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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Historische Versäumnisse

altkeltischen Boden festgesetzt und mit den überall unzweifelhaft zurückgebliebnen,
wenn auch sehr schwachen Resten der ursprünglichen Bewohner vermischt, der
gesamte Osten aber ist auf Jahrhunderte oder dauernd an die Slawen verloren
gegangen.

Eine ungeheure Verschiebung, wie sie bei keinem andern europäischen
Kulturvolke jemals vorgekommen ist. Ein halbes Jahrtausend und länger und
bis tief ins erste vorchristliche Jahrhundert hinein sind die Germanen im un-
unterbrochnem Vordringen nach Westen und Süden; dann gebietet ihnen die
römische Herrschaft nicht nur energisch Halt, sondern drängt sie sogar zurück.
Ju einem mächtigen umfassenden zweiten Vorstoß erreichen sie dann seit dem
zweiten Jahrhunderte u. Chr. die äußerste südliche und westliche Grenze ihrer
dauernden Ausbreitung, aber darüber gaben sie den ganzen alten Osten auf,
ein ungeheurer Landverlust, den" wenn auch diese noch halbnomadischen Stämme
schwerlich viel fester an ihrem Boden hafteten, als etwa ursprünglich die Spanier
an den südamerikanischen Pampas, sie hatten bisher doch diese Räume beherrscht
und mußten sie sich später, als sie ihrer bedurften, erst unter Strömen von
Blut wieder erkämpfen.

Diese Räumung des Ostens, nicht nur Böhmens, ist, wenn man so sagen
will, die erste große Versäumnis in der deutschen Geschichte, eine Versäumnis
natürlich nicht in dem Sinne, als wenn dafür irgend jemand verantwortlich
zu machen wäre; denn von den Menschen, die solche entscheidende Volksbeschlüsse
faßten, wie den, die alte Heimat aufzugeben und in eine ungewisse Ferne
hinauszuziehu mit Weib und Kind und Knecht und Vieh und aller fahrenden
Habe, wissen wir fast nichts, und wie dringend ihre Beweggründe waren,
können wir noch weniger beurteilen. Aber die Folgen blieben bestehn, und
ganz find sie auch durch die deutsche Rückeroberung und Kolonisation im
spätern Mittelalter, die seit Karl dem Großen erst die Ausbreitung der Slawen
zum Stillstand bringt, dann das Land weit über die Ostgrenze des alten
Germaniens hinaus bis an den Finnischen Meerbusen, bis tief nach Polen,
ja in Ausläufern bis nach Ungarn und Siebenbürgen hinein bemeistert, nicht
rückgängig gemacht worden. Fremde Staatswesen bildeten sich bis an die Elbe
und die Saale und behaupteten sich in Ungarn, Böhmen und Polen, dicht an
der Grenze, ja bis ins Herz des neuen kolonialen Deutschlands hinein.

Man ist oft geneigt gewesen, in der Zulassung oder Duldung dieser
Staatsbildungen eine zweite historische Versäumnis zu sehen und dafür die
italienische Politik des deutschen Kaisertums verantwortlich zu macheu, das
die besten Kräfte der Nation im Süden zwecklos vergeudet habe, statt sie auf
die völlige Unterwerfung des Ostens zu verwenden. Wir glauben mit Unrecht.
Erstens konnte damals, als diese Kaiserpolitik einsetzte, um die Mitte des
zehnten Jahrhunderts, anch der scharfsinnigste Staatsmann nicht vermuten,
daß dieses deutsche Volk einmal neuen Boden für den Überschuß seiner Menschen¬
fülle brauchen werde, dn damals noch mit der innern Kolonisation, mit der
Rodung der ungeheuern Wälder innerhalb der nationalen Grenzen vollauf Raum
geschafft zu werden schien; wenn schon damals von Sachsen aus die Unter¬
werfung der Elbslaweu begann, wie ein Jahrhundert früher von Bädern aus


Historische Versäumnisse

altkeltischen Boden festgesetzt und mit den überall unzweifelhaft zurückgebliebnen,
wenn auch sehr schwachen Resten der ursprünglichen Bewohner vermischt, der
gesamte Osten aber ist auf Jahrhunderte oder dauernd an die Slawen verloren
gegangen.

Eine ungeheure Verschiebung, wie sie bei keinem andern europäischen
Kulturvolke jemals vorgekommen ist. Ein halbes Jahrtausend und länger und
bis tief ins erste vorchristliche Jahrhundert hinein sind die Germanen im un-
unterbrochnem Vordringen nach Westen und Süden; dann gebietet ihnen die
römische Herrschaft nicht nur energisch Halt, sondern drängt sie sogar zurück.
Ju einem mächtigen umfassenden zweiten Vorstoß erreichen sie dann seit dem
zweiten Jahrhunderte u. Chr. die äußerste südliche und westliche Grenze ihrer
dauernden Ausbreitung, aber darüber gaben sie den ganzen alten Osten auf,
ein ungeheurer Landverlust, den« wenn auch diese noch halbnomadischen Stämme
schwerlich viel fester an ihrem Boden hafteten, als etwa ursprünglich die Spanier
an den südamerikanischen Pampas, sie hatten bisher doch diese Räume beherrscht
und mußten sie sich später, als sie ihrer bedurften, erst unter Strömen von
Blut wieder erkämpfen.

Diese Räumung des Ostens, nicht nur Böhmens, ist, wenn man so sagen
will, die erste große Versäumnis in der deutschen Geschichte, eine Versäumnis
natürlich nicht in dem Sinne, als wenn dafür irgend jemand verantwortlich
zu machen wäre; denn von den Menschen, die solche entscheidende Volksbeschlüsse
faßten, wie den, die alte Heimat aufzugeben und in eine ungewisse Ferne
hinauszuziehu mit Weib und Kind und Knecht und Vieh und aller fahrenden
Habe, wissen wir fast nichts, und wie dringend ihre Beweggründe waren,
können wir noch weniger beurteilen. Aber die Folgen blieben bestehn, und
ganz find sie auch durch die deutsche Rückeroberung und Kolonisation im
spätern Mittelalter, die seit Karl dem Großen erst die Ausbreitung der Slawen
zum Stillstand bringt, dann das Land weit über die Ostgrenze des alten
Germaniens hinaus bis an den Finnischen Meerbusen, bis tief nach Polen,
ja in Ausläufern bis nach Ungarn und Siebenbürgen hinein bemeistert, nicht
rückgängig gemacht worden. Fremde Staatswesen bildeten sich bis an die Elbe
und die Saale und behaupteten sich in Ungarn, Böhmen und Polen, dicht an
der Grenze, ja bis ins Herz des neuen kolonialen Deutschlands hinein.

Man ist oft geneigt gewesen, in der Zulassung oder Duldung dieser
Staatsbildungen eine zweite historische Versäumnis zu sehen und dafür die
italienische Politik des deutschen Kaisertums verantwortlich zu macheu, das
die besten Kräfte der Nation im Süden zwecklos vergeudet habe, statt sie auf
die völlige Unterwerfung des Ostens zu verwenden. Wir glauben mit Unrecht.
Erstens konnte damals, als diese Kaiserpolitik einsetzte, um die Mitte des
zehnten Jahrhunderts, anch der scharfsinnigste Staatsmann nicht vermuten,
daß dieses deutsche Volk einmal neuen Boden für den Überschuß seiner Menschen¬
fülle brauchen werde, dn damals noch mit der innern Kolonisation, mit der
Rodung der ungeheuern Wälder innerhalb der nationalen Grenzen vollauf Raum
geschafft zu werden schien; wenn schon damals von Sachsen aus die Unter¬
werfung der Elbslaweu begann, wie ein Jahrhundert früher von Bädern aus


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[0123] Historische Versäumnisse altkeltischen Boden festgesetzt und mit den überall unzweifelhaft zurückgebliebnen, wenn auch sehr schwachen Resten der ursprünglichen Bewohner vermischt, der gesamte Osten aber ist auf Jahrhunderte oder dauernd an die Slawen verloren gegangen. Eine ungeheure Verschiebung, wie sie bei keinem andern europäischen Kulturvolke jemals vorgekommen ist. Ein halbes Jahrtausend und länger und bis tief ins erste vorchristliche Jahrhundert hinein sind die Germanen im un- unterbrochnem Vordringen nach Westen und Süden; dann gebietet ihnen die römische Herrschaft nicht nur energisch Halt, sondern drängt sie sogar zurück. Ju einem mächtigen umfassenden zweiten Vorstoß erreichen sie dann seit dem zweiten Jahrhunderte u. Chr. die äußerste südliche und westliche Grenze ihrer dauernden Ausbreitung, aber darüber gaben sie den ganzen alten Osten auf, ein ungeheurer Landverlust, den« wenn auch diese noch halbnomadischen Stämme schwerlich viel fester an ihrem Boden hafteten, als etwa ursprünglich die Spanier an den südamerikanischen Pampas, sie hatten bisher doch diese Räume beherrscht und mußten sie sich später, als sie ihrer bedurften, erst unter Strömen von Blut wieder erkämpfen. Diese Räumung des Ostens, nicht nur Böhmens, ist, wenn man so sagen will, die erste große Versäumnis in der deutschen Geschichte, eine Versäumnis natürlich nicht in dem Sinne, als wenn dafür irgend jemand verantwortlich zu machen wäre; denn von den Menschen, die solche entscheidende Volksbeschlüsse faßten, wie den, die alte Heimat aufzugeben und in eine ungewisse Ferne hinauszuziehu mit Weib und Kind und Knecht und Vieh und aller fahrenden Habe, wissen wir fast nichts, und wie dringend ihre Beweggründe waren, können wir noch weniger beurteilen. Aber die Folgen blieben bestehn, und ganz find sie auch durch die deutsche Rückeroberung und Kolonisation im spätern Mittelalter, die seit Karl dem Großen erst die Ausbreitung der Slawen zum Stillstand bringt, dann das Land weit über die Ostgrenze des alten Germaniens hinaus bis an den Finnischen Meerbusen, bis tief nach Polen, ja in Ausläufern bis nach Ungarn und Siebenbürgen hinein bemeistert, nicht rückgängig gemacht worden. Fremde Staatswesen bildeten sich bis an die Elbe und die Saale und behaupteten sich in Ungarn, Böhmen und Polen, dicht an der Grenze, ja bis ins Herz des neuen kolonialen Deutschlands hinein. Man ist oft geneigt gewesen, in der Zulassung oder Duldung dieser Staatsbildungen eine zweite historische Versäumnis zu sehen und dafür die italienische Politik des deutschen Kaisertums verantwortlich zu macheu, das die besten Kräfte der Nation im Süden zwecklos vergeudet habe, statt sie auf die völlige Unterwerfung des Ostens zu verwenden. Wir glauben mit Unrecht. Erstens konnte damals, als diese Kaiserpolitik einsetzte, um die Mitte des zehnten Jahrhunderts, anch der scharfsinnigste Staatsmann nicht vermuten, daß dieses deutsche Volk einmal neuen Boden für den Überschuß seiner Menschen¬ fülle brauchen werde, dn damals noch mit der innern Kolonisation, mit der Rodung der ungeheuern Wälder innerhalb der nationalen Grenzen vollauf Raum geschafft zu werden schien; wenn schon damals von Sachsen aus die Unter¬ werfung der Elbslaweu begann, wie ein Jahrhundert früher von Bädern aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/123>, abgerufen am 28.05.2024.