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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Die englische Lokalverwciltung

Kritik, die Gneist an der neuen Verwaltung übe, bestehe in einigen Ver¬
fehlungen des Londoner Grafschaftsrath (den Redlich, wie eingangs bemerkt
worden ist, von seiner Darstellung ausgeschlossen hat) und in den Ausschreitungen
des Mauchestertums, das eben durch die Reform überwunden worden ist.
Charakteristisch für Gneist sei sein Urteil über das englische Steuersystem. Daß
die zuerst als Armensteuer eingeführte Haushaltstcuer beibehalten worden sei,
ist das einzige, was er an der neuen Ordnung zu loben findet; gerade diese
Besteuerungsart aber werde in England als ungerecht bekämpft. Und gerade
die kleine Verbesserung, die bisher eingeführt worden ist, die Bestimmung über
L!omxounäivF U^dös, tadle er. Diese Bestimmung ist zur Erleichterung der
Steuererhebung erlassen worden. In Hausern, die von mehreren Parteien
armer Leute bewohnt werden, wird die Steuer nur von dem Hausbesitzer er¬
hoben, der sie unter seine Mieter verteilt und im Mietzins einzieht. In dieser
Maßregel, die nur in Großstädten in bedeutendem Umfange angewandt wird,
sieht Gneist nichts geringeres als die Entfremdung der Masse der kleinen
Steuerzahler von der Gemeinde; jeder Rechtsgrund einer Teilnahme am Ge-
meindcleben gehe für die Hausstünde verloren, die der Gemeinde weder Dienste
noch Steuer mehr leisteten. In Wirklichkeit, schreibt Redlich, zahlten solche
Kleinbürger und Arbeiter in ihrem Mietzins eine sehr drückende Gemeinde-
stener, die keineswegs auf die Hausbesitzer abgewälzt werde. Und wenn Gneist
die Reform beschuldige, sie habe das auf persönlichen Leistungen beruhende
Wahlrecht zu einem Wahlrecht auf Grund fingierter Steuern verzerrt, so liege
darin eine ungewollte Selbstverspottung, da gerade die preußische Kommunal¬
gesetzgebung, auf die Gneist einen so großen Einfluß ausgeübt habe, sich deu
Gedanken eines solchen Wahlrechts zu eigen gemacht habe.

Am wirksamsten, meint der Verfasser, widerlege man Gneist durch deu
Hinweis auf den gegenwärtigen Zustand Englands. Bei schlechter Verwaltung
hätte es nicht so erstaunlich in Wohlstand und äußerer Macht fortschreite"
können, wie das in den letzten Jahrzehnten geschehn ist. Am wichtigsten sei
die vollzognc Hebung der Massen, auf deren Arbeit das Gebäude der eng¬
lischen Kultur und Macht beruhe. Er verweist dabei auf die den Lesern be¬
kannten Arbeiten von Gustav F. Steffen und von Nostitz. Möge auch von
manchen Seiten immer noch die Anschuldigung erhoben werden, daß die in¬
dustrielle Blüte Englands mit der Aufopferung von Myriaden Menschen er¬
kauft worden sei, so könne doch auch niemand bestreiten, daß von England
eine neue Auffassung von der Verpflichtung des Staats zu positiver Sozial¬
politik ausgegangen sei, und daß sich in England zuerst die moderne Emanzi¬
pationsbewegung der Arbeiterschaft, gleich bewundrungswürdig durch ihren
Umfang wie durch ihre ethische Kraft, auf der sichern Grundlage der ererbten
bürgerlichen Freiheit entfaltet habe. Ohne die Verwaltungsreform aber sei
die Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen gar nicht denkbar. Nur
die neu geschaffnen Organe seien imstande gewesen, die neuen Bedürfnisse der
heutige" Gesellschaft zu befriedigen und die dafür nötigen Kosten aufzubringen.


Die englische Lokalverwciltung

Kritik, die Gneist an der neuen Verwaltung übe, bestehe in einigen Ver¬
fehlungen des Londoner Grafschaftsrath (den Redlich, wie eingangs bemerkt
worden ist, von seiner Darstellung ausgeschlossen hat) und in den Ausschreitungen
des Mauchestertums, das eben durch die Reform überwunden worden ist.
Charakteristisch für Gneist sei sein Urteil über das englische Steuersystem. Daß
die zuerst als Armensteuer eingeführte Haushaltstcuer beibehalten worden sei,
ist das einzige, was er an der neuen Ordnung zu loben findet; gerade diese
Besteuerungsart aber werde in England als ungerecht bekämpft. Und gerade
die kleine Verbesserung, die bisher eingeführt worden ist, die Bestimmung über
L!omxounäivF U^dös, tadle er. Diese Bestimmung ist zur Erleichterung der
Steuererhebung erlassen worden. In Hausern, die von mehreren Parteien
armer Leute bewohnt werden, wird die Steuer nur von dem Hausbesitzer er¬
hoben, der sie unter seine Mieter verteilt und im Mietzins einzieht. In dieser
Maßregel, die nur in Großstädten in bedeutendem Umfange angewandt wird,
sieht Gneist nichts geringeres als die Entfremdung der Masse der kleinen
Steuerzahler von der Gemeinde; jeder Rechtsgrund einer Teilnahme am Ge-
meindcleben gehe für die Hausstünde verloren, die der Gemeinde weder Dienste
noch Steuer mehr leisteten. In Wirklichkeit, schreibt Redlich, zahlten solche
Kleinbürger und Arbeiter in ihrem Mietzins eine sehr drückende Gemeinde-
stener, die keineswegs auf die Hausbesitzer abgewälzt werde. Und wenn Gneist
die Reform beschuldige, sie habe das auf persönlichen Leistungen beruhende
Wahlrecht zu einem Wahlrecht auf Grund fingierter Steuern verzerrt, so liege
darin eine ungewollte Selbstverspottung, da gerade die preußische Kommunal¬
gesetzgebung, auf die Gneist einen so großen Einfluß ausgeübt habe, sich deu
Gedanken eines solchen Wahlrechts zu eigen gemacht habe.

Am wirksamsten, meint der Verfasser, widerlege man Gneist durch deu
Hinweis auf den gegenwärtigen Zustand Englands. Bei schlechter Verwaltung
hätte es nicht so erstaunlich in Wohlstand und äußerer Macht fortschreite»
können, wie das in den letzten Jahrzehnten geschehn ist. Am wichtigsten sei
die vollzognc Hebung der Massen, auf deren Arbeit das Gebäude der eng¬
lischen Kultur und Macht beruhe. Er verweist dabei auf die den Lesern be¬
kannten Arbeiten von Gustav F. Steffen und von Nostitz. Möge auch von
manchen Seiten immer noch die Anschuldigung erhoben werden, daß die in¬
dustrielle Blüte Englands mit der Aufopferung von Myriaden Menschen er¬
kauft worden sei, so könne doch auch niemand bestreiten, daß von England
eine neue Auffassung von der Verpflichtung des Staats zu positiver Sozial¬
politik ausgegangen sei, und daß sich in England zuerst die moderne Emanzi¬
pationsbewegung der Arbeiterschaft, gleich bewundrungswürdig durch ihren
Umfang wie durch ihre ethische Kraft, auf der sichern Grundlage der ererbten
bürgerlichen Freiheit entfaltet habe. Ohne die Verwaltungsreform aber sei
die Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen gar nicht denkbar. Nur
die neu geschaffnen Organe seien imstande gewesen, die neuen Bedürfnisse der
heutige» Gesellschaft zu befriedigen und die dafür nötigen Kosten aufzubringen.


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[0618] Die englische Lokalverwciltung Kritik, die Gneist an der neuen Verwaltung übe, bestehe in einigen Ver¬ fehlungen des Londoner Grafschaftsrath (den Redlich, wie eingangs bemerkt worden ist, von seiner Darstellung ausgeschlossen hat) und in den Ausschreitungen des Mauchestertums, das eben durch die Reform überwunden worden ist. Charakteristisch für Gneist sei sein Urteil über das englische Steuersystem. Daß die zuerst als Armensteuer eingeführte Haushaltstcuer beibehalten worden sei, ist das einzige, was er an der neuen Ordnung zu loben findet; gerade diese Besteuerungsart aber werde in England als ungerecht bekämpft. Und gerade die kleine Verbesserung, die bisher eingeführt worden ist, die Bestimmung über L!omxounäivF U^dös, tadle er. Diese Bestimmung ist zur Erleichterung der Steuererhebung erlassen worden. In Hausern, die von mehreren Parteien armer Leute bewohnt werden, wird die Steuer nur von dem Hausbesitzer er¬ hoben, der sie unter seine Mieter verteilt und im Mietzins einzieht. In dieser Maßregel, die nur in Großstädten in bedeutendem Umfange angewandt wird, sieht Gneist nichts geringeres als die Entfremdung der Masse der kleinen Steuerzahler von der Gemeinde; jeder Rechtsgrund einer Teilnahme am Ge- meindcleben gehe für die Hausstünde verloren, die der Gemeinde weder Dienste noch Steuer mehr leisteten. In Wirklichkeit, schreibt Redlich, zahlten solche Kleinbürger und Arbeiter in ihrem Mietzins eine sehr drückende Gemeinde- stener, die keineswegs auf die Hausbesitzer abgewälzt werde. Und wenn Gneist die Reform beschuldige, sie habe das auf persönlichen Leistungen beruhende Wahlrecht zu einem Wahlrecht auf Grund fingierter Steuern verzerrt, so liege darin eine ungewollte Selbstverspottung, da gerade die preußische Kommunal¬ gesetzgebung, auf die Gneist einen so großen Einfluß ausgeübt habe, sich deu Gedanken eines solchen Wahlrechts zu eigen gemacht habe. Am wirksamsten, meint der Verfasser, widerlege man Gneist durch deu Hinweis auf den gegenwärtigen Zustand Englands. Bei schlechter Verwaltung hätte es nicht so erstaunlich in Wohlstand und äußerer Macht fortschreite» können, wie das in den letzten Jahrzehnten geschehn ist. Am wichtigsten sei die vollzognc Hebung der Massen, auf deren Arbeit das Gebäude der eng¬ lischen Kultur und Macht beruhe. Er verweist dabei auf die den Lesern be¬ kannten Arbeiten von Gustav F. Steffen und von Nostitz. Möge auch von manchen Seiten immer noch die Anschuldigung erhoben werden, daß die in¬ dustrielle Blüte Englands mit der Aufopferung von Myriaden Menschen er¬ kauft worden sei, so könne doch auch niemand bestreiten, daß von England eine neue Auffassung von der Verpflichtung des Staats zu positiver Sozial¬ politik ausgegangen sei, und daß sich in England zuerst die moderne Emanzi¬ pationsbewegung der Arbeiterschaft, gleich bewundrungswürdig durch ihren Umfang wie durch ihre ethische Kraft, auf der sichern Grundlage der ererbten bürgerlichen Freiheit entfaltet habe. Ohne die Verwaltungsreform aber sei die Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen gar nicht denkbar. Nur die neu geschaffnen Organe seien imstande gewesen, die neuen Bedürfnisse der heutige» Gesellschaft zu befriedigen und die dafür nötigen Kosten aufzubringen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/618>, abgerufen am 27.05.2024.