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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Die Uynastsagen

bürg zerbarst dann 1675 die stolze Burg infolge eines Blitzschlags, der den
hohen Schloßturm traf und ihn und die andern Gebäude einäscherte.

Sage hängt mit sagen, erzählen zusammen, und schon in diesem etymolo¬
gischen Verhältnisse spricht sich die Verwandtschaft aus, die zwischen der Ge¬
schichte und ihrer Halbschwester besteht. Das skandinavische Saga bezeichnet
direkt Erzählungen geschichtlichen Inhalts. Die historische Sage ist also der
Geschichte nahe verwandt, weil sie sich an wirkliche Ereignisse anlehnt, be¬
stimmte Persönlichkeiten zu Trägern der Handlung wählt und die Zustände ent-
schwundner Jahrhunderte vor uns entrollt; und doch berührt sie sich auch ebenso
stark mit der Poesie, denn die ewig thätige Phantasie des Volks hat sich der
Stoffe bemächtigt und sie vielfach so stark umgestaltet, daß solchen Erzählungen
nicht mehr der Wert eines zuverlässigen Zeugnisses zugesprochen werde" kann.
Für die folgende Untersuchung erscheint es zweckmäßig, die Kynastsagen nicht
nach den Jahrhunderten, denen sie angehören, sondern danach zu ordnen, wann
sie sich in der Litteratur nachweisen lassen. So ergeben sich gewisse Richt¬
linien für eine kritische Beurteilung dieser Überlieferungen. Vielleicht ist es
nicht immer möglich gewesen, das Jahr ihres Auftauchens ganz genau zu er¬
gründen, denn vielfach finden sie sich zuerst zerstreut in belletristischen Blättern.
Obgleich aus mancherlei Gründen Vorsicht geboten gewesen wäre, haben sie
doch bald Aufnahme in die Werke der Geschichts- und Reiselitteratur gefunden,
und es läßt sich dadurch mit annähernder Genauigkeit feststellen, wann ihre
Ausprägung erfolgt ist.

Die der Zeit nach jüngste Sage ist die von dein Wolf und dem Lamm
oder von der Nativität. Als der Freiherr Hans Ulrich Schaffgotsch im
Jahre 1633 auf seinem Stammschlosse weilte, ließ er sich von dem Giersdorfer
Pastor Thieine das Horoskop stellen und erhielt die Auskunft, er werde durch
kaltes Eisen enden. Da befahl er, ein Lämmchen zu holen, und bat Thieme,
auch dem Tier das Ende vorauszusagen. Das geschah, und die Berechnung
der Nativität ergab als Resultat, daß ein Wolf das Lamm fressen werde. Nun
gebot der Burgherr, es sofort zu schlachten und den Tischgästen vorzulegen,
in der sichern Erwartung, Thiemes Prophezeiung Lügen strafen zu können.
Und doch ging sie in Erfüllung; denn als der Braten eben aufgetragen werden
sollte, erschien der Koch mit der Meldung, der zahme Wolf, den man schon
jahrelang in der Burg hielt, und der sich der Untugend des Naschens bisher
nie schuldig gemacht hatte, habe ihn von" Herde geholt und gefressen. Da
legte der Gastgeber bestürzt das Messer weg und sagte: "Der Wille des Herrn
geschehe; ich bin mir bewußt, meinem Kaiser jederzeit treu gedient und das
Beste des Landes redlich gesucht zu haben. Herr, du wirst meine Unschuld
gewißlich an den Tag bringen." Thiemes Vorhersage erfüllte sich aber buch¬
stäblich; Haus Ulrich endete als Anhänger Wallensteins ans dem Schafott.

Das ist die echte Sage; nicht bloß weil sie in dem oft gedruckten "Ourri-
eulum vitiis Herrn Johann Ulrich Schaffgotschens" schon in der ersten Hälfte
des achtzehnten Jahrhunderts erscheint, sondern weil sie auch die innern Kriterien


Die Uynastsagen

bürg zerbarst dann 1675 die stolze Burg infolge eines Blitzschlags, der den
hohen Schloßturm traf und ihn und die andern Gebäude einäscherte.

Sage hängt mit sagen, erzählen zusammen, und schon in diesem etymolo¬
gischen Verhältnisse spricht sich die Verwandtschaft aus, die zwischen der Ge¬
schichte und ihrer Halbschwester besteht. Das skandinavische Saga bezeichnet
direkt Erzählungen geschichtlichen Inhalts. Die historische Sage ist also der
Geschichte nahe verwandt, weil sie sich an wirkliche Ereignisse anlehnt, be¬
stimmte Persönlichkeiten zu Trägern der Handlung wählt und die Zustände ent-
schwundner Jahrhunderte vor uns entrollt; und doch berührt sie sich auch ebenso
stark mit der Poesie, denn die ewig thätige Phantasie des Volks hat sich der
Stoffe bemächtigt und sie vielfach so stark umgestaltet, daß solchen Erzählungen
nicht mehr der Wert eines zuverlässigen Zeugnisses zugesprochen werde» kann.
Für die folgende Untersuchung erscheint es zweckmäßig, die Kynastsagen nicht
nach den Jahrhunderten, denen sie angehören, sondern danach zu ordnen, wann
sie sich in der Litteratur nachweisen lassen. So ergeben sich gewisse Richt¬
linien für eine kritische Beurteilung dieser Überlieferungen. Vielleicht ist es
nicht immer möglich gewesen, das Jahr ihres Auftauchens ganz genau zu er¬
gründen, denn vielfach finden sie sich zuerst zerstreut in belletristischen Blättern.
Obgleich aus mancherlei Gründen Vorsicht geboten gewesen wäre, haben sie
doch bald Aufnahme in die Werke der Geschichts- und Reiselitteratur gefunden,
und es läßt sich dadurch mit annähernder Genauigkeit feststellen, wann ihre
Ausprägung erfolgt ist.

Die der Zeit nach jüngste Sage ist die von dein Wolf und dem Lamm
oder von der Nativität. Als der Freiherr Hans Ulrich Schaffgotsch im
Jahre 1633 auf seinem Stammschlosse weilte, ließ er sich von dem Giersdorfer
Pastor Thieine das Horoskop stellen und erhielt die Auskunft, er werde durch
kaltes Eisen enden. Da befahl er, ein Lämmchen zu holen, und bat Thieme,
auch dem Tier das Ende vorauszusagen. Das geschah, und die Berechnung
der Nativität ergab als Resultat, daß ein Wolf das Lamm fressen werde. Nun
gebot der Burgherr, es sofort zu schlachten und den Tischgästen vorzulegen,
in der sichern Erwartung, Thiemes Prophezeiung Lügen strafen zu können.
Und doch ging sie in Erfüllung; denn als der Braten eben aufgetragen werden
sollte, erschien der Koch mit der Meldung, der zahme Wolf, den man schon
jahrelang in der Burg hielt, und der sich der Untugend des Naschens bisher
nie schuldig gemacht hatte, habe ihn von« Herde geholt und gefressen. Da
legte der Gastgeber bestürzt das Messer weg und sagte: „Der Wille des Herrn
geschehe; ich bin mir bewußt, meinem Kaiser jederzeit treu gedient und das
Beste des Landes redlich gesucht zu haben. Herr, du wirst meine Unschuld
gewißlich an den Tag bringen." Thiemes Vorhersage erfüllte sich aber buch¬
stäblich; Haus Ulrich endete als Anhänger Wallensteins ans dem Schafott.

Das ist die echte Sage; nicht bloß weil sie in dem oft gedruckten „Ourri-
eulum vitiis Herrn Johann Ulrich Schaffgotschens" schon in der ersten Hälfte
des achtzehnten Jahrhunderts erscheint, sondern weil sie auch die innern Kriterien


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[0082] Die Uynastsagen bürg zerbarst dann 1675 die stolze Burg infolge eines Blitzschlags, der den hohen Schloßturm traf und ihn und die andern Gebäude einäscherte. Sage hängt mit sagen, erzählen zusammen, und schon in diesem etymolo¬ gischen Verhältnisse spricht sich die Verwandtschaft aus, die zwischen der Ge¬ schichte und ihrer Halbschwester besteht. Das skandinavische Saga bezeichnet direkt Erzählungen geschichtlichen Inhalts. Die historische Sage ist also der Geschichte nahe verwandt, weil sie sich an wirkliche Ereignisse anlehnt, be¬ stimmte Persönlichkeiten zu Trägern der Handlung wählt und die Zustände ent- schwundner Jahrhunderte vor uns entrollt; und doch berührt sie sich auch ebenso stark mit der Poesie, denn die ewig thätige Phantasie des Volks hat sich der Stoffe bemächtigt und sie vielfach so stark umgestaltet, daß solchen Erzählungen nicht mehr der Wert eines zuverlässigen Zeugnisses zugesprochen werde» kann. Für die folgende Untersuchung erscheint es zweckmäßig, die Kynastsagen nicht nach den Jahrhunderten, denen sie angehören, sondern danach zu ordnen, wann sie sich in der Litteratur nachweisen lassen. So ergeben sich gewisse Richt¬ linien für eine kritische Beurteilung dieser Überlieferungen. Vielleicht ist es nicht immer möglich gewesen, das Jahr ihres Auftauchens ganz genau zu er¬ gründen, denn vielfach finden sie sich zuerst zerstreut in belletristischen Blättern. Obgleich aus mancherlei Gründen Vorsicht geboten gewesen wäre, haben sie doch bald Aufnahme in die Werke der Geschichts- und Reiselitteratur gefunden, und es läßt sich dadurch mit annähernder Genauigkeit feststellen, wann ihre Ausprägung erfolgt ist. Die der Zeit nach jüngste Sage ist die von dein Wolf und dem Lamm oder von der Nativität. Als der Freiherr Hans Ulrich Schaffgotsch im Jahre 1633 auf seinem Stammschlosse weilte, ließ er sich von dem Giersdorfer Pastor Thieine das Horoskop stellen und erhielt die Auskunft, er werde durch kaltes Eisen enden. Da befahl er, ein Lämmchen zu holen, und bat Thieme, auch dem Tier das Ende vorauszusagen. Das geschah, und die Berechnung der Nativität ergab als Resultat, daß ein Wolf das Lamm fressen werde. Nun gebot der Burgherr, es sofort zu schlachten und den Tischgästen vorzulegen, in der sichern Erwartung, Thiemes Prophezeiung Lügen strafen zu können. Und doch ging sie in Erfüllung; denn als der Braten eben aufgetragen werden sollte, erschien der Koch mit der Meldung, der zahme Wolf, den man schon jahrelang in der Burg hielt, und der sich der Untugend des Naschens bisher nie schuldig gemacht hatte, habe ihn von« Herde geholt und gefressen. Da legte der Gastgeber bestürzt das Messer weg und sagte: „Der Wille des Herrn geschehe; ich bin mir bewußt, meinem Kaiser jederzeit treu gedient und das Beste des Landes redlich gesucht zu haben. Herr, du wirst meine Unschuld gewißlich an den Tag bringen." Thiemes Vorhersage erfüllte sich aber buch¬ stäblich; Haus Ulrich endete als Anhänger Wallensteins ans dem Schafott. Das ist die echte Sage; nicht bloß weil sie in dem oft gedruckten „Ourri- eulum vitiis Herrn Johann Ulrich Schaffgotschens" schon in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts erscheint, sondern weil sie auch die innern Kriterien

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/82>, abgerufen am 12.05.2024.