft ans sich selbst heraus nicht fähig. Der Staat ist dazu be¬
rufe", die selbstsüchtigen Interessen zu überwinden und dadurch Ordnung her¬
zustellen. Wie im einzelnen Menschen die Vernunft die Begierden überwinden
und den ganzen Organismus in den Dienst der Pflicht stellen soll, so zwingt der
Staat die Einzelnen, Zwecken zu dienen, die ihrem persönlichen Interesse fern
liegen; dagegen strebt die Gesellschaft dahin, den Staat den Zwecken der Einzelnen
dienstbar zu machen, und jede Gesellschaftsgruppe erhebt den Anspruch auf
einen Anteil an der Macht und Leitung, Null aber weder Lasten, noch persön¬
liche Arbeit, noch Verantwortung übernehmen. So sind also Staat und Gesell¬
schaft von Natur feindliche Gegensätze. Den Engländern ist nun in ihrem
Selfgovernment das Glück einer Institution zu teil geworden, die eine Gegcn-
organisation des Staats gegen die Gesellschaft darstellt und zugleich zwischen
den beiden feindlichen Mächten vermittelt. DaS Selfgovernment hat die mittel¬
alterlichen Jnteressenverbände, die die Mittel zur Erfüllung ihrer Zwecke nach
eignen Beschlüssen aufbrachten, in Pflichtverbände verwandelt, deren Thätigkeit
durch das Gesetz geregelt wird. Das Gesetz aber ist vom König ausgegangen.
Die normännischen Könige haben das Selfgovernment angeordnet, und unter
Mitwirkung des Parlaments ist dann ans den königlichen Verordnungen eine
organische Gesetzgebung hervorgegangen. Die Organe der Selbstverwaltung
sind vom König ernannte, diesem Verantwortliche Staatsbeamte, Indem aber
diese Beamten ihre Ämter unentgeltlich verwalten und hohe Steuern zahlen,
erwerben sie durch solche Übernahme schwerer Lasten und Pflichten den Ein¬
fluß, den ihnen sonst nur ihr wirtschaftliches Übergewicht und die daraus ent¬
springende Unfreiheit der Armem verschaffen könnte. So wird dieses Self¬
government Grundlage einer Ständebildnng, die keinen feindlichen Gegensatz
erzeugt, weil die Beherrschten das wohlerworbne Recht der Herrschenden an¬
erkennen, und es wird zugleich Grundlage des Parlaments, des Überbaus der
Lokalverwaltuug, da ja das Unterhaus aus Vertretern der lokalen Verwal-
tungskörper, der Ritterschaften und Städte, besteht. Ans diese Weise stellt
der Zwischenbau des Sclfgovernmeuts die Harmonie her zwischen Staat und
Gesellschaft.

Die Parlaments- und Verwaltnngsreform hat nun diese schöne Harmonie
aufgelöst, die greulichste Verwirrung angerichtet und den Staat durch Über¬
flutung mit der Gesellschaft in Gefahr gebracht. Die durch diese Neuerungen
hergestellte Selbstverwaltung ist nicht mehr eine vom Staate geschaffne Gegen-
vrganisation gegen die Gesellschaft, sondern eine Organisation der Gesellschaft
selbst, der örtlichen Interessen, Sie besteht darin, daß die Interessenten in
Boards, die durch häufige Wahlen erneuert werden, über die Aufbringung
"ut Verwendung der Mittel zur Befriedigung ihrer örtlichen Bedürfnisse be-


Das Wort Gesellschaft bezeichnet die Gesamtheit der Beziehungen der
Menschen zur Güterwelt. Diese Beziehungen begründen Abhüngigkeitsvcrhält-
nisse, und aus diesen entspringt der Kampf der abhängigen Nichtbesitzenden
gegen die Besitzendein Die einander entgegenstehenden Interessen zu versöhnen
ist die Gesellschaft ans sich selbst heraus nicht fähig. Der Staat ist dazu be¬
rufe», die selbstsüchtigen Interessen zu überwinden und dadurch Ordnung her¬
zustellen. Wie im einzelnen Menschen die Vernunft die Begierden überwinden
und den ganzen Organismus in den Dienst der Pflicht stellen soll, so zwingt der
Staat die Einzelnen, Zwecken zu dienen, die ihrem persönlichen Interesse fern
liegen; dagegen strebt die Gesellschaft dahin, den Staat den Zwecken der Einzelnen
dienstbar zu machen, und jede Gesellschaftsgruppe erhebt den Anspruch auf
einen Anteil an der Macht und Leitung, Null aber weder Lasten, noch persön¬
liche Arbeit, noch Verantwortung übernehmen. So sind also Staat und Gesell¬
schaft von Natur feindliche Gegensätze. Den Engländern ist nun in ihrem
Selfgovernment das Glück einer Institution zu teil geworden, die eine Gegcn-
organisation des Staats gegen die Gesellschaft darstellt und zugleich zwischen
den beiden feindlichen Mächten vermittelt. DaS Selfgovernment hat die mittel¬
alterlichen Jnteressenverbände, die die Mittel zur Erfüllung ihrer Zwecke nach
eignen Beschlüssen aufbrachten, in Pflichtverbände verwandelt, deren Thätigkeit
durch das Gesetz geregelt wird. Das Gesetz aber ist vom König ausgegangen.
Die normännischen Könige haben das Selfgovernment angeordnet, und unter
Mitwirkung des Parlaments ist dann ans den königlichen Verordnungen eine
organische Gesetzgebung hervorgegangen. Die Organe der Selbstverwaltung
sind vom König ernannte, diesem Verantwortliche Staatsbeamte, Indem aber
diese Beamten ihre Ämter unentgeltlich verwalten und hohe Steuern zahlen,
erwerben sie durch solche Übernahme schwerer Lasten und Pflichten den Ein¬
fluß, den ihnen sonst nur ihr wirtschaftliches Übergewicht und die daraus ent¬
springende Unfreiheit der Armem verschaffen könnte. So wird dieses Self¬
government Grundlage einer Ständebildnng, die keinen feindlichen Gegensatz
erzeugt, weil die Beherrschten das wohlerworbne Recht der Herrschenden an¬
erkennen, und es wird zugleich Grundlage des Parlaments, des Überbaus der
Lokalverwaltuug, da ja das Unterhaus aus Vertretern der lokalen Verwal-
tungskörper, der Ritterschaften und Städte, besteht. Ans diese Weise stellt
der Zwischenbau des Sclfgovernmeuts die Harmonie her zwischen Staat und
Gesellschaft.

Die Parlaments- und Verwaltnngsreform hat nun diese schöne Harmonie
aufgelöst, die greulichste Verwirrung angerichtet und den Staat durch Über¬
flutung mit der Gesellschaft in Gefahr gebracht. Die durch diese Neuerungen
hergestellte Selbstverwaltung ist nicht mehr eine vom Staate geschaffne Gegen-
vrganisation gegen die Gesellschaft, sondern eine Organisation der Gesellschaft
selbst, der örtlichen Interessen, Sie besteht darin, daß die Interessenten in
Boards, die durch häufige Wahlen erneuert werden, über die Aufbringung
»ut Verwendung der Mittel zur Befriedigung ihrer örtlichen Bedürfnisse be-


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[0613] Das Wort Gesellschaft bezeichnet die Gesamtheit der Beziehungen der Menschen zur Güterwelt. Diese Beziehungen begründen Abhüngigkeitsvcrhält- nisse, und aus diesen entspringt der Kampf der abhängigen Nichtbesitzenden gegen die Besitzendein Die einander entgegenstehenden Interessen zu versöhnen ist die Gesellschaft ans sich selbst heraus nicht fähig. Der Staat ist dazu be¬ rufe», die selbstsüchtigen Interessen zu überwinden und dadurch Ordnung her¬ zustellen. Wie im einzelnen Menschen die Vernunft die Begierden überwinden und den ganzen Organismus in den Dienst der Pflicht stellen soll, so zwingt der Staat die Einzelnen, Zwecken zu dienen, die ihrem persönlichen Interesse fern liegen; dagegen strebt die Gesellschaft dahin, den Staat den Zwecken der Einzelnen dienstbar zu machen, und jede Gesellschaftsgruppe erhebt den Anspruch auf einen Anteil an der Macht und Leitung, Null aber weder Lasten, noch persön¬ liche Arbeit, noch Verantwortung übernehmen. So sind also Staat und Gesell¬ schaft von Natur feindliche Gegensätze. Den Engländern ist nun in ihrem Selfgovernment das Glück einer Institution zu teil geworden, die eine Gegcn- organisation des Staats gegen die Gesellschaft darstellt und zugleich zwischen den beiden feindlichen Mächten vermittelt. DaS Selfgovernment hat die mittel¬ alterlichen Jnteressenverbände, die die Mittel zur Erfüllung ihrer Zwecke nach eignen Beschlüssen aufbrachten, in Pflichtverbände verwandelt, deren Thätigkeit durch das Gesetz geregelt wird. Das Gesetz aber ist vom König ausgegangen. Die normännischen Könige haben das Selfgovernment angeordnet, und unter Mitwirkung des Parlaments ist dann ans den königlichen Verordnungen eine organische Gesetzgebung hervorgegangen. Die Organe der Selbstverwaltung sind vom König ernannte, diesem Verantwortliche Staatsbeamte, Indem aber diese Beamten ihre Ämter unentgeltlich verwalten und hohe Steuern zahlen, erwerben sie durch solche Übernahme schwerer Lasten und Pflichten den Ein¬ fluß, den ihnen sonst nur ihr wirtschaftliches Übergewicht und die daraus ent¬ springende Unfreiheit der Armem verschaffen könnte. So wird dieses Self¬ government Grundlage einer Ständebildnng, die keinen feindlichen Gegensatz erzeugt, weil die Beherrschten das wohlerworbne Recht der Herrschenden an¬ erkennen, und es wird zugleich Grundlage des Parlaments, des Überbaus der Lokalverwaltuug, da ja das Unterhaus aus Vertretern der lokalen Verwal- tungskörper, der Ritterschaften und Städte, besteht. Ans diese Weise stellt der Zwischenbau des Sclfgovernmeuts die Harmonie her zwischen Staat und Gesellschaft. Die Parlaments- und Verwaltnngsreform hat nun diese schöne Harmonie aufgelöst, die greulichste Verwirrung angerichtet und den Staat durch Über¬ flutung mit der Gesellschaft in Gefahr gebracht. Die durch diese Neuerungen hergestellte Selbstverwaltung ist nicht mehr eine vom Staate geschaffne Gegen- vrganisation gegen die Gesellschaft, sondern eine Organisation der Gesellschaft selbst, der örtlichen Interessen, Sie besteht darin, daß die Interessenten in Boards, die durch häufige Wahlen erneuert werden, über die Aufbringung »ut Verwendung der Mittel zur Befriedigung ihrer örtlichen Bedürfnisse be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/613>, abgerufen am 13.05.2024.