Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Historische Versäumnisse

wir doch neben den gehaßten Engländern da, über die wir tagtäglich schimpfen!
Daran ist wahrhaftig nicht die Neichsregierung schuld, sondern einzig und allein
die Lauheit und der Kleinmut der Nation. Aber auch wenn ein frischerer
Zug dahinein käme, die großen Kolonialgebiete jenseits des Meeres sind uns
für immer verloren, deutsche Pflanzstaaten wird es dort niemals geben; diese
Möglichkeit ist schon im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert verspielt
worden. Sogar in dem Falle, daß sich einmal die englischen Kolonien vom
Mutterlands ablösen sollten, Nordamerika, ein großer Teil Südafrikas und
Australien würden doch immer angelsächsisch bleiben, und soviele Deutsche
dorthin ausgewandert sind und noch auswandern mögen, sie wollen und können
auch gar nicht an irgend welche nationalpolitische Selbständigkeit denken, sie
sind ehrlich gesagt doch nur "Völkerdünger." Eine bessere Zukunft kann uns
in einzelnen Teilen Südamerikas erblühn, wo wenigstens die Gründung
einigermaßen selbständiger und geschlossener deutscher Niederlassungen gelungen
ist und weiter gelingen kann, aber sie stehn eben doch auch unter fremder Herr¬
schaft und haben in Argentinien und Brasilien mit der energischen Konkurrenz
der sehr rührigen Italiener zu kämpfen. Dazu werden wir auf Schritt und
Tritt mißtrauisch beobachtet und empfinden es schwer, daß wir es überall mit
ältern und stärkern Kolonialmächten zu thun haben, deren keine uns auch nur
den kleinsten Fortschritt ehrlich gönnt. Verbreitet sich auch nnr ein Gerücht,
daß Deutschland die und jene Kohlenstation zu erwerben beabsichtige, dann
wird die ganze Welt gegen unsern sträflichen Ehrgeiz alarmiert; daß wir
Kiautschou besetzten, also ganz dasselbe thaten, was England vor sechzig Jahren
in Hongkong gethan hat, sollte den Boxeranfstand verschuldet haben; wenn
der Sultan seine Lehnshoheit über Kowcit geltend macht, so hat ihn Deutsch¬
land dazu aufgehetzt, um der englischen Uneigennützigst einen Streich zu
spielen, und wenn wir unsre Rechte gegen die schwache Regierung von
Venezuela geltend machen, uns sogar erdreisten, Kriegsschiffe dorthin zu
schicken, weil diese Kreolen etwas harthörig sind, dann erhebt die "gelbe"
Jankeepresse drüben ein wahrhaft indianisches Kriegsgeheul und erörtert ganz
ernsthaft den unsinnigen Gedanken, mit uns zur Verteidigung der Monroe-
doktrin anzubinden, wobei sie allerdings die unangenehme Erfahrung machen
würde, daß wir keine Spanier sind. Kurz, wo wir uns nur zu rühren ver¬
suchen, da schallt es über den ganzen Erdball hin: Hancls oll! Da muß bei
den bescheidnen Möglichkeiten, die uns noch bleiben, die ganze Nation, deren
Geschichte eine Kette schwerer Versäumnisse gewesen ist, nach dem Grundsatz
handeln: Keine Versäumnisse mehr! Sonst droht auch unsrer jungen Kolonial-
und Weltmachtpolitik die Gefahr, daß sie in eine große und zwar ganz un¬
entschuldbare Versäumnis ausläuft, und daß die Nation endgiltig der Ver¬
k * ümmerung überliefert wird. Also keine Versäumnisse mehr!




Historische Versäumnisse

wir doch neben den gehaßten Engländern da, über die wir tagtäglich schimpfen!
Daran ist wahrhaftig nicht die Neichsregierung schuld, sondern einzig und allein
die Lauheit und der Kleinmut der Nation. Aber auch wenn ein frischerer
Zug dahinein käme, die großen Kolonialgebiete jenseits des Meeres sind uns
für immer verloren, deutsche Pflanzstaaten wird es dort niemals geben; diese
Möglichkeit ist schon im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert verspielt
worden. Sogar in dem Falle, daß sich einmal die englischen Kolonien vom
Mutterlands ablösen sollten, Nordamerika, ein großer Teil Südafrikas und
Australien würden doch immer angelsächsisch bleiben, und soviele Deutsche
dorthin ausgewandert sind und noch auswandern mögen, sie wollen und können
auch gar nicht an irgend welche nationalpolitische Selbständigkeit denken, sie
sind ehrlich gesagt doch nur „Völkerdünger." Eine bessere Zukunft kann uns
in einzelnen Teilen Südamerikas erblühn, wo wenigstens die Gründung
einigermaßen selbständiger und geschlossener deutscher Niederlassungen gelungen
ist und weiter gelingen kann, aber sie stehn eben doch auch unter fremder Herr¬
schaft und haben in Argentinien und Brasilien mit der energischen Konkurrenz
der sehr rührigen Italiener zu kämpfen. Dazu werden wir auf Schritt und
Tritt mißtrauisch beobachtet und empfinden es schwer, daß wir es überall mit
ältern und stärkern Kolonialmächten zu thun haben, deren keine uns auch nur
den kleinsten Fortschritt ehrlich gönnt. Verbreitet sich auch nnr ein Gerücht,
daß Deutschland die und jene Kohlenstation zu erwerben beabsichtige, dann
wird die ganze Welt gegen unsern sträflichen Ehrgeiz alarmiert; daß wir
Kiautschou besetzten, also ganz dasselbe thaten, was England vor sechzig Jahren
in Hongkong gethan hat, sollte den Boxeranfstand verschuldet haben; wenn
der Sultan seine Lehnshoheit über Kowcit geltend macht, so hat ihn Deutsch¬
land dazu aufgehetzt, um der englischen Uneigennützigst einen Streich zu
spielen, und wenn wir unsre Rechte gegen die schwache Regierung von
Venezuela geltend machen, uns sogar erdreisten, Kriegsschiffe dorthin zu
schicken, weil diese Kreolen etwas harthörig sind, dann erhebt die „gelbe"
Jankeepresse drüben ein wahrhaft indianisches Kriegsgeheul und erörtert ganz
ernsthaft den unsinnigen Gedanken, mit uns zur Verteidigung der Monroe-
doktrin anzubinden, wobei sie allerdings die unangenehme Erfahrung machen
würde, daß wir keine Spanier sind. Kurz, wo wir uns nur zu rühren ver¬
suchen, da schallt es über den ganzen Erdball hin: Hancls oll! Da muß bei
den bescheidnen Möglichkeiten, die uns noch bleiben, die ganze Nation, deren
Geschichte eine Kette schwerer Versäumnisse gewesen ist, nach dem Grundsatz
handeln: Keine Versäumnisse mehr! Sonst droht auch unsrer jungen Kolonial-
und Weltmachtpolitik die Gefahr, daß sie in eine große und zwar ganz un¬
entschuldbare Versäumnis ausläuft, und daß die Nation endgiltig der Ver¬
k * ümmerung überliefert wird. Also keine Versäumnisse mehr!




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0132" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/236656"/>
          <fw type="header" place="top"> Historische Versäumnisse</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_464" prev="#ID_463"> wir doch neben den gehaßten Engländern da, über die wir tagtäglich schimpfen!<lb/>
Daran ist wahrhaftig nicht die Neichsregierung schuld, sondern einzig und allein<lb/>
die Lauheit und der Kleinmut der Nation. Aber auch wenn ein frischerer<lb/>
Zug dahinein käme, die großen Kolonialgebiete jenseits des Meeres sind uns<lb/>
für immer verloren, deutsche Pflanzstaaten wird es dort niemals geben; diese<lb/>
Möglichkeit ist schon im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert verspielt<lb/>
worden. Sogar in dem Falle, daß sich einmal die englischen Kolonien vom<lb/>
Mutterlands ablösen sollten, Nordamerika, ein großer Teil Südafrikas und<lb/>
Australien würden doch immer angelsächsisch bleiben, und soviele Deutsche<lb/>
dorthin ausgewandert sind und noch auswandern mögen, sie wollen und können<lb/>
auch gar nicht an irgend welche nationalpolitische Selbständigkeit denken, sie<lb/>
sind ehrlich gesagt doch nur &#x201E;Völkerdünger." Eine bessere Zukunft kann uns<lb/>
in einzelnen Teilen Südamerikas erblühn, wo wenigstens die Gründung<lb/>
einigermaßen selbständiger und geschlossener deutscher Niederlassungen gelungen<lb/>
ist und weiter gelingen kann, aber sie stehn eben doch auch unter fremder Herr¬<lb/>
schaft und haben in Argentinien und Brasilien mit der energischen Konkurrenz<lb/>
der sehr rührigen Italiener zu kämpfen. Dazu werden wir auf Schritt und<lb/>
Tritt mißtrauisch beobachtet und empfinden es schwer, daß wir es überall mit<lb/>
ältern und stärkern Kolonialmächten zu thun haben, deren keine uns auch nur<lb/>
den kleinsten Fortschritt ehrlich gönnt. Verbreitet sich auch nnr ein Gerücht,<lb/>
daß Deutschland die und jene Kohlenstation zu erwerben beabsichtige, dann<lb/>
wird die ganze Welt gegen unsern sträflichen Ehrgeiz alarmiert; daß wir<lb/>
Kiautschou besetzten, also ganz dasselbe thaten, was England vor sechzig Jahren<lb/>
in Hongkong gethan hat, sollte den Boxeranfstand verschuldet haben; wenn<lb/>
der Sultan seine Lehnshoheit über Kowcit geltend macht, so hat ihn Deutsch¬<lb/>
land dazu aufgehetzt, um der englischen Uneigennützigst einen Streich zu<lb/>
spielen, und wenn wir unsre Rechte gegen die schwache Regierung von<lb/>
Venezuela geltend machen, uns sogar erdreisten, Kriegsschiffe dorthin zu<lb/>
schicken, weil diese Kreolen etwas harthörig sind, dann erhebt die &#x201E;gelbe"<lb/>
Jankeepresse drüben ein wahrhaft indianisches Kriegsgeheul und erörtert ganz<lb/>
ernsthaft den unsinnigen Gedanken, mit uns zur Verteidigung der Monroe-<lb/>
doktrin anzubinden, wobei sie allerdings die unangenehme Erfahrung machen<lb/>
würde, daß wir keine Spanier sind. Kurz, wo wir uns nur zu rühren ver¬<lb/>
suchen, da schallt es über den ganzen Erdball hin: Hancls oll! Da muß bei<lb/>
den bescheidnen Möglichkeiten, die uns noch bleiben, die ganze Nation, deren<lb/>
Geschichte eine Kette schwerer Versäumnisse gewesen ist, nach dem Grundsatz<lb/>
handeln: Keine Versäumnisse mehr! Sonst droht auch unsrer jungen Kolonial-<lb/>
und Weltmachtpolitik die Gefahr, daß sie in eine große und zwar ganz un¬<lb/>
entschuldbare Versäumnis ausläuft, und daß die Nation endgiltig der Ver¬<lb/>
k<note type="byline"> *</note> ümmerung überliefert wird.  Also keine Versäumnisse mehr! </p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0132] Historische Versäumnisse wir doch neben den gehaßten Engländern da, über die wir tagtäglich schimpfen! Daran ist wahrhaftig nicht die Neichsregierung schuld, sondern einzig und allein die Lauheit und der Kleinmut der Nation. Aber auch wenn ein frischerer Zug dahinein käme, die großen Kolonialgebiete jenseits des Meeres sind uns für immer verloren, deutsche Pflanzstaaten wird es dort niemals geben; diese Möglichkeit ist schon im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert verspielt worden. Sogar in dem Falle, daß sich einmal die englischen Kolonien vom Mutterlands ablösen sollten, Nordamerika, ein großer Teil Südafrikas und Australien würden doch immer angelsächsisch bleiben, und soviele Deutsche dorthin ausgewandert sind und noch auswandern mögen, sie wollen und können auch gar nicht an irgend welche nationalpolitische Selbständigkeit denken, sie sind ehrlich gesagt doch nur „Völkerdünger." Eine bessere Zukunft kann uns in einzelnen Teilen Südamerikas erblühn, wo wenigstens die Gründung einigermaßen selbständiger und geschlossener deutscher Niederlassungen gelungen ist und weiter gelingen kann, aber sie stehn eben doch auch unter fremder Herr¬ schaft und haben in Argentinien und Brasilien mit der energischen Konkurrenz der sehr rührigen Italiener zu kämpfen. Dazu werden wir auf Schritt und Tritt mißtrauisch beobachtet und empfinden es schwer, daß wir es überall mit ältern und stärkern Kolonialmächten zu thun haben, deren keine uns auch nur den kleinsten Fortschritt ehrlich gönnt. Verbreitet sich auch nnr ein Gerücht, daß Deutschland die und jene Kohlenstation zu erwerben beabsichtige, dann wird die ganze Welt gegen unsern sträflichen Ehrgeiz alarmiert; daß wir Kiautschou besetzten, also ganz dasselbe thaten, was England vor sechzig Jahren in Hongkong gethan hat, sollte den Boxeranfstand verschuldet haben; wenn der Sultan seine Lehnshoheit über Kowcit geltend macht, so hat ihn Deutsch¬ land dazu aufgehetzt, um der englischen Uneigennützigst einen Streich zu spielen, und wenn wir unsre Rechte gegen die schwache Regierung von Venezuela geltend machen, uns sogar erdreisten, Kriegsschiffe dorthin zu schicken, weil diese Kreolen etwas harthörig sind, dann erhebt die „gelbe" Jankeepresse drüben ein wahrhaft indianisches Kriegsgeheul und erörtert ganz ernsthaft den unsinnigen Gedanken, mit uns zur Verteidigung der Monroe- doktrin anzubinden, wobei sie allerdings die unangenehme Erfahrung machen würde, daß wir keine Spanier sind. Kurz, wo wir uns nur zu rühren ver¬ suchen, da schallt es über den ganzen Erdball hin: Hancls oll! Da muß bei den bescheidnen Möglichkeiten, die uns noch bleiben, die ganze Nation, deren Geschichte eine Kette schwerer Versäumnisse gewesen ist, nach dem Grundsatz handeln: Keine Versäumnisse mehr! Sonst droht auch unsrer jungen Kolonial- und Weltmachtpolitik die Gefahr, daß sie in eine große und zwar ganz un¬ entschuldbare Versäumnis ausläuft, und daß die Nation endgiltig der Ver¬ k * ümmerung überliefert wird. Also keine Versäumnisse mehr!

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/132
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/132>, abgerufen am 14.05.2024.