Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Nationalitätskämpfe

Bildung nicht Herr zu werden. Auch in Nordafrika und Britannien haben
römische Sprache und Gesittung nur vorübergehend geherrscht. Hier wurde
das aufkeimende Römertum durch das Erscheinen neuer jugendkräftiger Völker
wie vom Sturme verweht. Aber auch die Lande, in denen das römische Wesen
kräftige Wurzeln geschlagen und die urheimischen Volkssprachen gänzlich ver¬
drängt hatte, brachten diese neuen Völker in ihre Gewalt. Hier konnte das
Römertum zwar nicht mehr wie in Nordafrika, Britannien und dem südwest¬
lichen Deutschland entwurzelt werden. Dazu waren die erobernden Volks-
stümme der Zahl nach zu gering und der Kultur nach zu unentwickelt. Aber
wenigstens die Einheit des Römertums konnte sich auch hier nicht behaupten:
der alten Römersprache wurde der Boden mehr und mehr streitig gemacht
durch die wenn auch nahe verwandten Volkssprachen; durch die Gründung
neuer Reiche der Eroberer wurde der so beginnenden Zerklüftung der Sprache
eine politische hinzugefügt; und der wenn auch meist schwache Beisatz des
Bluts, den die Vermischung der Eroberer mit den Provinzialen bewirkte, die
Aufnahme von Worten aus der Sprache der Eroberer thaten ein Übriges,
die Differenzierung der von vornherein trotz der zur Alleinherrschaft gelangten
römischen Sprache und Kultur nichts weniger als einheitlichen Bevölkerungen
der römischen Provinzen zu wirklichen nationalen Gegensätzen zu gestalten.

Diese fremden Eroberer, die auf den Trümmern des alten römischen
Weltreichs neue Reiche errichteten und dadurch dem Entsteh" der neuen roma¬
nischen Reiche die Wege ebneten, waren vor allem die wandernden Stämme der
Germanen. Vandalen, Ost- und Westgoten, Burgunder und Langobarden
gingen so dem deutschen Leben verloren, indem sie das Blut der römischen
Provinzialbevölkerung auffrischten und in ihr aufgingen. Aber so gewaltig
war die Kraft des Germanentums, daß trotz dieses unermeßlichen Verlusts
zahlreicher, großer und hochbegabter Stämme der in Mitteleuropa zusammen-
gehaltne deutsche Kern noch jahrhundertelang alle übrigen Völker Europas in
den Schatten stellen konnte. So schwer die Verluste aber auch waren, die
dem Germanentum durch die Völkerwandrnng auferlegt wurden, ganz und gar
verloren für uns war die deutsche Volkskraft doch nicht, die über die Grenzen
des morschen Römerreichs dahingeflutet war. Im Westen und im Süden
wurden doch weite Gebiete der deutschen Sprache und Gesittung gewonnen.

Während die festländischen Germanen in den ältesten Zeiten nur bis an
die Weser im Westen und den Thüringer Wald im Süden reichten, hatten sie
sich zur Zeit Cäsars schon dem Uutcrrhein genähert. Den Oberrhein hatte
Ariovist mit seinen suevischen Scharen schon überschritten. Aber er war hier
mitten im keltischen Lande, weitab von seiner Volksgenossen Heimat, die immer
noch nach Süden zu im Thüringer Walde, sowie in den nördlichen Rand¬
gebirgen des noch von den keltischen Bojern bewohnten Böhmens ihre Grenze
hatten. Die Berichte des Tacitus lassen erkennen, daß in den seit Cäsar ver¬
flossenen anderthalb Jahrhunderten das Drängen der Germanen nach Westen
schon begonnen hatte. Sie wurden jetzt begrenzt von Rhein, Donau und
Weichsel. Weiter und weiter ging das Drängen, bis der Hunnensturm über
die alte Welt dahinbrnuste und den Anstoß gab zu Umwälzungen, die ganz


Nationalitätskämpfe

Bildung nicht Herr zu werden. Auch in Nordafrika und Britannien haben
römische Sprache und Gesittung nur vorübergehend geherrscht. Hier wurde
das aufkeimende Römertum durch das Erscheinen neuer jugendkräftiger Völker
wie vom Sturme verweht. Aber auch die Lande, in denen das römische Wesen
kräftige Wurzeln geschlagen und die urheimischen Volkssprachen gänzlich ver¬
drängt hatte, brachten diese neuen Völker in ihre Gewalt. Hier konnte das
Römertum zwar nicht mehr wie in Nordafrika, Britannien und dem südwest¬
lichen Deutschland entwurzelt werden. Dazu waren die erobernden Volks-
stümme der Zahl nach zu gering und der Kultur nach zu unentwickelt. Aber
wenigstens die Einheit des Römertums konnte sich auch hier nicht behaupten:
der alten Römersprache wurde der Boden mehr und mehr streitig gemacht
durch die wenn auch nahe verwandten Volkssprachen; durch die Gründung
neuer Reiche der Eroberer wurde der so beginnenden Zerklüftung der Sprache
eine politische hinzugefügt; und der wenn auch meist schwache Beisatz des
Bluts, den die Vermischung der Eroberer mit den Provinzialen bewirkte, die
Aufnahme von Worten aus der Sprache der Eroberer thaten ein Übriges,
die Differenzierung der von vornherein trotz der zur Alleinherrschaft gelangten
römischen Sprache und Kultur nichts weniger als einheitlichen Bevölkerungen
der römischen Provinzen zu wirklichen nationalen Gegensätzen zu gestalten.

Diese fremden Eroberer, die auf den Trümmern des alten römischen
Weltreichs neue Reiche errichteten und dadurch dem Entsteh» der neuen roma¬
nischen Reiche die Wege ebneten, waren vor allem die wandernden Stämme der
Germanen. Vandalen, Ost- und Westgoten, Burgunder und Langobarden
gingen so dem deutschen Leben verloren, indem sie das Blut der römischen
Provinzialbevölkerung auffrischten und in ihr aufgingen. Aber so gewaltig
war die Kraft des Germanentums, daß trotz dieses unermeßlichen Verlusts
zahlreicher, großer und hochbegabter Stämme der in Mitteleuropa zusammen-
gehaltne deutsche Kern noch jahrhundertelang alle übrigen Völker Europas in
den Schatten stellen konnte. So schwer die Verluste aber auch waren, die
dem Germanentum durch die Völkerwandrnng auferlegt wurden, ganz und gar
verloren für uns war die deutsche Volkskraft doch nicht, die über die Grenzen
des morschen Römerreichs dahingeflutet war. Im Westen und im Süden
wurden doch weite Gebiete der deutschen Sprache und Gesittung gewonnen.

Während die festländischen Germanen in den ältesten Zeiten nur bis an
die Weser im Westen und den Thüringer Wald im Süden reichten, hatten sie
sich zur Zeit Cäsars schon dem Uutcrrhein genähert. Den Oberrhein hatte
Ariovist mit seinen suevischen Scharen schon überschritten. Aber er war hier
mitten im keltischen Lande, weitab von seiner Volksgenossen Heimat, die immer
noch nach Süden zu im Thüringer Walde, sowie in den nördlichen Rand¬
gebirgen des noch von den keltischen Bojern bewohnten Böhmens ihre Grenze
hatten. Die Berichte des Tacitus lassen erkennen, daß in den seit Cäsar ver¬
flossenen anderthalb Jahrhunderten das Drängen der Germanen nach Westen
schon begonnen hatte. Sie wurden jetzt begrenzt von Rhein, Donau und
Weichsel. Weiter und weiter ging das Drängen, bis der Hunnensturm über
die alte Welt dahinbrnuste und den Anstoß gab zu Umwälzungen, die ganz


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0199" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/236723"/>
          <fw type="header" place="top"> Nationalitätskämpfe</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_725" prev="#ID_724"> Bildung nicht Herr zu werden. Auch in Nordafrika und Britannien haben<lb/>
römische Sprache und Gesittung nur vorübergehend geherrscht. Hier wurde<lb/>
das aufkeimende Römertum durch das Erscheinen neuer jugendkräftiger Völker<lb/>
wie vom Sturme verweht. Aber auch die Lande, in denen das römische Wesen<lb/>
kräftige Wurzeln geschlagen und die urheimischen Volkssprachen gänzlich ver¬<lb/>
drängt hatte, brachten diese neuen Völker in ihre Gewalt. Hier konnte das<lb/>
Römertum zwar nicht mehr wie in Nordafrika, Britannien und dem südwest¬<lb/>
lichen Deutschland entwurzelt werden. Dazu waren die erobernden Volks-<lb/>
stümme der Zahl nach zu gering und der Kultur nach zu unentwickelt. Aber<lb/>
wenigstens die Einheit des Römertums konnte sich auch hier nicht behaupten:<lb/>
der alten Römersprache wurde der Boden mehr und mehr streitig gemacht<lb/>
durch die wenn auch nahe verwandten Volkssprachen; durch die Gründung<lb/>
neuer Reiche der Eroberer wurde der so beginnenden Zerklüftung der Sprache<lb/>
eine politische hinzugefügt; und der wenn auch meist schwache Beisatz des<lb/>
Bluts, den die Vermischung der Eroberer mit den Provinzialen bewirkte, die<lb/>
Aufnahme von Worten aus der Sprache der Eroberer thaten ein Übriges,<lb/>
die Differenzierung der von vornherein trotz der zur Alleinherrschaft gelangten<lb/>
römischen Sprache und Kultur nichts weniger als einheitlichen Bevölkerungen<lb/>
der römischen Provinzen zu wirklichen nationalen Gegensätzen zu gestalten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_726"> Diese fremden Eroberer, die auf den Trümmern des alten römischen<lb/>
Weltreichs neue Reiche errichteten und dadurch dem Entsteh» der neuen roma¬<lb/>
nischen Reiche die Wege ebneten, waren vor allem die wandernden Stämme der<lb/>
Germanen. Vandalen, Ost- und Westgoten, Burgunder und Langobarden<lb/>
gingen so dem deutschen Leben verloren, indem sie das Blut der römischen<lb/>
Provinzialbevölkerung auffrischten und in ihr aufgingen. Aber so gewaltig<lb/>
war die Kraft des Germanentums, daß trotz dieses unermeßlichen Verlusts<lb/>
zahlreicher, großer und hochbegabter Stämme der in Mitteleuropa zusammen-<lb/>
gehaltne deutsche Kern noch jahrhundertelang alle übrigen Völker Europas in<lb/>
den Schatten stellen konnte. So schwer die Verluste aber auch waren, die<lb/>
dem Germanentum durch die Völkerwandrnng auferlegt wurden, ganz und gar<lb/>
verloren für uns war die deutsche Volkskraft doch nicht, die über die Grenzen<lb/>
des morschen Römerreichs dahingeflutet war. Im Westen und im Süden<lb/>
wurden doch weite Gebiete der deutschen Sprache und Gesittung gewonnen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_727" next="#ID_728"> Während die festländischen Germanen in den ältesten Zeiten nur bis an<lb/>
die Weser im Westen und den Thüringer Wald im Süden reichten, hatten sie<lb/>
sich zur Zeit Cäsars schon dem Uutcrrhein genähert. Den Oberrhein hatte<lb/>
Ariovist mit seinen suevischen Scharen schon überschritten. Aber er war hier<lb/>
mitten im keltischen Lande, weitab von seiner Volksgenossen Heimat, die immer<lb/>
noch nach Süden zu im Thüringer Walde, sowie in den nördlichen Rand¬<lb/>
gebirgen des noch von den keltischen Bojern bewohnten Böhmens ihre Grenze<lb/>
hatten. Die Berichte des Tacitus lassen erkennen, daß in den seit Cäsar ver¬<lb/>
flossenen anderthalb Jahrhunderten das Drängen der Germanen nach Westen<lb/>
schon begonnen hatte. Sie wurden jetzt begrenzt von Rhein, Donau und<lb/>
Weichsel. Weiter und weiter ging das Drängen, bis der Hunnensturm über<lb/>
die alte Welt dahinbrnuste und den Anstoß gab zu Umwälzungen, die ganz</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0199] Nationalitätskämpfe Bildung nicht Herr zu werden. Auch in Nordafrika und Britannien haben römische Sprache und Gesittung nur vorübergehend geherrscht. Hier wurde das aufkeimende Römertum durch das Erscheinen neuer jugendkräftiger Völker wie vom Sturme verweht. Aber auch die Lande, in denen das römische Wesen kräftige Wurzeln geschlagen und die urheimischen Volkssprachen gänzlich ver¬ drängt hatte, brachten diese neuen Völker in ihre Gewalt. Hier konnte das Römertum zwar nicht mehr wie in Nordafrika, Britannien und dem südwest¬ lichen Deutschland entwurzelt werden. Dazu waren die erobernden Volks- stümme der Zahl nach zu gering und der Kultur nach zu unentwickelt. Aber wenigstens die Einheit des Römertums konnte sich auch hier nicht behaupten: der alten Römersprache wurde der Boden mehr und mehr streitig gemacht durch die wenn auch nahe verwandten Volkssprachen; durch die Gründung neuer Reiche der Eroberer wurde der so beginnenden Zerklüftung der Sprache eine politische hinzugefügt; und der wenn auch meist schwache Beisatz des Bluts, den die Vermischung der Eroberer mit den Provinzialen bewirkte, die Aufnahme von Worten aus der Sprache der Eroberer thaten ein Übriges, die Differenzierung der von vornherein trotz der zur Alleinherrschaft gelangten römischen Sprache und Kultur nichts weniger als einheitlichen Bevölkerungen der römischen Provinzen zu wirklichen nationalen Gegensätzen zu gestalten. Diese fremden Eroberer, die auf den Trümmern des alten römischen Weltreichs neue Reiche errichteten und dadurch dem Entsteh» der neuen roma¬ nischen Reiche die Wege ebneten, waren vor allem die wandernden Stämme der Germanen. Vandalen, Ost- und Westgoten, Burgunder und Langobarden gingen so dem deutschen Leben verloren, indem sie das Blut der römischen Provinzialbevölkerung auffrischten und in ihr aufgingen. Aber so gewaltig war die Kraft des Germanentums, daß trotz dieses unermeßlichen Verlusts zahlreicher, großer und hochbegabter Stämme der in Mitteleuropa zusammen- gehaltne deutsche Kern noch jahrhundertelang alle übrigen Völker Europas in den Schatten stellen konnte. So schwer die Verluste aber auch waren, die dem Germanentum durch die Völkerwandrnng auferlegt wurden, ganz und gar verloren für uns war die deutsche Volkskraft doch nicht, die über die Grenzen des morschen Römerreichs dahingeflutet war. Im Westen und im Süden wurden doch weite Gebiete der deutschen Sprache und Gesittung gewonnen. Während die festländischen Germanen in den ältesten Zeiten nur bis an die Weser im Westen und den Thüringer Wald im Süden reichten, hatten sie sich zur Zeit Cäsars schon dem Uutcrrhein genähert. Den Oberrhein hatte Ariovist mit seinen suevischen Scharen schon überschritten. Aber er war hier mitten im keltischen Lande, weitab von seiner Volksgenossen Heimat, die immer noch nach Süden zu im Thüringer Walde, sowie in den nördlichen Rand¬ gebirgen des noch von den keltischen Bojern bewohnten Böhmens ihre Grenze hatten. Die Berichte des Tacitus lassen erkennen, daß in den seit Cäsar ver¬ flossenen anderthalb Jahrhunderten das Drängen der Germanen nach Westen schon begonnen hatte. Sie wurden jetzt begrenzt von Rhein, Donau und Weichsel. Weiter und weiter ging das Drängen, bis der Hunnensturm über die alte Welt dahinbrnuste und den Anstoß gab zu Umwälzungen, die ganz

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/199
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/199>, abgerufen am 14.05.2024.