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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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fast hundertjährigen Geltung gab es keine Lehrbücher des preußischen Zivil¬
prozeßrechts und nur eiuen einzigen Kommentar zur Gerichtsordnung, und
man kaun Dutzende der etwa hundert Bände von Entscheidungen des preußischen
Obertribnnals durchsehen, ohne auch nur eine Entscheidung zu finden, die sich
mit Fragen des Zivilprozesses beschäftigt. Die preußische Gerichtsordnung
war eben so abgefaßt, daß die Gerichte wußten, wie sie Verfahren mußten. Das
ist durch die Neichszivilprozeßordnung bekanntlich anders geworden; die Rechts¬
wissenschaft und die Rechtsübung werden der Förderung des materiellen Rechts
jetzt in hohem Maße entzogen dadurch, daß so unendlich viele Streitfragen
des Prozeßrechts vorhanden sind, die wissenschaftlich untersucht und entschieden
werden müssen. Unzählige Entscheidungen des Reichsgerichts, darunter eine
Anzahl Entscheidungen der vereinigten Senate, beschäftigen sich mit der Frage,
ob die Jnstanzgerichte so oder anders hätten Verfahren müssen, und alle diese
Entscheidungen ergehn -- ans Kosten derer, die den Kampf ums Recht wagen.
Und während nach dem frühern preußischen Prozeßrecht der doch eigentlich
selbstverständliche Grundsatz gilt, daß jede im Prozeß vorkommende Erklärung
dem Gericht gegenüber abgegeben wird, das sie auf geeignete Weise dem Gegner
bekannt machen muß, bestimmt das jetzt geltende Prozeßrecht, daß die wichtigsten
im Prozeß vorkommenden Erklärungen dem Gegner gegenüber gemacht werden
müssen, und zwar nicht in beliebiger Form, sondern durch "Zustelluug," sodaß
ein Versehen des zustellenden Gerichtsvollziehers oder Postboten auch für das
klarste materielle Recht dem den Kampf ums Recht wägenden verhängnisvoll
sein kann. Und dabei sind noch so unendlich viele für die Durchführung
des materiellen Rechts notwendige Maßregeln lediglich in das "Ermessen" des
Gerichts gestellt. Zahlreiche Vorschriften der Zivilprozeßordnung beginnen mit
den verheißungsvolle" Worten "Das Gericht kann" -- nämlich wenn es will,
und es kann nicht, wenn es nicht will, so als ob man das ganze Strafgesetz¬
buch mit seinen 370 Paragraphen aufheben und dafür einfach bestimmen wollte:
"Strafbar ist alles, was dem Königlichen Herrn Staatsanwalt mißfällt," Da
ist es schon begreiflich, daß, während früher auch Gebiete des öffentlichen Rechts
der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte unterworfen wurden, jetzt entgegen¬
gesetzt die Neigung besteht, sogar große Gebiete des reinen Privatrechts den
ordentlichen Gerichten zu entziehn und sie nunmehr Verwaltungsbehörden, Ver¬
waltungsgerichten und Soudergerichteu zuzuweisen.

"Und wenn ich auch bei Ihnen Recht bekomme, Herr Amtsrichter, beim
Gerichtsvollzieher bekomme ich es doch nicht," sagte ein Kläger, der soeben ein
Urteil erstritten hatte, zum Richter; und anch in dieser Äußerung liegt viel
Wahrheit, die jeder berücksichtigen muß, der den von Jhering angeratnen Kampf
ums Recht wagt. Denn nicht bloß, ob der Schuldner etwas besitzt, sonder"
was noch wichtiger ist: ob der Gerichtsvollzieher etwas "finden" wird, ob
dieser seine Pflicht thun wird, ob dem Sieger im Prozeß nicht vielleicht gerade
noch aus der Zwnngsvvllstrccknng große Unkosten und -- neue Prozesse ent¬
steh", das muß eingehend erwogen werden.


fast hundertjährigen Geltung gab es keine Lehrbücher des preußischen Zivil¬
prozeßrechts und nur eiuen einzigen Kommentar zur Gerichtsordnung, und
man kaun Dutzende der etwa hundert Bände von Entscheidungen des preußischen
Obertribnnals durchsehen, ohne auch nur eine Entscheidung zu finden, die sich
mit Fragen des Zivilprozesses beschäftigt. Die preußische Gerichtsordnung
war eben so abgefaßt, daß die Gerichte wußten, wie sie Verfahren mußten. Das
ist durch die Neichszivilprozeßordnung bekanntlich anders geworden; die Rechts¬
wissenschaft und die Rechtsübung werden der Förderung des materiellen Rechts
jetzt in hohem Maße entzogen dadurch, daß so unendlich viele Streitfragen
des Prozeßrechts vorhanden sind, die wissenschaftlich untersucht und entschieden
werden müssen. Unzählige Entscheidungen des Reichsgerichts, darunter eine
Anzahl Entscheidungen der vereinigten Senate, beschäftigen sich mit der Frage,
ob die Jnstanzgerichte so oder anders hätten Verfahren müssen, und alle diese
Entscheidungen ergehn — ans Kosten derer, die den Kampf ums Recht wagen.
Und während nach dem frühern preußischen Prozeßrecht der doch eigentlich
selbstverständliche Grundsatz gilt, daß jede im Prozeß vorkommende Erklärung
dem Gericht gegenüber abgegeben wird, das sie auf geeignete Weise dem Gegner
bekannt machen muß, bestimmt das jetzt geltende Prozeßrecht, daß die wichtigsten
im Prozeß vorkommenden Erklärungen dem Gegner gegenüber gemacht werden
müssen, und zwar nicht in beliebiger Form, sondern durch „Zustelluug," sodaß
ein Versehen des zustellenden Gerichtsvollziehers oder Postboten auch für das
klarste materielle Recht dem den Kampf ums Recht wägenden verhängnisvoll
sein kann. Und dabei sind noch so unendlich viele für die Durchführung
des materiellen Rechts notwendige Maßregeln lediglich in das „Ermessen" des
Gerichts gestellt. Zahlreiche Vorschriften der Zivilprozeßordnung beginnen mit
den verheißungsvolle» Worten „Das Gericht kann" — nämlich wenn es will,
und es kann nicht, wenn es nicht will, so als ob man das ganze Strafgesetz¬
buch mit seinen 370 Paragraphen aufheben und dafür einfach bestimmen wollte:
„Strafbar ist alles, was dem Königlichen Herrn Staatsanwalt mißfällt," Da
ist es schon begreiflich, daß, während früher auch Gebiete des öffentlichen Rechts
der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte unterworfen wurden, jetzt entgegen¬
gesetzt die Neigung besteht, sogar große Gebiete des reinen Privatrechts den
ordentlichen Gerichten zu entziehn und sie nunmehr Verwaltungsbehörden, Ver¬
waltungsgerichten und Soudergerichteu zuzuweisen.

„Und wenn ich auch bei Ihnen Recht bekomme, Herr Amtsrichter, beim
Gerichtsvollzieher bekomme ich es doch nicht," sagte ein Kläger, der soeben ein
Urteil erstritten hatte, zum Richter; und anch in dieser Äußerung liegt viel
Wahrheit, die jeder berücksichtigen muß, der den von Jhering angeratnen Kampf
ums Recht wagt. Denn nicht bloß, ob der Schuldner etwas besitzt, sonder»
was noch wichtiger ist: ob der Gerichtsvollzieher etwas „finden" wird, ob
dieser seine Pflicht thun wird, ob dem Sieger im Prozeß nicht vielleicht gerade
noch aus der Zwnngsvvllstrccknng große Unkosten und — neue Prozesse ent¬
steh», das muß eingehend erwogen werden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/80>, abgerufen am 12.05.2024.