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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Die englische Lokalverwaltung

getragen und überwacht von den Kräften eines stark pulsierenden öffentlichen
Lebens, einer empfindlichen und wirksamen öffentlichen Meinung." Während
diese ganz organisch verlaufne Entwicklung einerseits im besten Sinne des
Worts konservativ sei und die uralte Eigentümlichkeit des englischen Volks¬
lebens bewahrt habe, bedeute sie andrerseits ein Stück der Gesamtentwicklung
der modernen Demokratie, sowohl der Form als den Zielen nach. "Erst durch
die Teilnahme der breiten Masse der Bevölkerung an der Znsammensetzung
der Verwaltungsorgane ist Sicherheit dafür gewonnen, daß der eigentliche
Zweck der modernen Staatsverwaltung richtig erfaßt und dauernd festgehalten
werde: nämlich die Aufwendung öffentlicher Mittel und die Ausübung der
öffentlichen Gewalt zur Hebung der wirtschaftlichen, ethischen und kulturellen
Lebenshaltung der lohnarbeilenden Klassen der Nation. In diesem Sinne
dürfen wir rückblickend sagen: Die innere Verwaltung Englands hat sich auf
der festen staatsrechtlichen Grundlage, die ihr als Lvkalverwaltung für die ge¬
samte innere Thätigkeit des Staats gegeben erscheint, erst im neunzehnten Jahr¬
hundert unter dem beherrschenden Einfluß der Ideen der Demokratie zu dem
entwickelt, was sie ihren historischen Grundgedanken nach von Anbeginn sein
sollte, was sie aber gerade in den beiden Jahrhunderten, wo durch die Aus¬
bildung des parlamentarischen Regierungsshstems das politische Selbstbestim¬
mungsrecht der Nation der Krone gegenüber für alle Zeiten gewonnen und
gesichert wurde, am wenigsten gewesen ist: nämlich zu einer wahren Selbst¬
verwaltung der gesamten Aufgaben des innern Gemeinlebens der Nation durch
die eigne regelmäßige Arbeit der gesamten, in ihren lokalen Gemeindeverbänden
gegliederten Bürgerschaft, zu eiuer Verwaltung, deren einzelne Zwecke aus¬
nahmslos durch das von der souveränen Volksvertretung geschaffne Gesetz
genau vorgeschrieben oder freigestellt sind, die daher als Rechtsinstitut in jeder
ihrer Lebensüußerungen der Überprüfung durch den Hüter allen Rechts im
Lande unterliegt, der Jurisdiktion des ordentlichen Gerichts im ordentlichen
Verfahren."

Redlichs Darstellung ladet zu mancherlei Betrachtungen ein und reizt zum
Spiel mit Antithesen, von denen nur eine angedeutet werden soll: daß die
konservativste Nation, die sich frei von bureaukratischen Einmischungen ihrer
Natur gemäß entwickeln und ausleben durfte, als sie daran ging, sich eine
wirkliche Selbstverwaltung zu schaffen, die kleinsten Verwaltungseinheiten, die
ländlichen Gemeindebezirke, künstlich herstellen mußte, während wir Deutschen,
die wir jahrhundertelang zuerst vom Feudalismus, dann von auswärtigen
Eroberern und zuletzt von der Bureaukratie arg mitgenommen worden sind,
die natürlichen Gemeindebezirke noch in unsern Dörfern finden. Wir haben
es vorgezogen, die Betrachtungen den Lesern zu überlassen und ihnen nur
durch einen freilich dürftigen Auszug aus dem Buche den Stoff dafür zu
liefern. Die Kritik aber und namentlich die Antikritik der an Gneist geübten
Kritik überlassen wir den Staatsgelehrten. Wir vermuten, daß die meisten
von ihnen, soweit sie protestantische und nicht sozialistisch gesinnte Deutsche



Die englische Lokalverwaltung

getragen und überwacht von den Kräften eines stark pulsierenden öffentlichen
Lebens, einer empfindlichen und wirksamen öffentlichen Meinung." Während
diese ganz organisch verlaufne Entwicklung einerseits im besten Sinne des
Worts konservativ sei und die uralte Eigentümlichkeit des englischen Volks¬
lebens bewahrt habe, bedeute sie andrerseits ein Stück der Gesamtentwicklung
der modernen Demokratie, sowohl der Form als den Zielen nach. „Erst durch
die Teilnahme der breiten Masse der Bevölkerung an der Znsammensetzung
der Verwaltungsorgane ist Sicherheit dafür gewonnen, daß der eigentliche
Zweck der modernen Staatsverwaltung richtig erfaßt und dauernd festgehalten
werde: nämlich die Aufwendung öffentlicher Mittel und die Ausübung der
öffentlichen Gewalt zur Hebung der wirtschaftlichen, ethischen und kulturellen
Lebenshaltung der lohnarbeilenden Klassen der Nation. In diesem Sinne
dürfen wir rückblickend sagen: Die innere Verwaltung Englands hat sich auf
der festen staatsrechtlichen Grundlage, die ihr als Lvkalverwaltung für die ge¬
samte innere Thätigkeit des Staats gegeben erscheint, erst im neunzehnten Jahr¬
hundert unter dem beherrschenden Einfluß der Ideen der Demokratie zu dem
entwickelt, was sie ihren historischen Grundgedanken nach von Anbeginn sein
sollte, was sie aber gerade in den beiden Jahrhunderten, wo durch die Aus¬
bildung des parlamentarischen Regierungsshstems das politische Selbstbestim¬
mungsrecht der Nation der Krone gegenüber für alle Zeiten gewonnen und
gesichert wurde, am wenigsten gewesen ist: nämlich zu einer wahren Selbst¬
verwaltung der gesamten Aufgaben des innern Gemeinlebens der Nation durch
die eigne regelmäßige Arbeit der gesamten, in ihren lokalen Gemeindeverbänden
gegliederten Bürgerschaft, zu eiuer Verwaltung, deren einzelne Zwecke aus¬
nahmslos durch das von der souveränen Volksvertretung geschaffne Gesetz
genau vorgeschrieben oder freigestellt sind, die daher als Rechtsinstitut in jeder
ihrer Lebensüußerungen der Überprüfung durch den Hüter allen Rechts im
Lande unterliegt, der Jurisdiktion des ordentlichen Gerichts im ordentlichen
Verfahren."

Redlichs Darstellung ladet zu mancherlei Betrachtungen ein und reizt zum
Spiel mit Antithesen, von denen nur eine angedeutet werden soll: daß die
konservativste Nation, die sich frei von bureaukratischen Einmischungen ihrer
Natur gemäß entwickeln und ausleben durfte, als sie daran ging, sich eine
wirkliche Selbstverwaltung zu schaffen, die kleinsten Verwaltungseinheiten, die
ländlichen Gemeindebezirke, künstlich herstellen mußte, während wir Deutschen,
die wir jahrhundertelang zuerst vom Feudalismus, dann von auswärtigen
Eroberern und zuletzt von der Bureaukratie arg mitgenommen worden sind,
die natürlichen Gemeindebezirke noch in unsern Dörfern finden. Wir haben
es vorgezogen, die Betrachtungen den Lesern zu überlassen und ihnen nur
durch einen freilich dürftigen Auszug aus dem Buche den Stoff dafür zu
liefern. Die Kritik aber und namentlich die Antikritik der an Gneist geübten
Kritik überlassen wir den Staatsgelehrten. Wir vermuten, daß die meisten
von ihnen, soweit sie protestantische und nicht sozialistisch gesinnte Deutsche



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/622>, abgerufen am 07.06.2024.