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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Die englische Lcikalverwaltung

schlichen. An die Stelle der bürgerlichen Pflicht tritt also das örtliche Interesse.
Ob einer eins der Ämter der Selbstverwaltung übernehmen will, das ist in
sein Belieben gestellt. Gegenstand der Selbstverwaltung sind "nicht Funktionen
der örtlich thätigen Staatsverwaltung, sondern die wirtschaftlichen Interessen
des Verbands, an erster Stelle die Verwaltung des eignen Vermögens, sodann
die Armenpflege, Gesundheitspflege, Wegeverwaltung. Die eigentlichen Gegen¬
stände des Selfgovernments dagegen- Geschwornendienst, Sicherheits- und
Wohlfahrtspolizei rechnet die Gesellschaft überhaupt nicht mehr zu ihrer Selbst¬
verwaltung." Damit ist der ganze Bau des Staats von Grund aus geändert.
Die Organe der neuen, rein wirtschaftlichen Selbstverwaltung sind nicht mehr
Staatsbeamte, sondern Beamte der Lokalinteressenten. Die Funktionen der
alten Selbstverwaltung, namentlich die Rechtsprechung, werden von der Selbst¬
verwaltung abgetrennt und dein Staat überwiesen. Und da auch die neue
wirtschaftliche Verwaltung einer Oberinstanz nicht entbehren kann, so sorgt ein
Minister dafür, daß die Lokalvcrwaltnng mit dem Gesnmtinteresse in Überein¬
stimmung bleibe, indem er bureaukratisch durch Erlasse regelnd eingreift und
durch Inspektoren und Auditoren die Aufsicht führt. Die Kommnnalwahlen
aber haben, weil geheim abgestimmt wird, aufgehört, Akte der versammelten
Gemeinde zu sein, und damit hört auch alle Verantwortlichkeit auf. Und im
bureaukratischen Instanzenzug kommt der Einzelne um den Rechtsschutz gegen
Maßregeln der Verwaltung. "Damit hört die Selbstverwaltung auf, die
Grundlage der Ständebildung zu sein. Ein Gemeindeleben, an dem sich der
Gemcindewähler nnr durch die Abgabe eines Stimmzettels von drei zu drei
Jahren beteiligt, und wo nnr Freiwillige von Zeit zu Zeit in ein Board
treten, um Beschlüsse über die Geldverwendung und Anstellung der Lvkal-
bcamten zu fassen, bildet kein Band mehr, um die durch Interessen geschiednen
Klassen zu verbinden, um durch die tägliche Erfüllung der Pflichten des
Menschen gegen den Menschen die besitzenden und die arbeitenden Klassen zu
verbinden, zu versöhnen und aneinander zu gewöhnen. Indem der imroübm!
mint erlischt, gehn die besitzenden Klassen mit ihren Theorien vom Volun-
tarisin, die arbeitenden Klassen mit ihren kommunistischen und sozialistischen
Doktrinen immer weiter auseinander. Die staatbildende Kraft des Self¬
governments erlischt. Im Parlament zentralisiert sich der Widerstreit der
gesellschaftlichen Interessen; Presse, Wahlrecht, öffentliche Meinung sind nicht
mehr der Ausdruck staatlicher, kirchlicher, sittlicher Überzeugungen, sondern
gesellschaftlicher Gegensätze und Interessen."

Diesem so ganz verlotterten und von sich selber abgefallnen Staatswesen,
prophezeit Gneist, drohe die Revolution; er tröstet sich jedoch dann wieder mit
dem Gedanken, daß das Königtum immerhin noch eine Macht sei; es brauche
mir den unverjährbaren Grundsatz geltend zu machen, daß das Privy Council,
d. h. das Kabinett, vom König ernannt wird, und daß es dem Rechte nach
alle Regierungsgewalt hat. Die Unverjährbarkeit des englischen Staatsrechts
bürge dafür, daß der Staat nicht unwiderruflich Diener der Gesellschaft werden


Die englische Lcikalverwaltung

schlichen. An die Stelle der bürgerlichen Pflicht tritt also das örtliche Interesse.
Ob einer eins der Ämter der Selbstverwaltung übernehmen will, das ist in
sein Belieben gestellt. Gegenstand der Selbstverwaltung sind „nicht Funktionen
der örtlich thätigen Staatsverwaltung, sondern die wirtschaftlichen Interessen
des Verbands, an erster Stelle die Verwaltung des eignen Vermögens, sodann
die Armenpflege, Gesundheitspflege, Wegeverwaltung. Die eigentlichen Gegen¬
stände des Selfgovernments dagegen- Geschwornendienst, Sicherheits- und
Wohlfahrtspolizei rechnet die Gesellschaft überhaupt nicht mehr zu ihrer Selbst¬
verwaltung." Damit ist der ganze Bau des Staats von Grund aus geändert.
Die Organe der neuen, rein wirtschaftlichen Selbstverwaltung sind nicht mehr
Staatsbeamte, sondern Beamte der Lokalinteressenten. Die Funktionen der
alten Selbstverwaltung, namentlich die Rechtsprechung, werden von der Selbst¬
verwaltung abgetrennt und dein Staat überwiesen. Und da auch die neue
wirtschaftliche Verwaltung einer Oberinstanz nicht entbehren kann, so sorgt ein
Minister dafür, daß die Lokalvcrwaltnng mit dem Gesnmtinteresse in Überein¬
stimmung bleibe, indem er bureaukratisch durch Erlasse regelnd eingreift und
durch Inspektoren und Auditoren die Aufsicht führt. Die Kommnnalwahlen
aber haben, weil geheim abgestimmt wird, aufgehört, Akte der versammelten
Gemeinde zu sein, und damit hört auch alle Verantwortlichkeit auf. Und im
bureaukratischen Instanzenzug kommt der Einzelne um den Rechtsschutz gegen
Maßregeln der Verwaltung. „Damit hört die Selbstverwaltung auf, die
Grundlage der Ständebildung zu sein. Ein Gemeindeleben, an dem sich der
Gemcindewähler nnr durch die Abgabe eines Stimmzettels von drei zu drei
Jahren beteiligt, und wo nnr Freiwillige von Zeit zu Zeit in ein Board
treten, um Beschlüsse über die Geldverwendung und Anstellung der Lvkal-
bcamten zu fassen, bildet kein Band mehr, um die durch Interessen geschiednen
Klassen zu verbinden, um durch die tägliche Erfüllung der Pflichten des
Menschen gegen den Menschen die besitzenden und die arbeitenden Klassen zu
verbinden, zu versöhnen und aneinander zu gewöhnen. Indem der imroübm!
mint erlischt, gehn die besitzenden Klassen mit ihren Theorien vom Volun-
tarisin, die arbeitenden Klassen mit ihren kommunistischen und sozialistischen
Doktrinen immer weiter auseinander. Die staatbildende Kraft des Self¬
governments erlischt. Im Parlament zentralisiert sich der Widerstreit der
gesellschaftlichen Interessen; Presse, Wahlrecht, öffentliche Meinung sind nicht
mehr der Ausdruck staatlicher, kirchlicher, sittlicher Überzeugungen, sondern
gesellschaftlicher Gegensätze und Interessen."

Diesem so ganz verlotterten und von sich selber abgefallnen Staatswesen,
prophezeit Gneist, drohe die Revolution; er tröstet sich jedoch dann wieder mit
dem Gedanken, daß das Königtum immerhin noch eine Macht sei; es brauche
mir den unverjährbaren Grundsatz geltend zu machen, daß das Privy Council,
d. h. das Kabinett, vom König ernannt wird, und daß es dem Rechte nach
alle Regierungsgewalt hat. Die Unverjährbarkeit des englischen Staatsrechts
bürge dafür, daß der Staat nicht unwiderruflich Diener der Gesellschaft werden


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[0614] Die englische Lcikalverwaltung schlichen. An die Stelle der bürgerlichen Pflicht tritt also das örtliche Interesse. Ob einer eins der Ämter der Selbstverwaltung übernehmen will, das ist in sein Belieben gestellt. Gegenstand der Selbstverwaltung sind „nicht Funktionen der örtlich thätigen Staatsverwaltung, sondern die wirtschaftlichen Interessen des Verbands, an erster Stelle die Verwaltung des eignen Vermögens, sodann die Armenpflege, Gesundheitspflege, Wegeverwaltung. Die eigentlichen Gegen¬ stände des Selfgovernments dagegen- Geschwornendienst, Sicherheits- und Wohlfahrtspolizei rechnet die Gesellschaft überhaupt nicht mehr zu ihrer Selbst¬ verwaltung." Damit ist der ganze Bau des Staats von Grund aus geändert. Die Organe der neuen, rein wirtschaftlichen Selbstverwaltung sind nicht mehr Staatsbeamte, sondern Beamte der Lokalinteressenten. Die Funktionen der alten Selbstverwaltung, namentlich die Rechtsprechung, werden von der Selbst¬ verwaltung abgetrennt und dein Staat überwiesen. Und da auch die neue wirtschaftliche Verwaltung einer Oberinstanz nicht entbehren kann, so sorgt ein Minister dafür, daß die Lokalvcrwaltnng mit dem Gesnmtinteresse in Überein¬ stimmung bleibe, indem er bureaukratisch durch Erlasse regelnd eingreift und durch Inspektoren und Auditoren die Aufsicht führt. Die Kommnnalwahlen aber haben, weil geheim abgestimmt wird, aufgehört, Akte der versammelten Gemeinde zu sein, und damit hört auch alle Verantwortlichkeit auf. Und im bureaukratischen Instanzenzug kommt der Einzelne um den Rechtsschutz gegen Maßregeln der Verwaltung. „Damit hört die Selbstverwaltung auf, die Grundlage der Ständebildung zu sein. Ein Gemeindeleben, an dem sich der Gemcindewähler nnr durch die Abgabe eines Stimmzettels von drei zu drei Jahren beteiligt, und wo nnr Freiwillige von Zeit zu Zeit in ein Board treten, um Beschlüsse über die Geldverwendung und Anstellung der Lvkal- bcamten zu fassen, bildet kein Band mehr, um die durch Interessen geschiednen Klassen zu verbinden, um durch die tägliche Erfüllung der Pflichten des Menschen gegen den Menschen die besitzenden und die arbeitenden Klassen zu verbinden, zu versöhnen und aneinander zu gewöhnen. Indem der imroübm! mint erlischt, gehn die besitzenden Klassen mit ihren Theorien vom Volun- tarisin, die arbeitenden Klassen mit ihren kommunistischen und sozialistischen Doktrinen immer weiter auseinander. Die staatbildende Kraft des Self¬ governments erlischt. Im Parlament zentralisiert sich der Widerstreit der gesellschaftlichen Interessen; Presse, Wahlrecht, öffentliche Meinung sind nicht mehr der Ausdruck staatlicher, kirchlicher, sittlicher Überzeugungen, sondern gesellschaftlicher Gegensätze und Interessen." Diesem so ganz verlotterten und von sich selber abgefallnen Staatswesen, prophezeit Gneist, drohe die Revolution; er tröstet sich jedoch dann wieder mit dem Gedanken, daß das Königtum immerhin noch eine Macht sei; es brauche mir den unverjährbaren Grundsatz geltend zu machen, daß das Privy Council, d. h. das Kabinett, vom König ernannt wird, und daß es dem Rechte nach alle Regierungsgewalt hat. Die Unverjährbarkeit des englischen Staatsrechts bürge dafür, daß der Staat nicht unwiderruflich Diener der Gesellschaft werden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/614>, abgerufen am 23.05.2024.