Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Mont Se. Michel und der Michaelskultus

dankt er erst der durchgreifenden Renovierung durch die französische Regierung
seine heutige imposante Erscheinung.

Die Entwicklung des Bars und der Ballteile bei der Kirche wie bei der
Abtei erinnert an den Vorgang der .Krystallisation: alle Teile fügen sich in
organischem Zusammenhang aneinander. Es kann nicht ein Teil weggenommen
werden, ohne daß das Ganze zerstört würde. Der Aufbau wahrt strengstens
das statische Prinzip. Die untern Räume und Baulichkeiten sind schwer und
wuchtig gehalten. Dicke massige Wände erscheinen wie eine natürliche Wetter¬
führung der felsigen Grundlage. Niedrige, gedrungne Säulen, die fast jedes
Schmucks entbehren, stützen die gewaltigen Wölbungen. Der einzige Zweck
dieser Glieder ist möglichste Tragfähigkeit. Auch in den darüberliegenden
Räumen überwiegen noch die konstruktiven über die dekorativen Rücksichten.
Die Mauern werden etwas dünner und dnrch mehr Fenster durchbrochen, aber
es fehlt noch die schmückende Umrahmung. Die Säulen werden dünner und
hoher, dementsprechend zahlreicher. Nur die Kapitale rankt sich schönes natu¬
ralistisches Laubwerk. Die Wölbungen werden eleganter. In den obersten
Teilen, wo die Rücksicht auf die Konstruktion zurücktritt, entfaltet sich das
Bestreben, die Maucrflächen aufzulösen und zu zerteilen, die Dekoration wird
leicht und zierlich.

Beiden Bauten ist ferner gemeinsam das Material. Die französischen
Architekten zogen immer die Materialien in Betracht, mit denen sie zu ar¬
beiten hatten, und gaben jedem Ban die Form, die am besten dem verwandten
Stosse entspricht. Hier nun ist alles Granit. Durch seine Festigkeit ermög¬
lichte er die Leichtigkeit der Anlage, zu der die malerische Erscheinung der ge¬
samten Lokalitnt drängte, dnrch seine Härte nötigte er zu einer strengern Be¬
handlung und zu einer einfachern Formengebung im einzelnen. So kam hier
der Stoff der herben, manchmal fast nüchternen Zurückhaltung entgegen, die
schon die romanische Architektur der Normandie, besonders in den Bauten
Wilhelms des Erobrers in Caen auszeichnete. Bon der Überfülle und bis¬
weilen allzureichen bildnerischem Ausschmückung - der französischen Architektur
hält sich die normännische frei. Die Details ersticken nicht die Klarheit der
^esamtaiwrdnung. Die stete Betonung der horizontalen Gliederung, die an
^n meisten französischen Bauten hervortritt, muß hier zurücktreten; die Enge
^'s Platzes nötigte die Richtung nach oben ans. Konsequent dringt jedes
Bmiglied, daS an der Basis des Gebäudes wurzelt, durch alle Hindernisse bis
6""> Gipfel des Gebäudes empor.

Im einzelnen besteht die Kirche ans der Krypta und der eigentlichen
K'rede. Die Krypta "der dicken Pfeiler" ist nicht, was man gewöhnlich nnter
Krypta versteht, sondern nnr die gewaltige, ans den Felsen gegründete Snb-
swlltivn des Chors der Kirche. Ihre heutige Gestalt geht auf die Wieder¬
herstellung im sechzehnten Jahrhundert zurück. Wie festgefügte Pylonen sind
"'^ neunzehn runden Pfeiler von je 5 Metern Umfang ans achteckiger Basis
"Ufgebnut lind leiten ohne Kapitüle wie riesige Palmen in die außerordentlich


Mont Se. Michel und der Michaelskultus

dankt er erst der durchgreifenden Renovierung durch die französische Regierung
seine heutige imposante Erscheinung.

Die Entwicklung des Bars und der Ballteile bei der Kirche wie bei der
Abtei erinnert an den Vorgang der .Krystallisation: alle Teile fügen sich in
organischem Zusammenhang aneinander. Es kann nicht ein Teil weggenommen
werden, ohne daß das Ganze zerstört würde. Der Aufbau wahrt strengstens
das statische Prinzip. Die untern Räume und Baulichkeiten sind schwer und
wuchtig gehalten. Dicke massige Wände erscheinen wie eine natürliche Wetter¬
führung der felsigen Grundlage. Niedrige, gedrungne Säulen, die fast jedes
Schmucks entbehren, stützen die gewaltigen Wölbungen. Der einzige Zweck
dieser Glieder ist möglichste Tragfähigkeit. Auch in den darüberliegenden
Räumen überwiegen noch die konstruktiven über die dekorativen Rücksichten.
Die Mauern werden etwas dünner und dnrch mehr Fenster durchbrochen, aber
es fehlt noch die schmückende Umrahmung. Die Säulen werden dünner und
hoher, dementsprechend zahlreicher. Nur die Kapitale rankt sich schönes natu¬
ralistisches Laubwerk. Die Wölbungen werden eleganter. In den obersten
Teilen, wo die Rücksicht auf die Konstruktion zurücktritt, entfaltet sich das
Bestreben, die Maucrflächen aufzulösen und zu zerteilen, die Dekoration wird
leicht und zierlich.

Beiden Bauten ist ferner gemeinsam das Material. Die französischen
Architekten zogen immer die Materialien in Betracht, mit denen sie zu ar¬
beiten hatten, und gaben jedem Ban die Form, die am besten dem verwandten
Stosse entspricht. Hier nun ist alles Granit. Durch seine Festigkeit ermög¬
lichte er die Leichtigkeit der Anlage, zu der die malerische Erscheinung der ge¬
samten Lokalitnt drängte, dnrch seine Härte nötigte er zu einer strengern Be¬
handlung und zu einer einfachern Formengebung im einzelnen. So kam hier
der Stoff der herben, manchmal fast nüchternen Zurückhaltung entgegen, die
schon die romanische Architektur der Normandie, besonders in den Bauten
Wilhelms des Erobrers in Caen auszeichnete. Bon der Überfülle und bis¬
weilen allzureichen bildnerischem Ausschmückung - der französischen Architektur
hält sich die normännische frei. Die Details ersticken nicht die Klarheit der
^esamtaiwrdnung. Die stete Betonung der horizontalen Gliederung, die an
^n meisten französischen Bauten hervortritt, muß hier zurücktreten; die Enge
^'s Platzes nötigte die Richtung nach oben ans. Konsequent dringt jedes
Bmiglied, daS an der Basis des Gebäudes wurzelt, durch alle Hindernisse bis
6»"> Gipfel des Gebäudes empor.

Im einzelnen besteht die Kirche ans der Krypta und der eigentlichen
K'rede. Die Krypta „der dicken Pfeiler" ist nicht, was man gewöhnlich nnter
Krypta versteht, sondern nnr die gewaltige, ans den Felsen gegründete Snb-
swlltivn des Chors der Kirche. Ihre heutige Gestalt geht auf die Wieder¬
herstellung im sechzehnten Jahrhundert zurück. Wie festgefügte Pylonen sind
"'^ neunzehn runden Pfeiler von je 5 Metern Umfang ans achteckiger Basis
"Ufgebnut lind leiten ohne Kapitüle wie riesige Palmen in die außerordentlich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0199" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/236021"/>
          <fw type="header" place="top"> Mont Se. Michel und der Michaelskultus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_733" prev="#ID_732"> dankt er erst der durchgreifenden Renovierung durch die französische Regierung<lb/>
seine heutige imposante Erscheinung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_734"> Die Entwicklung des Bars und der Ballteile bei der Kirche wie bei der<lb/>
Abtei erinnert an den Vorgang der .Krystallisation: alle Teile fügen sich in<lb/>
organischem Zusammenhang aneinander. Es kann nicht ein Teil weggenommen<lb/>
werden, ohne daß das Ganze zerstört würde. Der Aufbau wahrt strengstens<lb/>
das statische Prinzip. Die untern Räume und Baulichkeiten sind schwer und<lb/>
wuchtig gehalten. Dicke massige Wände erscheinen wie eine natürliche Wetter¬<lb/>
führung der felsigen Grundlage. Niedrige, gedrungne Säulen, die fast jedes<lb/>
Schmucks entbehren, stützen die gewaltigen Wölbungen. Der einzige Zweck<lb/>
dieser Glieder ist möglichste Tragfähigkeit. Auch in den darüberliegenden<lb/>
Räumen überwiegen noch die konstruktiven über die dekorativen Rücksichten.<lb/>
Die Mauern werden etwas dünner und dnrch mehr Fenster durchbrochen, aber<lb/>
es fehlt noch die schmückende Umrahmung. Die Säulen werden dünner und<lb/>
hoher, dementsprechend zahlreicher. Nur die Kapitale rankt sich schönes natu¬<lb/>
ralistisches Laubwerk. Die Wölbungen werden eleganter. In den obersten<lb/>
Teilen, wo die Rücksicht auf die Konstruktion zurücktritt, entfaltet sich das<lb/>
Bestreben, die Maucrflächen aufzulösen und zu zerteilen, die Dekoration wird<lb/>
leicht und zierlich.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_735"> Beiden Bauten ist ferner gemeinsam das Material. Die französischen<lb/>
Architekten zogen immer die Materialien in Betracht, mit denen sie zu ar¬<lb/>
beiten hatten, und gaben jedem Ban die Form, die am besten dem verwandten<lb/>
Stosse entspricht. Hier nun ist alles Granit. Durch seine Festigkeit ermög¬<lb/>
lichte er die Leichtigkeit der Anlage, zu der die malerische Erscheinung der ge¬<lb/>
samten Lokalitnt drängte, dnrch seine Härte nötigte er zu einer strengern Be¬<lb/>
handlung und zu einer einfachern Formengebung im einzelnen. So kam hier<lb/>
der Stoff der herben, manchmal fast nüchternen Zurückhaltung entgegen, die<lb/>
schon die romanische Architektur der Normandie, besonders in den Bauten<lb/>
Wilhelms des Erobrers in Caen auszeichnete. Bon der Überfülle und bis¬<lb/>
weilen allzureichen bildnerischem Ausschmückung - der französischen Architektur<lb/>
hält sich die normännische frei. Die Details ersticken nicht die Klarheit der<lb/>
^esamtaiwrdnung. Die stete Betonung der horizontalen Gliederung, die an<lb/>
^n meisten französischen Bauten hervortritt, muß hier zurücktreten; die Enge<lb/>
^'s Platzes nötigte die Richtung nach oben ans. Konsequent dringt jedes<lb/>
Bmiglied, daS an der Basis des Gebäudes wurzelt, durch alle Hindernisse bis<lb/>
6»"&gt; Gipfel des Gebäudes empor.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_736" next="#ID_737"> Im einzelnen besteht die Kirche ans der Krypta und der eigentlichen<lb/>
K'rede. Die Krypta &#x201E;der dicken Pfeiler" ist nicht, was man gewöhnlich nnter<lb/>
Krypta versteht, sondern nnr die gewaltige, ans den Felsen gegründete Snb-<lb/>
swlltivn des Chors der Kirche. Ihre heutige Gestalt geht auf die Wieder¬<lb/>
herstellung im sechzehnten Jahrhundert zurück. Wie festgefügte Pylonen sind<lb/>
"'^ neunzehn runden Pfeiler von je 5 Metern Umfang ans achteckiger Basis<lb/>
"Ufgebnut lind leiten ohne Kapitüle wie riesige Palmen in die außerordentlich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0199] Mont Se. Michel und der Michaelskultus dankt er erst der durchgreifenden Renovierung durch die französische Regierung seine heutige imposante Erscheinung. Die Entwicklung des Bars und der Ballteile bei der Kirche wie bei der Abtei erinnert an den Vorgang der .Krystallisation: alle Teile fügen sich in organischem Zusammenhang aneinander. Es kann nicht ein Teil weggenommen werden, ohne daß das Ganze zerstört würde. Der Aufbau wahrt strengstens das statische Prinzip. Die untern Räume und Baulichkeiten sind schwer und wuchtig gehalten. Dicke massige Wände erscheinen wie eine natürliche Wetter¬ führung der felsigen Grundlage. Niedrige, gedrungne Säulen, die fast jedes Schmucks entbehren, stützen die gewaltigen Wölbungen. Der einzige Zweck dieser Glieder ist möglichste Tragfähigkeit. Auch in den darüberliegenden Räumen überwiegen noch die konstruktiven über die dekorativen Rücksichten. Die Mauern werden etwas dünner und dnrch mehr Fenster durchbrochen, aber es fehlt noch die schmückende Umrahmung. Die Säulen werden dünner und hoher, dementsprechend zahlreicher. Nur die Kapitale rankt sich schönes natu¬ ralistisches Laubwerk. Die Wölbungen werden eleganter. In den obersten Teilen, wo die Rücksicht auf die Konstruktion zurücktritt, entfaltet sich das Bestreben, die Maucrflächen aufzulösen und zu zerteilen, die Dekoration wird leicht und zierlich. Beiden Bauten ist ferner gemeinsam das Material. Die französischen Architekten zogen immer die Materialien in Betracht, mit denen sie zu ar¬ beiten hatten, und gaben jedem Ban die Form, die am besten dem verwandten Stosse entspricht. Hier nun ist alles Granit. Durch seine Festigkeit ermög¬ lichte er die Leichtigkeit der Anlage, zu der die malerische Erscheinung der ge¬ samten Lokalitnt drängte, dnrch seine Härte nötigte er zu einer strengern Be¬ handlung und zu einer einfachern Formengebung im einzelnen. So kam hier der Stoff der herben, manchmal fast nüchternen Zurückhaltung entgegen, die schon die romanische Architektur der Normandie, besonders in den Bauten Wilhelms des Erobrers in Caen auszeichnete. Bon der Überfülle und bis¬ weilen allzureichen bildnerischem Ausschmückung - der französischen Architektur hält sich die normännische frei. Die Details ersticken nicht die Klarheit der ^esamtaiwrdnung. Die stete Betonung der horizontalen Gliederung, die an ^n meisten französischen Bauten hervortritt, muß hier zurücktreten; die Enge ^'s Platzes nötigte die Richtung nach oben ans. Konsequent dringt jedes Bmiglied, daS an der Basis des Gebäudes wurzelt, durch alle Hindernisse bis 6»"> Gipfel des Gebäudes empor. Im einzelnen besteht die Kirche ans der Krypta und der eigentlichen K'rede. Die Krypta „der dicken Pfeiler" ist nicht, was man gewöhnlich nnter Krypta versteht, sondern nnr die gewaltige, ans den Felsen gegründete Snb- swlltivn des Chors der Kirche. Ihre heutige Gestalt geht auf die Wieder¬ herstellung im sechzehnten Jahrhundert zurück. Wie festgefügte Pylonen sind "'^ neunzehn runden Pfeiler von je 5 Metern Umfang ans achteckiger Basis "Ufgebnut lind leiten ohne Kapitüle wie riesige Palmen in die außerordentlich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/199
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/199>, abgerufen am 13.06.2024.