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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Die englische Lokalvenvaltung

könne. Und für den Notfall habe die Jnteressenverwaltnng selbst die Organe
geschaffen, die dem Staate die Herrschaft über die Gesellschaft wiedergeben
können: "ein diszipliniertes Heer von 100000 Zivilbeamten, ein Gendarmerie¬
korps von 20000 Mann mit seinen Brigadiers und Offizieren, ein stehendes
Soldheer, dessen Offizierkorps den letzten Zusammenhang mit den herrschenden
Klassen aufzuheben im Begriff steht jdurch die Abschaffung des Stellenkaufs,
bemerkt Redlich erklärend j. Die Kurzsichtigkeit der Jnteresseuwirtschaft hat
diesen Apparat des Absolutismus im Laufe eines Menschenalters geschaffen."

Der Leser sieht ohne weiteres, wie wenig dieses Bild der englischen Selbst-
Verwaltung zu dem von Redlich entworfnen stimmt; außerdem weiß er, daß
nicht England, sondern Deutschland eine starke sozialdemokratische Partei in
seinem Reichsparlamente hat, die vor einigen Jahren Revolution gemacht
haben würde, wenn es ihr möglich gewesen wäre, und daß in allen unsern
Parlamenten der Interessenkampf zwischen Landwirtschaft und Industrie, Ost
und West, Handel und Handwerk, Kapital und Arbeit tobt, während das eng¬
lische Unterhaus selten Anlaß hat, sich über eine aus solchen Gegensätzen ent-
springende Frage mäßig aufzuregen. Wenn nicht mich schon vor Chamberlains
Kriege die Kolonial-, Heeresreform- und Marinefragen gewesen wären, würden
die paar Gentlemen, die den Unterhaussitzungcn beizuwohnen pflegen, höchstens
durch eilf äsvlZ^86Ä voies's sistsr IM oder einen Streit um Chorhemden von
Zeit zu Zeit aus ihrem Verdauungsschlaf aufgestört werden. Daß Gneist
gründlich daneben geschossen hat, leuchtet also ohne weiteres ein. Indes
"vollen wir vou dem, was Redlich gegen ihn sagt, wenigstens ewiges kurz an¬
führen. Der Grundfehler sei, daß Gneist von einer vorgefaßten Theorie, von
einem dogmatischen Begriff des Staats ausgehe und aus diesem die Er¬
scheinungen des Staatslebens erkläre, anstatt das Wesen des Staats aus der
geschichtlichen Wirklichkeit abzuleiten. Und sein scheinbares Apriori sei noch
dazu in Wahrheit ein Aposteriori, denn sein Staatsideal sei vom preußischen
Königtum abgezogen. Der Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft beruhe
auf Einbildung, denn in Wirklichkeit sei der Staat nichts andres als die
organisierte Gesellschaft, und die Organisation falle selbstverständlich nach Zeit,
Ort, nationaler Besonderheit und Umständen verschieden ans. Daß Gneist in
England fand, was er suchte, hatte er vorzugsweise dein Umstände zu danken,
daß er in der Zeit dahin kam, wo der theoretische Streit zwischen dein rechts¬
historischen Romantiker Tonlmin Smith und Chadwick entbrannt war; dieser
hatte allerdings als Reformator der Armenpflege und Schöpfer der Sanitäts¬
gesetze rücksichtslos und in einem den englischen Geivvhuheiteii wenig ent¬
sprechenden. Grade zentralisiert. Doch blieb der uuter diesen Umständen natür¬
liche Streit, der einzige theoretische Streit von Bedeutung im politischen
England der neuern Zeit, ohne Einfluß auf den Gang der Entwicklung, die
nach wie vor allein durch die Bedürfnisse des Volkes und Staats und nicht
durch theoretische Meinungen bestimmt wurde. Wenn die Darstellung Buchers
in seiner epochemachenden Schrift: Der Parlamentarismus, wie er ist, so ans-


Die englische Lokalvenvaltung

könne. Und für den Notfall habe die Jnteressenverwaltnng selbst die Organe
geschaffen, die dem Staate die Herrschaft über die Gesellschaft wiedergeben
können: „ein diszipliniertes Heer von 100000 Zivilbeamten, ein Gendarmerie¬
korps von 20000 Mann mit seinen Brigadiers und Offizieren, ein stehendes
Soldheer, dessen Offizierkorps den letzten Zusammenhang mit den herrschenden
Klassen aufzuheben im Begriff steht jdurch die Abschaffung des Stellenkaufs,
bemerkt Redlich erklärend j. Die Kurzsichtigkeit der Jnteresseuwirtschaft hat
diesen Apparat des Absolutismus im Laufe eines Menschenalters geschaffen."

Der Leser sieht ohne weiteres, wie wenig dieses Bild der englischen Selbst-
Verwaltung zu dem von Redlich entworfnen stimmt; außerdem weiß er, daß
nicht England, sondern Deutschland eine starke sozialdemokratische Partei in
seinem Reichsparlamente hat, die vor einigen Jahren Revolution gemacht
haben würde, wenn es ihr möglich gewesen wäre, und daß in allen unsern
Parlamenten der Interessenkampf zwischen Landwirtschaft und Industrie, Ost
und West, Handel und Handwerk, Kapital und Arbeit tobt, während das eng¬
lische Unterhaus selten Anlaß hat, sich über eine aus solchen Gegensätzen ent-
springende Frage mäßig aufzuregen. Wenn nicht mich schon vor Chamberlains
Kriege die Kolonial-, Heeresreform- und Marinefragen gewesen wären, würden
die paar Gentlemen, die den Unterhaussitzungcn beizuwohnen pflegen, höchstens
durch eilf äsvlZ^86Ä voies's sistsr IM oder einen Streit um Chorhemden von
Zeit zu Zeit aus ihrem Verdauungsschlaf aufgestört werden. Daß Gneist
gründlich daneben geschossen hat, leuchtet also ohne weiteres ein. Indes
»vollen wir vou dem, was Redlich gegen ihn sagt, wenigstens ewiges kurz an¬
führen. Der Grundfehler sei, daß Gneist von einer vorgefaßten Theorie, von
einem dogmatischen Begriff des Staats ausgehe und aus diesem die Er¬
scheinungen des Staatslebens erkläre, anstatt das Wesen des Staats aus der
geschichtlichen Wirklichkeit abzuleiten. Und sein scheinbares Apriori sei noch
dazu in Wahrheit ein Aposteriori, denn sein Staatsideal sei vom preußischen
Königtum abgezogen. Der Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft beruhe
auf Einbildung, denn in Wirklichkeit sei der Staat nichts andres als die
organisierte Gesellschaft, und die Organisation falle selbstverständlich nach Zeit,
Ort, nationaler Besonderheit und Umständen verschieden ans. Daß Gneist in
England fand, was er suchte, hatte er vorzugsweise dein Umstände zu danken,
daß er in der Zeit dahin kam, wo der theoretische Streit zwischen dein rechts¬
historischen Romantiker Tonlmin Smith und Chadwick entbrannt war; dieser
hatte allerdings als Reformator der Armenpflege und Schöpfer der Sanitäts¬
gesetze rücksichtslos und in einem den englischen Geivvhuheiteii wenig ent¬
sprechenden. Grade zentralisiert. Doch blieb der uuter diesen Umständen natür¬
liche Streit, der einzige theoretische Streit von Bedeutung im politischen
England der neuern Zeit, ohne Einfluß auf den Gang der Entwicklung, die
nach wie vor allein durch die Bedürfnisse des Volkes und Staats und nicht
durch theoretische Meinungen bestimmt wurde. Wenn die Darstellung Buchers
in seiner epochemachenden Schrift: Der Parlamentarismus, wie er ist, so ans-


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[0615] Die englische Lokalvenvaltung könne. Und für den Notfall habe die Jnteressenverwaltnng selbst die Organe geschaffen, die dem Staate die Herrschaft über die Gesellschaft wiedergeben können: „ein diszipliniertes Heer von 100000 Zivilbeamten, ein Gendarmerie¬ korps von 20000 Mann mit seinen Brigadiers und Offizieren, ein stehendes Soldheer, dessen Offizierkorps den letzten Zusammenhang mit den herrschenden Klassen aufzuheben im Begriff steht jdurch die Abschaffung des Stellenkaufs, bemerkt Redlich erklärend j. Die Kurzsichtigkeit der Jnteresseuwirtschaft hat diesen Apparat des Absolutismus im Laufe eines Menschenalters geschaffen." Der Leser sieht ohne weiteres, wie wenig dieses Bild der englischen Selbst- Verwaltung zu dem von Redlich entworfnen stimmt; außerdem weiß er, daß nicht England, sondern Deutschland eine starke sozialdemokratische Partei in seinem Reichsparlamente hat, die vor einigen Jahren Revolution gemacht haben würde, wenn es ihr möglich gewesen wäre, und daß in allen unsern Parlamenten der Interessenkampf zwischen Landwirtschaft und Industrie, Ost und West, Handel und Handwerk, Kapital und Arbeit tobt, während das eng¬ lische Unterhaus selten Anlaß hat, sich über eine aus solchen Gegensätzen ent- springende Frage mäßig aufzuregen. Wenn nicht mich schon vor Chamberlains Kriege die Kolonial-, Heeresreform- und Marinefragen gewesen wären, würden die paar Gentlemen, die den Unterhaussitzungcn beizuwohnen pflegen, höchstens durch eilf äsvlZ^86Ä voies's sistsr IM oder einen Streit um Chorhemden von Zeit zu Zeit aus ihrem Verdauungsschlaf aufgestört werden. Daß Gneist gründlich daneben geschossen hat, leuchtet also ohne weiteres ein. Indes »vollen wir vou dem, was Redlich gegen ihn sagt, wenigstens ewiges kurz an¬ führen. Der Grundfehler sei, daß Gneist von einer vorgefaßten Theorie, von einem dogmatischen Begriff des Staats ausgehe und aus diesem die Er¬ scheinungen des Staatslebens erkläre, anstatt das Wesen des Staats aus der geschichtlichen Wirklichkeit abzuleiten. Und sein scheinbares Apriori sei noch dazu in Wahrheit ein Aposteriori, denn sein Staatsideal sei vom preußischen Königtum abgezogen. Der Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft beruhe auf Einbildung, denn in Wirklichkeit sei der Staat nichts andres als die organisierte Gesellschaft, und die Organisation falle selbstverständlich nach Zeit, Ort, nationaler Besonderheit und Umständen verschieden ans. Daß Gneist in England fand, was er suchte, hatte er vorzugsweise dein Umstände zu danken, daß er in der Zeit dahin kam, wo der theoretische Streit zwischen dein rechts¬ historischen Romantiker Tonlmin Smith und Chadwick entbrannt war; dieser hatte allerdings als Reformator der Armenpflege und Schöpfer der Sanitäts¬ gesetze rücksichtslos und in einem den englischen Geivvhuheiteii wenig ent¬ sprechenden. Grade zentralisiert. Doch blieb der uuter diesen Umständen natür¬ liche Streit, der einzige theoretische Streit von Bedeutung im politischen England der neuern Zeit, ohne Einfluß auf den Gang der Entwicklung, die nach wie vor allein durch die Bedürfnisse des Volkes und Staats und nicht durch theoretische Meinungen bestimmt wurde. Wenn die Darstellung Buchers in seiner epochemachenden Schrift: Der Parlamentarismus, wie er ist, so ans-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/615>, abgerufen am 06.06.2024.