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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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der schroffe Übergang ins Leben vermieden und ein entsprechendes Arbeits¬
quantum der Kranken in die Anstaltsdisziplin eingegliedert und damit nicht nur
ein bequemer Fettansatz, sondern noch weit mehr als heute eine allgemeine
Kräftigung der Konstitution erreicht würde. Mit solchen Dingen kann man
freilich vor der großen Öffentlichkeit nichts anfangen.

Die Eile, aus der Wissenschaft rasch praktische allgemeine Heil- und
Schutzmittel abzuleiten, hat dann zu abenteuerlichen Plänen geführt. Da
wurde von einem bedeutenden Kliniker eine Schntzmaske, "ein Maulkorb,"
wie die Kranken ganz richtig sagen, erfunden, den jeder Leidende, solange er
Tuberkeln im Auswurf habe, tragen solle, damit er nicht bei Reden und
Husten in den ausgestoßenen feinen Tröpfchen Tuberkelbazillen verbreite.
Man denke an das, was ich vorhin über die allgemeine Tuberkelfurcht an¬
führte, und man wird versteh", daß diese Brandmarkung der Schwindsüchtigen
nur dem in den Sinn kommen konnte, der dem Leben selbst recht fern steht.
Da wird von andrer Seite die Gefahr in den grellsten Farben gemalt, die
den Kindern vom Zusammensein mit schwindsüchtiger Eltern droht. Darum
sollen diesen, wenn sie in ärmlichen Verhältnissen leben, ihre Kinder weg¬
genommen und anders untergebracht werden. Welche Sorge und Angst,
welche Verbitterung würde auch der sorgsamste Versuch der Art hervorrufen !
Von den Mitteln für dieses utopistische Ansinnen zu schweigen. Dabei sind
die Probleme der Vererbung wie der Ansteckung noch längst nicht so geklärt,
daß das noch ungereinigte Metall der wissenschaftlichen Forschung so fix zur
Scheidemünze der Praxis ausgeprägt werden müßte.

Vor allem aber kann diese hastige Verwertung unfertiger Theorien nicht
ohne Rückwirkung auf die wissenschaftliche Arbeit bleiben. Es liegt nur fern,
als Laie über medizinische Forschung zu urteilen. Dazu ist meine Achtung
gerade vor unsrer medizinischen Wissenschaft viel zu hoch. Aber vor mir liegt
ein Werk, das sich ganz im Sinne jener wissenschaftlichen Praxis und prak¬
tischen Wissenschaft giebt und dazu Statistik treibt, ein Fach, das mir nicht
ganz fern liegt. Der Generalsekretär des Deutschen Zentralkomitees für
Lungenheilstätten, Dr. Pannwitz, hat mit einem Kollegen zusammen ein Werk
herausgegeben: Entstehung und Bekämpfung der Lungentuberkulose, 1. Band,
das wohl im Hinblick auf den Londoner Kongreß und die Rindertuberkulose
möglichst rasch vollendet worden ist. Die Herren haben um 3295 Insassen
deutscher Lungenheilstätten einen Fragebogen versandt, und die Ergebnisse
dieser Erhebung sind dem Bande zu Grunde gelegt und verwertet worden.
Prüfe" wir diese Statistik etwas näher, da überhaupt die Schwindsuchts-
betampfnng sehr gern mit Zahlen operiert.

Eine Regel statistischer Praxis verlangt, daß man die Ergebnisse einer
Statistik möglichst eingehend und ausführlich veröffentlichen soll. Denn dann
ist der Leser nicht bloß ans die Schlüsse des Herausgebers augewiesen, sondern
kann selbst nachprüfen und vor allen: selbst neue Zusammenstellungen mit dem
Material machen und dadurch Dinge entdecke", an die jener gar nicht gedacht


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der schroffe Übergang ins Leben vermieden und ein entsprechendes Arbeits¬
quantum der Kranken in die Anstaltsdisziplin eingegliedert und damit nicht nur
ein bequemer Fettansatz, sondern noch weit mehr als heute eine allgemeine
Kräftigung der Konstitution erreicht würde. Mit solchen Dingen kann man
freilich vor der großen Öffentlichkeit nichts anfangen.

Die Eile, aus der Wissenschaft rasch praktische allgemeine Heil- und
Schutzmittel abzuleiten, hat dann zu abenteuerlichen Plänen geführt. Da
wurde von einem bedeutenden Kliniker eine Schntzmaske, „ein Maulkorb,"
wie die Kranken ganz richtig sagen, erfunden, den jeder Leidende, solange er
Tuberkeln im Auswurf habe, tragen solle, damit er nicht bei Reden und
Husten in den ausgestoßenen feinen Tröpfchen Tuberkelbazillen verbreite.
Man denke an das, was ich vorhin über die allgemeine Tuberkelfurcht an¬
führte, und man wird versteh», daß diese Brandmarkung der Schwindsüchtigen
nur dem in den Sinn kommen konnte, der dem Leben selbst recht fern steht.
Da wird von andrer Seite die Gefahr in den grellsten Farben gemalt, die
den Kindern vom Zusammensein mit schwindsüchtiger Eltern droht. Darum
sollen diesen, wenn sie in ärmlichen Verhältnissen leben, ihre Kinder weg¬
genommen und anders untergebracht werden. Welche Sorge und Angst,
welche Verbitterung würde auch der sorgsamste Versuch der Art hervorrufen !
Von den Mitteln für dieses utopistische Ansinnen zu schweigen. Dabei sind
die Probleme der Vererbung wie der Ansteckung noch längst nicht so geklärt,
daß das noch ungereinigte Metall der wissenschaftlichen Forschung so fix zur
Scheidemünze der Praxis ausgeprägt werden müßte.

Vor allem aber kann diese hastige Verwertung unfertiger Theorien nicht
ohne Rückwirkung auf die wissenschaftliche Arbeit bleiben. Es liegt nur fern,
als Laie über medizinische Forschung zu urteilen. Dazu ist meine Achtung
gerade vor unsrer medizinischen Wissenschaft viel zu hoch. Aber vor mir liegt
ein Werk, das sich ganz im Sinne jener wissenschaftlichen Praxis und prak¬
tischen Wissenschaft giebt und dazu Statistik treibt, ein Fach, das mir nicht
ganz fern liegt. Der Generalsekretär des Deutschen Zentralkomitees für
Lungenheilstätten, Dr. Pannwitz, hat mit einem Kollegen zusammen ein Werk
herausgegeben: Entstehung und Bekämpfung der Lungentuberkulose, 1. Band,
das wohl im Hinblick auf den Londoner Kongreß und die Rindertuberkulose
möglichst rasch vollendet worden ist. Die Herren haben um 3295 Insassen
deutscher Lungenheilstätten einen Fragebogen versandt, und die Ergebnisse
dieser Erhebung sind dem Bande zu Grunde gelegt und verwertet worden.
Prüfe» wir diese Statistik etwas näher, da überhaupt die Schwindsuchts-
betampfnng sehr gern mit Zahlen operiert.

Eine Regel statistischer Praxis verlangt, daß man die Ergebnisse einer
Statistik möglichst eingehend und ausführlich veröffentlichen soll. Denn dann
ist der Leser nicht bloß ans die Schlüsse des Herausgebers augewiesen, sondern
kann selbst nachprüfen und vor allen: selbst neue Zusammenstellungen mit dem
Material machen und dadurch Dinge entdecke», an die jener gar nicht gedacht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/626>, abgerufen am 23.05.2024.