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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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sind, zwar die thatsächlichen Irrtümer Greises zugeben, aber sein Staatsideal
verteidigen werden. Die in der letzten Anführung aufgestellte Abgrenzung der
Verwaltungszwecke des modernen Staats, wonach sich diese ans die Hebung
der Lohnarbeiter beschränken sollen, werden anch die Unparteiischen zu eng
finden. Nur zwei Bemerkungen wollen wir uns erlauben. Was die englische
Gesetzgebung und Lokalverwaltung oder vielmehr das englische Volk mit diesen
beiden Hebeln geleistet hat, das ist ohne Zweifel großartig, erstaunlich und
der höchsten Achtung würdig. Trotzdem Ware es möglich, daß der stolze Bau
des englischen Reichs im Laufe des zwanzigste" Jahrhunderts zusmmuenbräche,
weil seine Grundlage zu schmal und infolge der Vernichtung des Bauernstands
nicht solid genug ist, und weil die militärische Organisation des Volkes den
heutigen Anforderungen uicht gewachsen ist und bei der zur Herrschaft ge¬
langten Wirtschaftsform gar uicht gewachsen sein kann. Das andre ist folgendes:
Obwohl die Selbstregierung des englischen Volkes durch den Ausbau der Ver¬
waltung nach unten hin und durch die Demokratisierung der Parlaments¬
wahlen nach oben hin jetzt in der That verwirklicht ist, scheint doch gerade
jetzt die Krönung des Gebäudes gefährdet, mögen auch die untern Stockwerke
vorläufig fester stehn als je. Nicht von den durch die Reform hergestellten
Einrichtungen droht die Gefahr, sondern von der ungeheuern Größe des Baues
und von der Zahl seiner Bewohner oder, um genauer bei dem Bilde zu bleiben,
seiner lebendigen Bausteine. Der Schwierigkeiten, die aus der großen Zahl
entspringen, hat bis jetzt noch kein demokratisches Staatswesen Herr zu werden
vermocht. Was das englische Volk in ihrer Überwindung geleistet hat, ver¬
dient die höchste Anerkennung, aber auch seine Kraft ist gleich jeder irdischen
begrenzt. Eduard Bernstein hat jüngst in der Neuen Deutschen Rundschau
ausgeführt, das Parlament müsse sich infolge der ungeheuern Ausdehnung des
Reichs und der Fülle der zu erledigenden Arbeiten vielfach auf die Regierung
verlassen und ihr die Besorgung der ihm vorliegenden Sachen zuweisen; da¬
durch steigere sich aber auch der Einfluß des Monarchen. Und am 4, Mai
dieses Jahres erörterte die Satnrdah ReView den Verfall des Unterhauses
(Ins of-innA ok tus Loimncms), Die Pessimisten freilich, die über die Ent¬
artung des Unterhauses jammerten, hätten Unrecht; weder an Intelligenz noch
an guten Sitten blieben die heutigen Mitglieder hinter ihren Vorgängern
zurück. Gründliche Kenntnisse seien unter ihnen in viel größerm Maße ver¬
breitet als vor siebzig Jahren, wo "Reihen von würdevoll schweigenden"
Sir Robert Peels Gefolgschaft waren, und heute gehe es in dem Hause weit
anständiger zu als im Beginn der Reformperiode, wo die Mitglieder begierig
auf die sich oft darbietenden Gelegenheiten paßten, mit ihrer Virtuosität in
der Nachahmung von Tierstimmen zu glänzen. Aber trotz der durchschnitt¬
lichen Vortrefflichkeit seiner Mitglieder mindre sich die Bedeutung des Par¬
laments. Ehedem, als die leitenden Familien durch Scheinwahl die besten
Köpfe des Landes im Parlament zusammenbrachten, sei dieses so ziemlich der
einzige Ort gewesen, von dein aus mau bedeutende Gedanken vernommen habe.


sind, zwar die thatsächlichen Irrtümer Greises zugeben, aber sein Staatsideal
verteidigen werden. Die in der letzten Anführung aufgestellte Abgrenzung der
Verwaltungszwecke des modernen Staats, wonach sich diese ans die Hebung
der Lohnarbeiter beschränken sollen, werden anch die Unparteiischen zu eng
finden. Nur zwei Bemerkungen wollen wir uns erlauben. Was die englische
Gesetzgebung und Lokalverwaltung oder vielmehr das englische Volk mit diesen
beiden Hebeln geleistet hat, das ist ohne Zweifel großartig, erstaunlich und
der höchsten Achtung würdig. Trotzdem Ware es möglich, daß der stolze Bau
des englischen Reichs im Laufe des zwanzigste» Jahrhunderts zusmmuenbräche,
weil seine Grundlage zu schmal und infolge der Vernichtung des Bauernstands
nicht solid genug ist, und weil die militärische Organisation des Volkes den
heutigen Anforderungen uicht gewachsen ist und bei der zur Herrschaft ge¬
langten Wirtschaftsform gar uicht gewachsen sein kann. Das andre ist folgendes:
Obwohl die Selbstregierung des englischen Volkes durch den Ausbau der Ver¬
waltung nach unten hin und durch die Demokratisierung der Parlaments¬
wahlen nach oben hin jetzt in der That verwirklicht ist, scheint doch gerade
jetzt die Krönung des Gebäudes gefährdet, mögen auch die untern Stockwerke
vorläufig fester stehn als je. Nicht von den durch die Reform hergestellten
Einrichtungen droht die Gefahr, sondern von der ungeheuern Größe des Baues
und von der Zahl seiner Bewohner oder, um genauer bei dem Bilde zu bleiben,
seiner lebendigen Bausteine. Der Schwierigkeiten, die aus der großen Zahl
entspringen, hat bis jetzt noch kein demokratisches Staatswesen Herr zu werden
vermocht. Was das englische Volk in ihrer Überwindung geleistet hat, ver¬
dient die höchste Anerkennung, aber auch seine Kraft ist gleich jeder irdischen
begrenzt. Eduard Bernstein hat jüngst in der Neuen Deutschen Rundschau
ausgeführt, das Parlament müsse sich infolge der ungeheuern Ausdehnung des
Reichs und der Fülle der zu erledigenden Arbeiten vielfach auf die Regierung
verlassen und ihr die Besorgung der ihm vorliegenden Sachen zuweisen; da¬
durch steigere sich aber auch der Einfluß des Monarchen. Und am 4, Mai
dieses Jahres erörterte die Satnrdah ReView den Verfall des Unterhauses
(Ins of-innA ok tus Loimncms), Die Pessimisten freilich, die über die Ent¬
artung des Unterhauses jammerten, hätten Unrecht; weder an Intelligenz noch
an guten Sitten blieben die heutigen Mitglieder hinter ihren Vorgängern
zurück. Gründliche Kenntnisse seien unter ihnen in viel größerm Maße ver¬
breitet als vor siebzig Jahren, wo „Reihen von würdevoll schweigenden"
Sir Robert Peels Gefolgschaft waren, und heute gehe es in dem Hause weit
anständiger zu als im Beginn der Reformperiode, wo die Mitglieder begierig
auf die sich oft darbietenden Gelegenheiten paßten, mit ihrer Virtuosität in
der Nachahmung von Tierstimmen zu glänzen. Aber trotz der durchschnitt¬
lichen Vortrefflichkeit seiner Mitglieder mindre sich die Bedeutung des Par¬
laments. Ehedem, als die leitenden Familien durch Scheinwahl die besten
Köpfe des Landes im Parlament zusammenbrachten, sei dieses so ziemlich der
einzige Ort gewesen, von dein aus mau bedeutende Gedanken vernommen habe.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/623>, abgerufen am 13.05.2024.